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Bildung und Gesellschaft

Die Verleugnung der Geschichte

Deborah Lipstadts Kampf gegen rechten und postmodernen Relativismus

Deborah Lipstadt | Illustration: Martin Krämer

Vor fast fünfundzwanzig Jahren gewann Deborah Lipstadt in London einen Aufsehen erregenden Prozess gegen den Geschichtsrevisionisten David Irving. Dessen Verleumdungsklage gegen sie war damit in allen Punkten abgeschmettert. Die amerikanische Historikerin hatte ihm in ihrem 1993 erschienenen Werk „Denying the Holocaust“ die Leugnung des Massenmords vorgeworfen und darf dies weiterhin tun. Aus Sicht einer Gegenwart, in der Verschwörungstheorien blühen, manche diese ohnehin für unwiderlegbar halten oder die dafür Anfälligen als unerreichbar betrachten, könnte Lipstadts Motivation im ersten Moment naiv erscheinen. Sollte man reaktionäre Scharlatane dieser Art nicht einfach ignorieren, da sie durch Versuche ernsthafter Befassung ja geradezu aufgewertet würden? Wer so argumentiert, verkennt die besondere Karriere, die Irving durchlaufen hatte, ehe der Prozess ihr das verdiente Ende bereitete.

Der Aufstieg des Herrn Irving

Trotzdem er sein Studium der Geschichte hatte abbrechen müssen, machte sich der junge Mann in den Sechzigerjahren als populärwissenschaftlicher Publizist einen Namen. Aufmerksamkeit spendete ihm die westdeutsche Öffentlichkeit aufgrund von Artikeln in mehr oder weniger seriösen Gazetten, in denen er die britischen Bombenangriffe auf Dresden als Kriegsverbrechen geißelte - das war offenbar Balsam für die deutsche Volksseele, zumal es aus dem Munde eines Briten kam, der von Anfang an Wert auf eine Fassade der Gelehrsamkeit legte. Stets wühlte er in Archiven, wartete mit angeblich neuen Quellenfunden auf, die sich im Nachhinein zumeist als fingiert oder in der Interpretation verzerrt erwiesen. Doch während Fachgelehrte sein jeweils letztes Konstrukt noch demontierten, warf er - in einer ewigen Hase-und-Igel-Strategie - schon das nächste auf den Markt. So schmähte er die Nürnberger Prozesse als Siegerjustiz, glorifizierte „anständig gebliebene“ Wehrmachtsgeneräle wie Rommel, bestritt die Authentizität des Tagebuchs von Anne Frank, und der rote Faden, der all die einzelnen Themen miteinander verflocht, war die hartnäckige Relativierung des nationalsozialistischen Grauens. Reichliche Nachfrage nach solchem Material sog dieses in Medien des Mainstreams hinein. Über die inhaltlichen und methodischen Mängel der jeweiligen „Sensationsfunde“ wurde hinweggesehen. Irving verschaffte dies die bequeme Rolle eines geduldeten Grenzgängers zwischen rechtsradikaler Szene und bürgerlicher Öffentlichkeit.

Ein brauchbarer Provokateur

Man hielt ihn sich gewissermaßen als politisches Enfant terrible. Er trat gerade noch (pseudo)wissenschaftlich genug auf, um hier und da abgedruckt werden zu können, wenngleich seine Relativierung des Holocaust nunmehr schriller zutage trat und offen absurde Züge annahm. Im Laufe der Siebzigerjahre wollte er herausgefunden haben, dass Hitler von Auschwitz nichts gewusst und es sich beim Genozid sowieso eher um eine Verkettung ungünstiger Umstände gehandelt habe. Dennoch fanden seine Bücher ihren Weg zum Ullstein-Verlag, Vorabdrucke in Magazine wie den Spiegel. Bot man dem Provokateur eine Bühne, belebte das den Absatz. Dieses für beide Seiten komfortable Arrangement fiel mit Deborah Lipstadts gewonnenem Prozess in sich zusammen. Selbst der zuständige britische Lordrichter, dessen Berufsstand sonst eher für Understatement bekannt ist, nannte Irving im Urteil einen Rassisten und Antisemiten. Damit sank sein Stern, in vielen Ländern hat er mittlerweile Einreiseverbot, und wohlgelitten ist er nur noch in seinen Kreisen, wo er sich als Märtyrer feiern lässt. Dank des mittlerweile eingeführten Straftatbestandes der Auschwitzlüge durfte er ein österreichisches Gefängnis für einige Monate von innen erleben.

Der Prozess

War es Lipstadt in ihrem Werk nicht darum gegangen, das offensichtlich Gefälschte und Propagandistische in „revisionistischer“ Literatur penibel zu widerlegen, sondern eher den „Modus Operandi“ der Holocaustleugnung zu analysieren, so zwang Irvings Klage sie dazu, dessen Schriften gründlich zu zerpflücken. Denn wird im angelsächsischen Recht juristisch der Vorwurf der Verleumdung erhoben, liegt die Beweispflicht bei den Verklagten. Zielstrebig stellte sie ein Team von Forschenden zusammen, darunter bekannte Namen wie Christopher Browning und Peter Longerich. Der in Cambridge lehrende Historiker Richard Evans steuerte ein mittlerweile fast legendär gewordenes Gutachten zu Irvings manipulativem Umgang mit Quellen bei, das sich auf 700 Seiten belief.

