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Aus den Akten auf die Bühne

„Wir müssen nur der Spur des Lithiums folgen!“

Ein Interview mit der Historikerin Eva Schöck-Quinteros und Regisseur Peter Lüchinger

Foto: Bastian Cifuentes.

Die neue Lesung des Projektes 'Aus den Akten auf die Bühne' beschäftigt sich mit den sozialen und politischen Kämpfen in Chile sowie historischen Verbindungen des Landes zum deutschen Imperialismus und auch zur Stadt Bremen. Historikerin Eva Schöck-Quinteros und Regisseur Peter Lüchinger erläutern im Gespräch mit dem Bildungsmagazin, vor welche Herausforderungen sie die Thematik gestellt hat, und geben didaktische Anregungen für den Unterricht.

Historischer Hintergrund:

Den Ende der Sechziger Jahre beginnenden sozialistischen Experimenten in Chile machte der Militärputsch Augusto Pinochets 1973 ein blutiges Ende. Die darauffolgende jahrzehntelange Diktatur erfreute sich der Unterstützung oder zumindest Duldung durch den Westen. Mehr noch: Für die USA wurde der Andenstaat zum Experimentierfeld für neoliberale Wirtschaftspolitik. Die sogenannten Chicago Boys, Jünger des Ökonomen Milton Friedman, durften sich als gutbezahlte 'Berater' dort austoben. Einer kleinen Schicht von Neureichen stand im Resultat eine verarmte arbeitende Klasse gegenüber, die ihren kargen Lohn u.a. für das mittlerweile privatisierte Wasser ausgeben muss. Die rücksichtslose Ausbeutung von Menschen und natürlichen Ressourcen führt zur Zerstörung ganzer Regionen, wie etwa der Atacama-Wüste, wo Lithium für Batterien abgebaut wird. Gegen diese Politik formierte sich jedoch stets Widerstand, sei es von sozialistischen Gruppen, Indigenen, Feministinnen und anderen. Unter dem unlängst gewählten sozialdemokratischen Präsidenten Gabriel Boric gelang es den sozialen Bewegungen, im Rahmen eines gewählten Verfassungskonventes den Entwurf einer neuen Verfassung zu entwickeln, die weitreichende soziale und Minderheitenrechte, konsequente Frauenquoten u.ä. beinhaltet hätte. Sie wurde der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt, fand jedoch keine Mehrheit.

Worum geht es in dem neuen Programm?

Eva Schöck-Quinteros: Wir greifen verschiedene Aspekte dieses komplexen Themas auf. Natürlich gehen wir von dem gerade durchgeführten Referendum aus. Der Versuch, sich vom Erbe Pinochets zu befreien, ist vorläufig gescheitert. Genauso wichtig wie die Auseinandersetzungen der Gegenwart sind uns die historischen Verstrickungen. Wir gehen daher auch zurück, über hundert Jahre, um vor allem dem deutschen Publikum zu vermitteln, was es bedeutet, Rohstoffproduzent für den globalen Norden zu sein. Mein Traum ist es, dass Deutsche, wenn sie vor dem Chile-Haus in Hamburg stehen, wissen, was in der Atacama Wüste mit den Arbeitenden geschehen ist und noch geschieht.

Wie ist die Lesung aufgebaut?

Peter Lüchinger: Wir sind davon ausgegangen, dass die meisten Menschen – wie es bei mir auch war - nicht allzu viel über Chile wissen. Wahrscheinlich etwas über die Herrschaft Pinochets. Und in der Zeitung haben sie wohl davon gelesen, dass es in den letzten Jahren Unruhen gab. Nicht zuletzt dank der Proteste Studierender hat eine Regierung 2019 beschlossen, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen. Diesen Zeitpunkt nehmen wir als Ausgangspunkt, um zu fragen: Was hat dieses Land bis dahin erlebt? Dabei geht es wie in vielen lateinamerikanischen Ländern um die Frage von konstitutionellen Rechten, doch die Verfassungsdebatte ist zugleich nur ein Spiegel vieler anderer gesellschaftlicher Probleme, etwa der Folgen des Kolonialismus, der wirtschaftlichen Ausbeutung durch den Weltmarkt, der prekären Lage von Indigenen und Frauen. Diese Themen werden in Blöcken angesprochen, wobei eine solche Lesung naturgemäß nicht mehr bieten kann als Schlaglichter. Ein Beispiel: Die verfassunggebende Versammlung war zu fünfzig Prozent mit Frauen besetzt. Davon kann Europa nur träumen.

