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Zeitlupe

„Letztlich kann ich den Wahlboykott verstehen“

Ein Gespräch mit Eva Schöck-Quinteros zur aktuellen Lage in Chile und ihrem neuen Projekt

Foto: privat

Mit der Geschichte Chiles hat sich das preisgekrönte Bremer Projekt „Aus den Akten auf die Bühne“ bereits im Rahmen einer Lesung beschäftigt. Zum fünfzigsten Jahrestag des Putsches vom 11. September 1973 arbeitet Historikerin Eva Schöck-Quinteros an einer weiteren Lesung, die sich kritisch mit Pinochets Diktatur, dem Terror gegen Oppositionelle, den Folgen für das Land und dem Verhalten von Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik auseinandersetzt. Die Uraufführung ist für den bitteren Jahrestag selbst geplant. Über die Konzeption der Aufführung und die aktuelle Lage in Chile nach dem Wahlsieg der rechten Parteien im zweiten Referendum sprachen wir mit ihr.

Warst du überrascht vom Ausgang des zweiten Referendums?

Du spielst darauf an, dass die Ultrarechten um José Antonio Kast mit 35 Prozent die meisten Stimmen im neuen Verfassungskonvent bekommen haben und mit anderen Konservativen die Ausarbeitung der neuen Verfassung steuern können? Nein, eigentlich nicht besonders. Das verheißt nichts Gutes, schon ist u.a. von einem Verbot der Abtreibung die Rede. Zwar waren einige Parteien der Linken zum Referendum angetreten. Aber ein Bündnis von progressiven Kräften, darunter Menschenrechtsgruppen, Opferverbände und soziale Bewegungen, hatte dazu aufgerufen, den Wahlzettel mit dem Wort „anuló“ zu versehen oder gar nicht erst hinzugehen und so das Referendum zu boykottieren. Mindestens zweieinhalb Millionen Menschen scheinen der Kampagne gefolgt zu sein.

War das klug so?

Natürlich lässt sich darüber diskutieren, aber letztlich kann ich den Wahlboykott verstehen. Die Kritik des Anuló-Bündnisses lautet, dass im Herbst 2019, durch ein vom damaligen konservativen Präsidenten Sebastian Pinera eingefädeltes Abkommen, dem Verfassungsprozess unerträgliche Beschränkungen auferlegt worden waren. So sollten internationale Verträge kein Thema in dem Verfassungskonvent werden. Damit waren v.a.  Freihandelsabkommen mit der EU gemeint. Nur drei Monate nach der Ablehnung des ersten Verfassungsentwurfs vom 4. September 2022 wurde von den Präsidenten der Abgeordnetenkammer und des Senats im Dezember 2022 ein weiteres „Abkommen für Chile“ vorgestellt. Es enthält zwölf verfassungsrechtliche Grundprinzipien, und auf dieser Basis sollte ein neuer Verfassungsprozess beginnen.

Ende Januar 2023 wurde vom Parlament eine sogenannte Expert:innenkommission eingesetzt, in der u.a. Leute wie Hernán Larraín arbeiten, die als Pinochet-Befürworter bekannt sind und Beziehungen zur Colonia Dignidad aufweisen. Im Hinterzimmer wurden Absprachen getroffen, durch welche die souveräne Entscheidungsgewalt des gewählten Verfassungsrates von vornherein beschränkt war.

Der bekannte chilenische Architekt Miguel Lawner, der sich unter Allende im Rahmen der Unidad Popular für sozialen Wohnungsbau engagierte und nach dem Putsch mit anderen führenden Persönlichkeiten in das Konzentrationslager auf der Insel Isla Dawson verschleppt wurde, hat dafür den Begriff „Abkommen der Infamie“ geprägt. Das Anuló-Bündnis argumentiert nun, durch Teilnahme an der Wahl hätte man diesem manipulierten Verfassungsprozess eine falsche Legitimität verschafft. Eine wirklich freie und souveräne verfassunggebende Versammlung komme nur durch den Druck sozialer Bewegungen „von unten“ zustande. Es muss wieder Bewegung auf die Straße.

Lässt sich die Verfassung nach dem Geschmack von José Antonio Kast noch verhindern?

Wenn die Kommission nach fünf Monaten einen Entwurf verabschiedet, muss er dem Volk im Dezember 2023 zur Abstimmung vorgelegt werden. Dann besteht noch eine Chance, ihn zu verhindern.

Wie schätzt du die Rolle des sozialdemokratischen Präsidenten Boric ein, auf dem zu Anfang viele Hoffnungen ruhten?

