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Bildung und Gesellschaft

„Die Sicherheit, nach der ich mein ganzes Leben gesucht hatte, war verschwunden.“

Ein Gespräch mit Tova und Nurit Pagi über den 7. Oktober und wie sie ihn erlebt haben.

Tova Pagi hat als Kind Auschwitz überlebt. Die in Polen geborene Jüdin baute sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel ein neues Leben auf. Mehrere Male reiste sie als Zeitzeugin mit israelischen Jugendlichen in ihre alte Heimat, um dort über die Shoah zu sprechen. Dieses Jahr hat sie sich einen besonderen Wunsch erfüllt und erstmals wieder Deutschland besucht. Am 8. November war sie zu Gast im Bremer Rathaus, wo sie, unterstützt von ihrer Tochter Nurit, Veranstaltungen im Rahmen der Nacht der Jugend bestritt. Nurit Pagi ist selbstständige Grafikdesignerin und hat einen Doktortitel in Deutscher Literaturwissenschaft. Im Gespräch mit dem Bildungsmagaz!n äußern sich beide zum Pogrom der Hamas und den Folgen für Israel und die Welt. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.

Wie habt ihr den 7. Oktober 2023 erlebt?

Tova: Zunächst einmal neige ich dazu, vielleicht aufgrund meiner Geschichte, zu solchen Erlebnissen auf Distanz zu gehen. Ich vermeide es, panisch zu werden. Ich habe im ersten Moment auch keine Angst. Meine Tochter kennt mich, ich sage dann, dass wir darüber hinwegkommen. Aber das Trauma kommt verzögert. Nach einigen Tagen, zwei oder drei, habe ich mir gestattet, zu verstehen, was da geschah. Mehr als Tausend Israelis wurden grausam umgebracht, überwiegend aus der Zivilbevölkerung, darunter viele Kinder. Ich wurde traurig, schließlich verfiel ich in eine Depression. Die Sicherheit, nach der ich mein ganzes Leben gesucht hatte, mein ganzes Leben – sie war verschwunden. Das alles passierte in einer Region, die von meinem Heim aus in zwei Stunden erreichbar ist. Seitdem fühle ich mich kraftlos.

Aber du hattest die Kraft, nach Deutschland zu kommen und über die Vergangenheit zu reden.

Tova: Ich zitiere gerne Martin Luther King: I had a Dream. Mein Traum war es, mit jungen Leuten in Deutschland zu reden, ihnen zu sagen: Ihr seid nicht verantwortlich für die Geschichte, könnt aber aus ihr lernen. Ihr sollt nicht hassen, das ist eine meiner Botschaften. Ich selbst hasse nicht, ich konnte es noch nie.

Nurit: Hasst du nicht einmal die Hamas?

Tova: Nein, auch die Hamas nicht. Wenn ich anfange, sie zu hassen, gleiche ich mich ihr an. Der Unterschied ist eine Frage von Werten. Wir schätzen das Leben, sie schätzen den Tod.

Nurit, hast du auch das Gefühl, Sicherheit verloren zu haben?

Nurit: Ja, auch wenn ich den Tag anders erlebt habe. Ich war nämlich in Frankreich, auf einer Klettertour mit Freunden. Der Erkenntnisprozess verlief bei mir daher recht langsam. Meine Geschwister hingegen saßen vor dem Fernseher und sahen, wie dort ein Journalist am Telefon mit geschockten Menschen aus den überfallenen Kibbutzim sprach, die ihn um Hilfe baten. Er war ratlos. Das Gefühl der Hilflosigkeit konnten die Leute in Israel live im Fernsehen erleben. Ich las nur die Headlines. Erst war von 200 Toten die Rede, dann schwollen die Zahlen an. Irgendwann setzte auch bei mir der Schock ein. Ich bekam eine Angstattacke, konnte nicht atmen. Ich sagte mir: Nurit, hör auf, diese Berichte zu lesen. Ich habe nicht den Schutzmechanismus meiner Mutter – ich werde schneller hysterisch. Nach zwei Tagen der Abwehr überkam mich ein Gefühl, als würde ich wie Alice im Wunderland in den Kaninchenbau fallen, durch ein schier endloses dunkles Loch, und in einer feindseligen Parallelwelt landen. Denn das Geschehene war die Negation all dessen, was uns immer erzählt worden war: Israel ist ein sicheres Land, mit einem effektiven Militär und einer florierenden Wirtschaft. Ich wurde in dieses Sicherheitsgefühl hinein geboren.

Und nun ist es infrage gestellt?

Nurit: Ja. Dieser Verlust an Sicherheit kam mit großer Wucht, weil bei uns allen tief im Unterbewussten die Erinnerung an den Holocaust präsent ist. Sie verfolgt uns immer noch. Der Überfall der Hamas war ein Déjà-vu. Die Furcht vor der Auslöschung Israels ist im Hintergrund immer da und der 7. Oktober hat sie wieder hervortreten lassen, hat jegliches Gefühl von Sicherheit und Stabilität ausradiert.