Das Publikum wird also auf eine Art historische Entdeckungsreise mitgenommen?

(P.L.) Ja, dabei bin ich auch von eigenen Lernprozessen ausgegangen. Im Unterschied zu Eva, die seit Langem aus wissenschaftlichen, auch aus persönlichen Gründen an der Geschichte Chiles dran ist, wusste ich nur relativ wenig. Für mich war es erhellend, etwas über den Salpeter-Handel zu erfahren. Wer weiß heute noch viel über dieses Metall? In kolonialen Zeiten und auch danach gab es brutale Auseinandersetzungen um den Abbau. Dafür wurden zahlreiche Menschen niedergemetzelt. Ich konnte lernen, dass es eine Zusammenarbeit der deutschen Polizei mit Chile gab. All das fließt ein, wenn auch nur, angesichts der Fülle des Themas, exemplarisch. Die Pinochet-Jahre werden anhand zweier Fälle bearbeitet: Was es eigentlich bedeutet, wenn Menschen unter der Diktatur 'verschwinden' und bis 2022 noch nicht gefunden sind. Die Grundidee wäre also: Ein Mensch sitzt da und liest in der Zeitung von der Zerrissenheit dieses Landes. Um diese zu verstehen, taucht er in die Vergangenheit ein. Und am Ende kehrt er wieder in die Gegenwart zum Verfassungsprozess der letzten drei Jahre zurück.

Was könnten die Gründe für das Scheitern des Referendums sein?

(E.S-Q.) Nun, zum Einen ist dieser ganze Verfassungsprozess ja in sehr kurzer Zeit – ein Jahr ungefähr – über die Bühne gegangen. Was nicht gelungen zu sein scheint: Das im Konvent Erarbeitete immer wieder mit 'el Pueblo', der Bevölkerung, zu diskutieren und rückzukoppeln. Zwischen der Fertigstellung des Entwurfs und dem Referendum blieb wenig Zeit, um in der Öffentlichkeit zu wirken. Hinzu kommt das Problem, dass die großen Printmedien wie El Mercurio in der Hand der reichen 'Kaste' sind. Die Vermittlung der neuen Verfassungsziele, etwa sich die koloniale Vergangenheit einzugestehen und indigene Gruppen wie die Mapuche endlich zu beteiligen, ist nicht gut gelaufen. Der Konvent arbeitete teilweise zu abgehoben. Die rechten Medien wiederum bauten eine Drohkulisse auf, wonach die Verfassung den Indigenen zu viel Macht geben würde. Es wurde die Angst verbreitet, die Leute würden Geld und Wohnung verlieren. Dabei beinhaltete die neue Verfassung gerade detailliert das Recht auf Zugang zu Bildung und Gesundheit – aber das wurde nicht klar genug vermittelt. Dennoch bleibt für mich die Frage, warum in den ärmeren Gemeinden, wo die Leute weder Geld noch eigenen Wohnbesitz zu verlieren haben, oft ebenfalls mit 'Nein' gestimmt wurde.

Es sind nicht zuletzt die vielfältigen historischen Beziehungen zwischen Chile und Deutschland, die auch in der Lesung angesprochen werden. Da gäbe es vermutlich gute Anknüpfungspunkte für den Unterricht?

(P.L.) Ich würde alle in der Klasse bitten, das Mobiltelefon in die Hand zu nehmen und die Batterie herauszuziehen. Das Lithium könnte aus Chile kommen. An solchen Materialien wie Lithium, Silber oder Salpeter, an deren Geschichte könnte man auf Spurensuche gehen, einen Bogen vom Imperialismus der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart spannen.

(E.S-Q.) Interessant und gar nicht so bekannt ist der enorme Einfluss, den Deutschstämmige innerhalb der chilenischen Rechten entfaltet haben. Juan Antonio Kast ist so ein Fall, ein neofaschistischer Politiker, der es bis zum Präsidentschaftskandidaten gebracht hat. Als Sohn eines eingewanderten Wehrmachtsoffiziers steht er für diese Kontinuität. Wer weitere Anregungen möchte, sollte die Lesung besuchen und sich das zugehörige Buch besorgen!

Wir danken für das Gespräch.