Nur ein Symptom

Von vornherein erkannte Lipstadt in ihrem Widersacher nur ein Symptom größerer Übel. Im Laufe der Achtzigerjahre waren, ihrer Beobachtung nach, Zweifel an der Faktizität des Genozids zunehmend salonfähig geworden. Neofaschist Robert Faurisson trieb sein Unwesen in Frankreich und versuchte, Berührungspunkte mit einer israelfeindlichen Linken zu finden, indem er die „Erfindung“ der Shoa als zionistischen Schachzug verkaufte. Immerhin schrieb kein Geringerer als der Linguist und notorische Kritiker amerikanischer Außenpolitik, Noam Chomsky, das Vorwort zu einem von Faurissons Machwerken. Länder wie Saudi-Arabien und der Iran nahmen solche Ideen begeistert auf und finanzierten mit Petrodollars Ausgaben in den Sprachen des Nahen Ostens. Das Einsickern der Geschichtslügen in die Populärkultur war ebenso in den USA spürbar: Rechtsgerichtete Hollywood-Größen lancierten in Interviews süffisante Andeutungen, so raunte etwa Robert Mitchum davon, der Massenmord im Dritten Reich sei etwas, was „die Juden sagen“ („according to the Jews“). Endgültig schockiert war Lipstadt, als Fernsehsender Diskussionen zwischen ihr und Irving initiieren wollten und ihre brüsk ablehnende Reaktion darauf mit der treuherzigen Bemerkung quittierten, es wäre doch schön, wenn verschiedene Perspektiven aufeinander träfen.

Der postmoderne Angriff auf historische Aufklärung

„Es ist wichtig zu verstehen“, schreibt die Historikerin, „dass die Leugner nicht im Vakuum arbeiten“. In den vergangenen Jahrzehnten seien die methodischen Standards in den Geisteswissenschaften längst durch jene philosophischen Strömungen aufgeweicht worden, die unter dem Begriff Postmoderne reüssierten. Keine prominente Stimme aus dieser Richtung würde sich selbst bei den Verleugnenden einreihen, im Gegenteil, persönlich ordneten sich Barthes, Lyotard, Foucault und andere der Linken zu. Doch durch die von ihnen propagierte totale Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Objektivität bereiteten sie den Boden für Irrationalismen verschiedenster Art, und damit eben auch für solche von rechts. Seit 1968 hatte etwa Roland Barthes, im Zuge sprachphilosophischer Höhenflüge, der Geschichtsforschung jeglichen Anspruch auf Erkenntnis abgesprochen. Objektivität sei eine „referentielle Illusion“, jede historische Darstellung nur eine Einschreibung in die Vergangenheit, Realität lediglich ein täuschender „Effekt“, der dadurch hervorgebracht werde.

Die Welt als Text

Auf Jaques Derrida geht die Vorstellung zurück, dass, da alle Erfahrung durch sprachliche Zeichen vermittelt sei, der Mensch nicht mehr tun könne, als Texte über Texte zu produzieren. Der Zugriff auf die vom Zeichen repräsentierte Realität sei grundsätzlich abgeschnitten, die Welt somit unerkennbar und alle Lesarten im Grunde gleichberechtigt. Geschichtliche Erfahrung kategorial zu ordnen, soufflierte später Francois Lyotard, würde zum Wuchern jener berüchtigten großen Narrative führen, die letztlich nur der Machtausübung dienten. All diese vernunftkritischen Vorstöße leisteten, fand Lipstadt, ungewollt jenen Kräften Vorschub, die in einer solchen Atmosphäre des verabsolutierten Skeptizismus ihre revisionistische Agenda leichter verfolgen können. Es dämmerte ihr, dass sich in der Auseinandersetzung eine zweite Front auftat. Richard Evans schloss sich an und legte mit seinem Text „In Defense of History“ (1997) eine schonungslose Kritik der postmodernen Ideen über Historie und Historiographie vor. Er müsste zur Standardlektüre von Studierenden und Lehrenden gehören.

Geschichtswissenschaft als Erzählung

Zu denen, die von Evans aufs Korn genommen werden, gehört Hayden White. Der zuletzt in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler profilierte sich, indem er die postmoderne Kritik Lyotards am Postulat historischer Objektivität noch auf die Spitze trieb. Bekanntheit verschaffte ihm die These, wer Quellen interpretiere, komme nicht umhin, die darin liegende Masse an einzelnen Daten in eine sprachliche Form zu bringen, womit sich unvermeidlich eine narrative, also erzählende Struktur bilde. Für jenen personalisierenden Plot, der dem historischen Material einbeschrieben werden müsse, hat White den Begriff Emplotment aufgebracht. Damit falle jedoch die Grenze zwischen literarischer Fiktion und historischer Interpretation in sich zusammen: Zwischen, sagen wir, Charles Dickens, der von Kinderarbeit im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählt, und Eric J. Hobsbawm, der anhand von Statistiken, Dokumenten und sorgfältig ausgewählten Zeugenaussagen darüber berichtet, kann kein substantieller Unterschied mehr bestehen. Konsequenterweise warnt White davor, die „Privilegierung“ der Primär- gegenüber den Sekundärquellen, eine Säule der Wissenschaftlichkeit des Fachs, allzu ernst zu nehmen. Sie würde von traditioneller Forschung ‚fetischisiert‘, und es sei an der Zeit, dies zu überwinden. Da literarische Narrative stark durch die antike Tradition geprägt seien, tendierten auch historiographische Texte dazu, ihre Thematik entweder als Tragödie oder als Komödie in Szene zu setzen.

Die Verteidigung der Geschichte

Für Lipstadt und Evans sind die beiden Relativismen, der neofaschistische, der auf das Dritte Reich, und jener postmoderne, welcher auf die Möglichkeit historischer Aufklärung gerichtet ist, miteinander verknüpft. „Tatsächlich gibt es“, schreibt Evans, „eine Masse an sorgfältig erstellter empirischer Literatur über die nationalsozialistische Judenvernichtung. Es ist ganz einfach unzutreffend, diese als fiktional, als nicht auf Realität beruhend oder als ebenso weit entfernt von der historischen Wirklichkeit liegend anzusehen wie etwa die Schriften der Revisionisten, die leugnen, dass es Auschwitz überhaupt gegeben hat. Dies ist ein historischer Gegenstand, bei dem es wirklich auf Belege ankommt, aus denen sich die historischen Fakten ermitteln lassen. Auschwitz war kein Diskurs. Massenmord als Text anzusehen, bedeutet ihn zu verharmlosen. Die Gaskammern waren keine rhetorische Figur.“ Und in Anspielung auf White fügt er hinzu:„Auschwitz lässt sich weder als Komödie noch als Posse ansehen.“

Postmoderne Selbstkritik

Die Einwände von Lipstadt, Evans und anderen zeigten Wirkung. Anlässlich eines Kongresses über die historische Repräsentation des Holocaust musste White 1992 zugeben, der nazistische Genozid sei nichts, was erst im Kopf des Forschenden durch Emplotment konstruiert worden sei. „Mit dieser Konzession“, kommentiert Evans, „erkannte er freilich explizit an, dass die vergangene Wirklichkeit bei der Gestaltung ihrer Darstellung durch die Historiker Vorrang besitzt, was bedeutet, dass er seinen zentralen theoretischen Grundsatz“ - von der Gleichgeltung literarischen und historiographischen Schreibens - „aufgab“. Schließlich müsse, was für die Thematik der NS-Massenvernichtung gelte, auf andere Gegenstände übertragbar sein. Wohlgemerkt, nicht die Beobachtung sei zu verwerfen, dass historische Werke sich tatsächlich implizit erzählerischer Strukturelemente bedient hatten. White konnte dies exemplarisch an der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zeigen, etwa am Fall Leopold von Rankes. Revisionsbedürftig war freilich die postmoderne Schlussfolgerung, jegliche Form historischer Interpretation sei zur Fiktion verdammt. Wird aus Geschehenem eine Story zusammengebastelt, entlarvt sich solches „Enplotment“ einem Quellen- und ideologiekritischen Blick. Die übermäßige und insbesondere verfälschende Literarisierung historischer Wirklichkeit ist kein Merkmal jeglicher, sondern eines schlechter Wissenschaft.

Traurige Aktualität

Vielleicht wird das nächste Werk Deborah Lipstadts sich mit dem Massaker vom 7. Oktober beschäftigen. Schon Stunden, nachdem es ruchbar geworden war, rankten sich darum die ersten Verschwörungsfantasien, wie üblich zwischen Verleugnung und Schuldumkehr oszillierend: Die Gewalttaten seien gar nicht geschehen oder in Wirklichkeit von der israelischen Armee ausgegangen, und falls ersteres oder zweiteres sich als falsch erweist, haben es die Opfer eben nicht anders verdient. Seit letztem Jahr ist Lipstadt die offizielle Antisemitismus-Beauftragte der US-Regierung und beklagt den momentan zu spürenden antijüdischen „Tsunami“. Möglicherweise steht sie im nächsten Verleumdungsprozess Sima Shaksari gegenüber, Professorin für Gender Studies an der Universität von Minnesota. Noch im Dezember 2023 äußerte sich jene zu den Vergewaltigungen vom 7. Oktober: Sie sei zwar immer auf der Seite der Überlebenden, habe indes noch kein israelisches Opfer sexueller Gewalt sehen oder sprechen hören. Eher ginge es hier um die Dämonisierung arabischer Männer. Mit solchen Totschlagargumenten, unter antirassistischem Deckmantel, gegen alle Beweise, arbeitet die postmoderne Ideologin - ihre Texte sind voll von den einschlägigen Stichworten - der Verleugnung des Antisemitismus zu. Es gibt noch viel zu tun für Deborah Lipstadt, an beiden Fronten, leider.