„Wenn ich die Politik der israelischen Regierung kritisiere, wird mir häufig der Vorwurf gemacht, ich würde antisemitische Tendenzen vertreten.“ So formulierte es einer unserer Kollegen, und mehrere Kolleginnen und Kollegen hatten ähnliche Erfahrungen gemacht. Menschen, die im Einsatz für Menschenwürde und gegen Rassismus zeitlebens eine Hauptmotivation für ihr politisches Handeln sahen, trifft ein solcher Vorwurf hart. Wie gehen wir mit diesem Problem um? Wo holen wir uns neue Informationen? Unser Februar-Treffen galt diesem Thema.
Als Referenten luden wir Herrn Professor Rolf Verleger, Uni Lübeck, ein. Er ist Sohn zweier Überlebender von Auschwitz, ehemaliges Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland und Kritiker der israelischen Siedlungspolitik – also ein kompetenter Partner für unsere Debatte.
Die Antisemitismus-Debatte in Deutschland greift seiner Meinung nach zu kurz. Wichtig wäre eine Debatte über Einstellungen zu Minderheiten in unserer Gesellschaft. Beispielsweise seien negative Einstellungen zu Sinti, Roma, Muslimen erschreckend höher als zu Juden. Im Sinne einer Stärkung der Demokratie müssten Strategien entwickelt werden, die den Umgang mit Minderheiten verbessern.
Folgend ein Auszug aus dem Skript von Rolf Verleger:
„Viel ist in den Medien und in der Politik von Antisemitismus die Rede, wenig von Antiislamismus. Dieser Diskurs entspricht nicht der realen Verbreitung dieser beiden Vorurteilsmuster. Zudem entsteht Respekt für andere am ehesten dann, wenn sich alle Beteiligten ihrerseits respektiert fühlen. Der wirklichkeitsverzerrende Fokus auf Antisemitismus in der öffentlichen Debatte steht einer solchen Respektbalance entgegen und wird daher keine positiven Wirkungen haben. (…) Der Verbreitung von negativen Vorurteilen über Juden schenken Politik und Medien breite Beachtung. Der Bundestag beschloss im November 2008 und Dezember 2014 die Berufung jeweils eines Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Der dreihundert Seiten starke aktuelle Bericht des zweiten Expertenkreises vom April 2017 (1) enthält Empfehlungen, wie man dem Antisemitismus besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen könnte, unter anderem durch "ein regelmäßiges, vom Bund finanziertes Monitoring antisemitischer Einstellungen in Form einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung sowie qualitativer Studien unter Berücksichtigung besonderer Bevölkerungsgruppen" ((1), Seite 290).
Diese Empfehlung wird ausgesprochen, obwohl die Verbreitung negativer Vorurteile über Juden seit Jahrzehnten und zusätzlich nochmals in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr zu rückgegangen ist.
An dieser Stelle zeigte der Referent die Ergebnisse mehrerer Befragungen zu Vorurteilen in Deutschland und in Großbritannien:
Diese Studienergebnisse legen die Folgerung nahe, dass in den Gesellschaften Deutschlands und Großbritanniens Vorurteile über Juden nicht das wichtigste gesellschaftliche Problem im Bereich der Xenophobie sind. Vielmehr liegt sozialer Sprengstoff hauptsächlich in Vorurteilen über Muslime.
Dass trotzdem "Antisemitismus" in der öffentlichen Diskussion eine so herausragende Rolle spielt, hat unter anderem zwei Gründe: Erstens, dass Kritiker an Israels Politik im Verdacht stehen, durch Vorurteile über Juden motiviert zu sein, zweitens, dass unter Muslimen negative Vorurteile über Juden wahrscheinlich weiter verbreitet sind als in der übrigen Bevölkerung.
Wenn es denn zutrifft, dass Kritik an den Zuständen in Israel häufig aus Vorurteilen gegen Juden heraus erfolgt und/oder die Kritiker ein objektiv oder subjektiv Juden-schaden-wollendes Ziel verfolgen, dann müsste in ähnlicher Weise Kritik an der Türkei häufig aus islamophoben Motiven heraus erfolgen und/oder ein objektiv oder subjektiv Muslimen-schaden-wollendes Ziel verfolgen. Schließlich sind – wie oben berichtet – negative Vorurteile über Muslime verbreiteter als über Juden, müssten also auch eher in solche politischen Urteile hineinspielen.
In diesem Sinne enthält Tabelle 1 drei gängige Verbindungen zwischen Israelkritik und Antisemitismus, ergänzt durch parallele Verbindungen zwischen Türkeikritik und Antiislamismus: