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Schwerpunkt

Der Traum von einem humanen Umgang

Visionen und Gedanken einer Lehrerin aus dem Jahr 2002

Leicht wäre eine Wendung zur guten Schule. Klar, einfach, leicht? Anmaßend schon diese Behauptung. Oder doch nicht? Eigentlich liegt alles auf der Hand. Hunderttausende Stunden gelebter Ideen, Gedanken, Gefühle und Wissen weisen eine einfache Lösung. Visionen? Wir kommen zusammen, legen die Ziele offen, planen gemeinsam mit den SchülerInnen die Wege dorthin. Auf dem Weg kommen noch mehr Ziele und Erkenntnisinteressen hinzu – alles in Ordnung. Wir arbeiten uns modulweise voran. An jedem Modulende steht die Bilanz. Danach wird die neue Aufgabe bestimmt. Die aufgetretenen Probleme werden in die weitere Arbeit miteinbezogen. Lehrer:innen helfen bei der Strukturierung, begleiten die Arbeit in den Modulen, vermitteln bei Auseinandersetzungen, beraten bei Lebensfragen und bewerten die Lernfortschritte individuell in Form von Berichten. Externe überprüfen mithilfe von mündlichen, schriftlichen und praktischen Aufgaben und Arbeiten den Stand des Wissens, der Fähigkeiten und Kompetenzen in den einzelnen Fachgebieten. Nach Standards, die vorher von allen Beteiligten festgelegt wurden und für alle jederzeit einsehbar bleiben.

Nicht leistungsermöglichend

Die Beschaffung von Materialien, Pflege von Computern und technischen Hilfestellungen übernehmen für diese Bereiche speziell Ausgebildete. Die Räume sind hell und groß und ihre Fußböden lärmschluckend. Es gibt Ecken, in denen wird sich ausgeruht und unterhalten, und es gibt Zonen, in denen man sich sportlich und künstlerisch betätigen kann. Leider sind dies alles nur Träume von einem humanen und leistungsermöglichenden Umgang miteinander in der Schule.

Schlagwörter wandeln sich

Seit mehr als 20 Jahren unterrichte ich an berufsbildenden Schulen. Die Tatsachen und die Klagen über die immer schwieriger werdenden SchülerInnen, über deren immer geringeren Leistungen, über die faulen Säcke, die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, die maroden Gebäude, die veralteten Lehrmethoden und Lehrmaterialien, über Leistungsschwäche, Organisationsmängel und Finanznot sind geblieben. Nur zentrale Schlagwörter, die Wege aus der Bildungsmisere weisen sollen, wandeln sich. Heute heißen sie: Kompetenzzentren, Lernfelder, Vernetzung, Schule und Partner. Schon länger ist die Rede von: ganzheitlicher Erziehung, Kooperation, Inte-gration, handlungsorientiertems Unterricht, Projektunterricht, Evaluation. Bessere Qualität und humane Schulwirklichkeit sind daraus bisher wenig entstanden, bessere Perspektiven für SchülerInnen gerade mit Schwächen - Fehlanzeige. Gerade heute hält Pisa die Bildungskatastrophe uns allen plastisch vor Augen.

Mit Zeit füreinander

Die gegenwärtige Diskussion zur Veränderung von Schule richtet sich zu einseitig auf die optimale Nutzung des Faktors Mensch für wirtschaftliche Interessen. Mensch sein lässt sich nicht auf Wirtschaftlichkeit reduzieren. Menschlich behandeln und behandelt werden, heißt sich wahrnehmen – dies geht nur mit Zeit füreinander – und akzeptieren in der individuellen Ganzheit an Bedürfnissen, Gefühlen und Wissensbegier auch jenseits ökonomischer Kategorien. Nur aufs bessere Funktionieren unseres Wirtschaftssystems ausgerichtet zu werden, bedeutet in der Konsequenz eine geistige Verelendung herbeizuführen, die wiederum zwangsläufig zu Ausgrenzung, Verweigerung und Protest führt. Gegenseitige Schuldzuweisungen, Arbeitszeitverdichtungen, aber auch alle Versuche, Ideen, Modelle, Impulse zur Strukturveränderung werden nichts fruchten, wenn wir als Gesellschaft weiterhin so wenig Geld, Zeit und menschliche Wärme in die Bildung und Erziehung unserer Kinder investieren. Die Diskrepanz zwischen Stillstand und Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Sein und Schein, zwischen Leistung und Leistbarkeit, Frust und Engagement ist eine Zerreißprobe. Ende offen.

Wie wird es wohl im Jahr 2044 sein?

Diese Zeilen habe ich vor 21 Jahren für mich aufgeschrieben. Ich war Berufsschullehrerin am Schulzentrum Walle. Heute ist die Situation eher noch problematischer mit dem großen Personalmangel, Lernrückständen und Grenzen von Aufnahmekapazitäten. Wie wird es wohl in 21 Jahren den Schüler:innen und Unterrichtenden gehen?