11. September 1973 – Militärputsch in Chile
Ein Augenzeuge berichtet, Teil II
Interview mit Ulli Simon: Sozialist, Friedenskämpfer, Musiker und Lehrer an der Gesamtschule West
Nachdem dein Vater freikam, wie ging es weiter?
Man hatte ihn gefoltert, es ging ihm nicht gut. Ein paar Tage später kam der Seemannspastor Posselt zu uns. „Ja, ihr müsst jetzt los. Hier weg. Bevor die Schergen Pinochets noch einmal kommen, weg hier. Nehmt alles mit, was ihr braucht, es geht nach Deutschland.“ Ich habe dann zusammengesucht die Uni-Bescheinigung, ein paar Platten, zwei Instrumente, Flöten, alles in eine Tasche. Wir waren das Reisen nicht gewöhnt, nie verreist. Wir haben die Strände in Chile und die Anden, sie sind 40 Kilometer entfernt. Wir hatten keinen Koffer. Und dann Abschied, Tschüss. Eckard und Kalli, meine Brüder, sollten mit, wir waren also zu viert. Vom Putsch bis zur Flucht waren es ungefähr drei Monate.
Was war mit dem Rest der Familie? Blieb der in Valparaiso?
Wir wussten nicht, wann wir die Mutter und Brüder wiedersehen würden. Die blieben zu Hause. Wir hatten auch kein Telefon. Wir flohen ins Seemannsheim. Bischof Frenz hatte sich in seinen Ornat geschmissen, er hatte ein großes Kreuz um den Hals. “Ich muss diese Show machen, darauf fallen die dummen Uniformierten herein“, sagte er. Wir sollten nicht mehr reden, er wollte uns als seine Gemeindemitglieder bezeichnen. Wir fuhren in einem Kleinbus nach Santiago de Chile. Es gab überall Militärposten, die kontrollierten schwerbewaffnet.
Der Bischof hatte einen Plan?
Der Bischof hatte mehrere Häuser, um Flüchtende vorübergehend unterzubringen. Er hatte einen Plan gemacht, er hatte sogar mit Pinochet mal über meinen Vater geredet, Pinochet hat alles runtergespielt. Es gab eine Art Stadtplan, er fuhr uns an eine Straßenecke, wir mussten dort aussteigen. Und an einer weiteren Ecke gab es die Residenz des deutschen Botschafters, das war das Ziel. Eine Mauertür, die Punkt 12 Uhr geöffnet wird. Meine Brüder und ich mussten meinen Vater stützen. Auch das wäre fast noch schiefgegangen, weil uns ein Pärchen überholte, welches auch dahin wollte. Das Haus wurde natürlich vom Militär beobachtet. Und auch Nachbarn riefen, dass Leute wie wir und andere dort liefen. Soldaten kamen uns entgegen. Irgendwie haben wir es geschafft, dass die Tür aufging. Es war sehr knapp. Aber wir waren gerettet.
Und ihr wart nicht die einzigen Verfolgten.
Nein. Ich dachte, wir wären vier Leute, aber es gab dort ca. 100 Personen, die sich irgendwie verteilten, auf Fußböden, im Garten, überall schliefen Menschen. Es schien uns so, dass der Botschafter, Lüder Neurath, Erfahrung mit solchen Situationen hatte, er blieb relativ cool. Die Leute waren aus ganz Chile, auch aus allen Schichten, alte und junge. Die einzigen Deutschen waren wir. Ein alter Mann starb auch.
Wie lange musstet ihr dann warten, bis es weiter ging?
Das hing von den Flügen ab. Es kam auch noch der deutsche Verfassungsschutz, um uns zu überprüfen. Mein Vater hatte die deutsche Staatsbürgerschaft. Das bot einen gewissen Schutz, weil es schlecht ausgesehen hätte, wenn ihm mehr als bisher passiert wäre, er z. B. gestorben wäre. Deshalb musste die Botschaft handeln. Kanzler in Deutschland war damals Willy Brandt. Wir waren dann im ersten Flieger, über Bolivien, USA, Frankfurt am Main.
Und Bremen hat euch dann aufgenommen?
Weil mein Vater in der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger war, kamen wir in ein Seemannsheim in der Faulenstraße. Wir sollten nach Schleswig-Holstein, um von Psychologen usw. betreut zu werden. Mein Vater sollte dort behandelt werden. Dazu ist es, warum weiß ich nicht, nie gekommen. Und weil wir die ersten Flüchtlinge aus Chile waren, kamen viele Reporter zu uns, Radio Bremen und andere. Alle wollten mit unserem Vater reden, aber er konnte nicht. Wir brauchten eigentlich Hilfe und Ruhe. In Mülheim in einer Schule für Seemannspastoren hat man dann für uns Geld gesammelt. Die haben uns abgeholt, und wir haben ein trauriges Weihnachten 1973 dort verbracht.
Wann konnten denn deine Familienmitglieder nachkommen?