Allerdings bekam diese Gewissheit schon früher erste Risse, vor etwa einem Jahr, als ich mich den Protesten gegen die von der extremen und religiösen Rechten getragene Regierung Netanjahus anschloss. Bereits während der Demonstrationen verlor ich den Boden unter meinen Füßen, und alles, was mir selbstverständlich war, schien sich aufzulösen. Ich wuchs in dem Glauben auf, unser Land sei durch den liberalen Geist Europas geprägt. All die Bücher meiner Kindheit kamen aus Europa, ich las Karl May, Jules Verne, Walter Scott. Doch nun, im Angesicht eines nationalistischen Putsches gegen den Rechtsstaat, bekamen die Proteste eine besondere Bedeutung: Das Erbe von Aufklärung, Säkularismus und Toleranz in Israel zu bewahren.

Tovi: Das ist eine Illusion, wir sind kein Teil Europas.

Nurit: Ja, eine Illusion. Jetzt realisierte ich, dass wir umgeben von muslimischen Ländern sind. Ich hatte vor zehn Jahren meine Dissertation über Max Brod geschrieben. Er war der Herausgeber Franz Kafkas und selbst ein bedeutender Autor. Dafür hatte ich sogar Deutsch gelernt. Nun sagte ich mir, ich sollte eigentlich Arabisch lernen. Ich musste mich der Einsicht stellen, dass wir im Nahen Osten leben und unsere Lösung dort finden müssen. Und auf einmal kam auch noch dieser Überfall durch die Hamas, der das ein weiteres Mal bestätigt.

Wie beurteilt ihr die Rolle des israelischen Militärs im Zusammenhang mit dem Angriff?

Nurit: Israel musste immer wieder Krieg führen, um sich gegen eine Umwelt feindlich gesinnter Staaten zu verteidigen. Wir können noch so moralisch oder gerecht sein, ohne ein starkes Militär können wir mit unseren hehren Haltungen nicht überleben. Darum war mein größter Schock das Versagen der Armee.

Worin liegen eurer Meinung nach die Gründe dafür?

Nurit: Wir waren mit einer Art von Blindheit geschlagen.

Tova: Auch mit Arroganz vielleicht.

Nurit: Arroganz führt zu Blindheit. Wir lebten in diesem „orientalistischen“ Gefühl der Überlegenheit, einem Teil unseres europäischen Erbes. Weder Armee noch Geheimdienste noch die Regierung reagierten schnell genug. Alle verließen sich auf die angebliche Überlegenheit der israelischen Technik. Es handelt sich um einen Kollaps der Institutionen, den wir erlebt haben, der mich erschüttert.

Tova: Ich empfinde das etwas anders. Ich habe als Kind im Zweiten Weltkrieg einen totalen Zusammenbruch erlebt. Hamburg lag in Ruinen. Es gab nichts mehr, keine Eisenbahnstationen, keine Nahrung, nichts.

Nurit: Ich gehöre zur zweiten Generation der Holocaust-Überlebenden, meine Perspektive ist möglicherweise eine andere. Meine Mutter hat bereits das Schlimmste erlebt, das macht sie auf eine bestimmte Art furchtlos. Ich möchte dazu beitragen, dass meine Enkel einer sicheren Zukunft entgegensehen können. Im Moment sieht es nicht danach aus.

Was könnte zur Verständigung zwischen der palästinensischen und der israelischen Seite beitragen?

Tova: Ich denke, man darf das Gespräch nicht abbrechen lassen. Wir sind alle Menschen und haben dieselben Bedürfnisse. Und die internationale Gemeinschaft sollte sich einschalten in Gaza, um zur Lösung des Konfliktes beizutragen.

Nurit: Während der Demonstrationen, als mir immer klarer wurde, dass es ohne Kooperation keine Zukunft gibt, trat ich einer Organisation namen „Standing together“ bei. Jüdische und arabische Israelis arbeiten darin zusammen. Dov Khenin, ein bekannter Politiker der Linken, hat sie mit begründet. Wir müssen dafür sorgen, dass arabische Israelis die volle Gleichberechtigung genießen.  Um unseres eigenen Überlebens willen müssen wir diesen Weg der arabisch-jüdischen Kooperation gehen.

Tova: Viele arabische Israelis verurteilen übrigens den Angriff der Hamas.

Nurit: Sie erklären, dass diese Terrorgruppe sich nicht anmaßen kann, die arabische Kultur zu repräsentieren. Und sie erinnern daran, dass viele der Ermordeten in der israelischen Friedensbewegung aktiv waren.

Glaubt ihr, dass Netanjahu diesen Krieg politisch überleben wird? Und gibt es eine Chance, dass sich Sicherheit für Israel und Kooperation mit der palästinensischen Seite kombinieren lassen?

Tova: Die muss es geben. Und Bibi (Spitzname Netanjahus) muss gehen. Er hat unsere Gesellschaft über Jahre  systematisch gespalten und Gruppen gegeneinander aufgebracht, die vorher miteinander leben konnten. Aber wir werden das nicht mehr akzeptieren.

Nurit: Meine Mutter ist optimistischer als ich! (Beide lachen.) Nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage hat er, trotz all seines Versagen, immer noch 20 % Zustimmung bei der Bevölkerung. Das ist zwar keine Mehrheit, aber zusammen mit den Parteien der extremen Rechten könnte er versuchen, sich an der Macht zu halten.

Tova: Ich habe einmal ein Buch in Hebräisch geschrieben. Übersetzt lautet der Titel: „Gib niemals auf! Nicht hier und auch nicht dort!“ Das gilt jetzt erst recht.

Wir danken für das Gespräch.