Viele sind enttäuscht von den nicht eingelösten Versprechen. Dazu gehört etwa die Reform des Polizeiapparates, der Carabineros. Unverhältnismäßige, brutale Gewalt gegen soziale Proteste, zum Beispiel gegen protestierende Schüler:innen, ist nach wie vor an der Tagesordnung. Stattdessen wurde das Ley „Gatillo facil“ (lockerer Abzug) verabschiedet, das die Straffreiheit bei Nutzung von Dienstwaffen erheblich ausweitet und kurz nach Inkrafttreten bereits zugunsten von Carabineros angewandt wurde, die wegen Gewalt im Dienst verurteilt worden waren.

Die Einführung der 40-Stunden-Woche hat er zwar erreicht, was nach lateinamerikanischen Standards durchaus fortschrittlich ist. Aber das entsprechende Gesetz sieht zugleich eine Flexibilisierung der Arbeit vor, sodass ausgerechnet Unternehmensverbände erfreut waren und Gewerkschaften wütend – und das in einem der ungleichsten Länder der Welt. Unstrittig ist sein Vorhaben, zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur staatlicherseits nach den 1200 verschwundenen Opfern von Pinochets Terror suchen zu lassen, im Zuge des „Plan Nacional de Búsqueda“. Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob es am Willen mangelt oder am Widerstand der Konservativen. In jedem Fall könnte auch Boric vom Rückenwind durch soziale Kämpfe profitieren, wenn er denn willig ist – oder seinen Rücktritt erklären.

Berichte uns doch von der Lesung zum Jahrestag des Militärputsches. Was sind die Schwerpunkte?

Zum einen gilt es an das zu erinnern, was die Unidad Popular initiiert hat, zumal das heutzutage in Vergessenheit zu geraten droht. Wofür steht sie inhaltlich? Was hat sie in der kurzen Zeit, die ihr blieb, umsetzen können? Denken wir an die Verstaatlichung des Kupfers, die Rationen von Brot und einem halben Liter Milch, den jedes Kind bekommen hat. Ende März 1972 startete eine Impfkampagne gegen Kinderlähmung. In drei Tagen wurden über eine Million Kinder geimpft. Lohnend ist auch, die Reden Allendes wieder zu lesen, der übrigens in den Monaten vor dem Militärputsch schon ahnt, dass sich etwas zusammenbraut und vergeblich davor warnt. Seine Rede vor der UN im Dezember 1972 ist ein beeindruckendes, grandioses Dokument.

Wir werten ebenfalls die Berichterstattung der westdeutschen Medien aus, die auch nach fünfzig Jahren schockierend ist. Ein denkwürdiges Beispiel ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Tenor in der Berichterstattung vieler einflussreicher Zeitungen unmittelbar nach dem Putsch lautet: Gut, dass wir diesen gefährlichen „Kommunisten“ Allende los sind. Von den Zitaten aus der westdeutschen Öffentlichkeit, auch über die Diktatur und die Repression gegen Oppositionelle, erhoffe ich mir eine spürbare Wirkung auf das Publikum. Darüber hinaus recherchieren wir in Archiven zu den Berichten aus der deutschen Botschaft in Chile während der Diktatur. Das wird sicherlich interessante Quellentexte bringen. Und schließlich wurden Interviews in Chile mit Menschen auf der Straße gemacht. Wie erinnern sie sich an Allende, an Pinochet? Den Auftrag hatte ein junger Journalist, Malte Seiwerth, der seit Jahren in Chile lebt. Eine sehr wichtige Quelle sind die Veröffentlichungen des französischen Historikers Franck Gaudichaud. Für seine Dissertation hat er mit Zeitzeug:innen Interviews geführt. Seine Bücher sollten dringend übersetzt werden, sie sind auch ein ausgezeichnetes Beispiel für oral history.

Wie steht es um die Wirtschaftsbeziehungen?

Die taz hat 1987 einen Artikel unter dem Titel „Geschäfte mit der Junta“ veröffentlicht. Den kann ich empfehlen. Die Bundesrepublik war nach den USA das  zweitwichtigste Käuferland in den Jahren der Diktatur.

Das klingt interessant und vielschichtig. Es ist sicher eine Herausforderung, all diese Aspekte in einer Lesung unterzubringen.

Eine Lesung von zwei Stunden beruht auf ungefähr 45 Seiten – in dem Rahmen müssen wir uns bewegen. Ich bin jetzt schon gespannt, wie Peter Lüchinger das Material, was er von mir und meiner Arbeitsgruppe bekommt, in eine bühnentaugliche Form bringt. Die Notwendigkeit der Beschränkung, seine Auswahl, sein Blick aus einer ganz anderen Distanz führen am Ende immer zu fruchtbaren Diskussionen. Von der Konfrontation der verschiedenen Quellenarten erhoffe ich mir jedenfalls Spannung und lehrreiche Kontraste.

Wir danken für das Gespräch.

„Chile - auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?" 
Lesung der bremer shakespeare company.
Aktualisierte Fassung
Theater am Leibnizplatz
25. Mai u. 21.Juni - Beginn 19.30 Uhr
www.shakespeare-company.com