Etwa drei Monate später gab es eine Familienzusammenführung. Ein paar Jahre war ich dort. Schon Anfang 1974 trafen sich die Solidaritätsgruppen in Oberhausen, nicht nur aus NRW, um Unterstützung zu organisieren. Es waren drei Menschen aus Chile da, deutschstämmig, schwer gefoltert, die den Kontakt behalten haben. Diese Drei haben sich sehr gefreut, als Pinochet in London verhaftet wurde. Ein deutscher Rechtsanwalt, der durch mein Buch Kontakt mit uns aufnahm, hat dann mit diesen drei Gefolterten, eben auch mein Vater, Anklage gegen Pinochet erhoben, auch im Namen der Bundesregierung.
So schlagen auch zwei Herzen in deiner Brust - chilenisch und deutsch?
Ja, ich habe durch das Buch und die Fragen an meinen Vater auch viel über die deutsche Seite meiner Familie erfahren. Ich war stolzer Chilene, aber ein Onkel von mir war z. B. Admiral auf der Bismarck im Zweiten Weltkrieg. Interessant war, dass die meisten Deutschen in Chile ja eher rechts orientiert waren. Wir nicht, mein Vater war Humanist, wir unterstützten Minderheiten und indigene Gruppen, waren eben links. Nicht die typischen Deutschen, die z. B. auch in der deutschen Schule waren. Teilweise eben auch Nazis.
Was hast du dann in Bremen gemacht?
Ich wollte in Düsseldorf in Richtung Sportmedizin gehen, habe ein Praktikum gemacht, dann studiert. Das war alles zu viel für mich, auch sprachlich. Dann stand Sozialpädagoge auf dem Plan. Ich habe aber immer Musik gemacht, bin durch Deutschland gezogen. Man hat mich dann zum Sportlehrerstudium gedrängt. Zweitfach war dann Englisch. Oft war ich in Düsseldorf, wo meine Familie dann war. In Düsseldorf waren wir auch Anlaufstelle für Geflüchtete und hatten guten Kontakt zu Amnesty International. Ich habe drei Langspielplatten aufgenommen. Wir machten eine Tournee, die auch Bremen einschloss. Die Gruppe hieß die Andelejos, die Umherziehenden aus Valparaiso. Bremen gefiel mir. Da lernte ich auch meine Frau kennen. Ich zog von Düsseldorf nach Bremen. So fing das richtig an in Bremen. Mein Sportstudium habe ich in Bremen beendet und Musik dazu genommen. Schule ist inzwischen beendet, aber die Musik mache ich weiterhin.
Vielen Dank für das Interview!
Wir möchten jetzt schon auf Solidaritätsveranstaltungen hinweisen:
Sonntag, 10. September 2023: Konzert in der Kulturkirche St.Stephani und
Montag, 11. September:2023: Szenische Lesung in und mit der Bremer Shakespeare Company.
11. September 1973 – Militärputsch in Chile Ein Augenzeuge berichtet Teil I
Wie war für dich und allgemein die Situation nach der Wahl 1973?
Unsere Familie lebte in Valparaiso, dem Haupthafen Chiles. Nach Allendes Wahl kam eine schöne Zeit, voller Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen für die Bevölkerung. Die Kultur blühte: Musik, Kunst, Literatur, Bildhauerei, es gab viel Bewegung. Gäste von überall, zum Beispiel Peter, Paul & Marie, Angela Davis, Kosmonauten aus der UdSSR. Ich war im Asta der Uni und machte Musik und studierte Sport. Es gab viel zu tun. Häuser wurden bemalt. Zeit des Aufbruchs. Allende und die Unidad Popular verloren nichts von der Popularität, im Gegenteil, die Zustimmung wuchs weiter. Nicht so wie die Rechten es interpretierten, dass Chaos herrschte und dagegen etwas getan werden musste.
Was änderte sich?
Es wurde klar, dass Gelder nach Chile flossen, aus den USA, aber auch aus Europa, um diese positive Entwicklung zu verhindern. Mein Vater war LKW-Fahrer und transportierte Gasflaschen. Es gab Attentate und Sabotageakte, und viele Fahrer trauten sich nicht mehr zu fahren, es war auch noch nicht klar, wer dafür verantwortlich war. LKW wurden beschossen. Unternehmer bekamen Geld, damit nicht gefahren wurde, die Fahrer wurden bezahlt. Das bedeutete aber, dass Waren fehlten, Bäcker nicht mit Mehl beliefert wurden. Die Bevölkerung hatte natürlich ein Problem. Die Fahrer haben nicht gestreikt, sie hatten quasi Zwangsurlaub. Aber einige sind trotzdem weitergefahren wie mein Vater, er wurde dann als Streikbrecher bezeichnet.
Wer waren die Parteien der Unidad?
Sozialisten, so wie ich, KP, linke Christen, Mapu (CDU), Außerparlamentarische MIR (Bewegung Linker Revolutionäre). Es gab auch viele, die sich gegen diese Sabotagen und Attentate verteidigen wollten. Es wurde diskutiert. Es gab in ganz Chile Anschläge, auch bei der Bahn oder bei Stromleitungen. Heute ist klar, dass Gelder in die Armee, Polizei, Justiz gingen, um Stimmung gegen Allende zu machen.
Wie war das in eurer Familie in dieser Situation?
Wir waren sehr engagiert und haben das zuhause diskutiert, mein Vater war Gewerkschaftsführer im Gaslager. Wir haben uns organisiert, um aufzupassen bei bestimmten Gebäuden, wir haben Lebensmittellieferungen versucht zu bewachen. Die Lager wollten wir schützen. Ein Gasometer wurde auch beschossen, da haben wir nachts aufgepasst. Organisiert wurde das von Gewerkschaften oder Parteien. Auch in der Uni war ich oft, wir wollten das tun. Die Angst war nicht so präsent, irgendwie haben wir nicht erwartet, dass es so schlimm kommt.
Ihr habt gehofft?
Das ging vielen so. Wir hatten auf Verhandlungen gehofft und auf Rückgang der Sabotage-Aktionen. Denn Allende hatte ja eine Volksabstimmung vorgehabt, um darüber abstimmen zu lassen, ob der Weg weitergegangen werden sollte oder nicht. Dazu ist es nicht gekommen. Allende hat ja sogar Pinochet als Armeeführer bestätigt. Es gab auch Teile der Marine, die Allende unterstützt haben. Es gab aber kaum Informationen. Die ersten Seeleute saßen schon im Knast, da haben wir Musik gemacht und dann versucht, Informationen von denen zu bekommen. Sie waren die ersten politischen Gefangenen. Und die baten uns um Kontaktaufnahme zu ihren Familien.
Wie habt ihr vom Putsch erfahren?
Aus dem Radio. Ich habe auch die berühmte Rede von Allende gehört. Der Palast wurde beschossen. Der Putsch wurde in Valparaiso begonnen. Das Amphitheater wurde beschossen, das Vereinshaus des Fußballvereins, das Lehrerinstitut für Sport, das Biologieinstitut. Angst sollte sich verbreiten. Hubschrauber, Flugzeuge machten Lärm. Es war Ausgangssperre. Wir gingen trotzdem heimlich raus. Wir wollten die Regierung verteidigen und haben uns organisiert. Wie wollen wir uns verhalten? Wollen wir kämpfen oder etwas sprengen? Ich selbst wollte keine bewaffneten Konflikte, ich bin Pazifist. Und es war richtig von Allende zu sagen, bleibt zuhause, die andere Seite hat die Waffen und die Macht. Sonst hätte es noch mehr Tote gegeben und ein Massaker. Er hätte auch anders reden können. Gegen die Armee wollten wir nicht kämpfen.
Seid ihr von Verhaftungen und Folter betroffen gewesen?
In der Firma meines Vaters waren Soldaten, er sollte seinen Laster abgeben. Er wurde misshandelt, musste an der Wand stehen. Er war bekannt als Gewerkschafter, unsere Familie wohl auch. Er kam verstört nach Hause. Er hatte auch Angst um mich. Man war relativ isoliert, die Kreise wurden kleiner. Sie haben auch unser Haus gestürmt, und ich hatte den Gewehrkolben auf der Brust. Wir mussten uns aufstellen. Es gab eine Hausdurchsuchung nach Waffen. Sie wollten uns Angst einjagen. Sie ließen uns zuhause und haben meinen Vater mitgenommen. Er war in verschiedenen Folterzentren, am Schluss auf einem Konzentrationslagerschiff, es gab drei im Hafen. Wir hatten dadurch auch finanzielle Probleme zuhause. Es kamen aber manchmal Freunde, die etwas zu essen vorbeibrachten. Companeros, auch aus der Partei. Die suchte man später dann steckbrieflich. Mich auch per Aushang und Foto an der Uni. Ein Freund berichtete von meinem Vater, dem es sehr schlecht ging auf dem Schiff Lebu. Ich habe dann versucht, Leute zu finden, die ihm helfen konnten. Mein Vater war ja ein bekannter Mann. Dann fiel mir der Seemannspastor Posselt ein. Der rief den Bischof an, der hieß Helmut Frenz. Er hat wohl mit Willy Brandt telefoniert, und dann gab es wohl die Anweisung, die deutsche Botschaft in Chile für Flüchtlinge zu öffnen. Deutschland war sehr spät damit. Drei Tage später kam der Bischof nach Valparaiso und hat den Konsul Hartlieb kontaktiert. Den hatte ich vorher schon besucht, und er tat immer, als kannte er meinen Vater nicht. Die Drei gingen auf das Schiff, und er kam frei.
(Teil II: Die Flucht nach Deutschland und Bremen, im nächsten Bildungsmagazin.)
Buchtipp:
Gut nachzulesen in aller Ausführlichkeit im Buch von Ulli Simon, Septembertage, ISBN 3-926529-90-3, schon 1998 erschienen, mit Musik-CD.