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Bildung und Gesellschaft

Der 7. Oktober und die Verrohung des postkolonialen Bewusstseins

Die Gewaltorgie war noch nicht beendet, da fiel ein „woker“ Lynchmob ideell zum zweiten Mal über die Opfer her. Nicht Entgleisungen einzelner, die Lebenslügen des Postkolonialismus manifestierten sich.

Theoretiker der Dekolonialisierung Frantz Fanon | Illustration: Martin Krämer

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Das Pogrom vom 7. Oktober war von langer Hand geplant. In den Taschen getöteter Hamas-Kämpfer fand man Dokumente mit minutiös recherchierten Informationen über Einsatzgebiet, Wegenetz, militärische Stützpunkte sowie Listen mit hebräischen Phrasen zum Zweck der reibungslosen Kommunikation. Um den Kampfgeist, also die Mordlust der islamistischen Einsatzgruppen zu stärken, hatte man ihnen Captagon ausgegeben, das im Nahen Osten beliebte Amphetamin des kleinen Mannes. Für den Historiker Dan Diner ist die politische Symbolik der Aktion nicht schwer zu entziffern: Es handelte sich um einen Vorgeschmack auf jenen Genozid, der bereits 1988 in der Charta der Organisation angekündigt war: „Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis ihr die Juden bekämpft. Die Juden werden sich hinter Steinen und Bäumen verstecken. Dann werden die Steine und Bäume rufen: ‚Oh Moslem, Diener Allahs, da ist ein Jude hinter mir, komm und töte ihn“. Der Hadith liefert den antisemitischen Vernichtungsphantasien der Hamas eine religiöse Legitimation und könnte als Drehbuch für das Massaker gelten. Tatsächlich sind die Täter Baum für Baum abgeschritten, Haus für Haus, Fahrzeug für Fahrzeug, und das über Stunden und Tage, bis die Grenzregion von der israelischen Armee wieder freigekämpft war. Das Vorbild des Islamischen Staates (IS) hatte offenbar einige dazu inspiriert, Schwerter oder Beile mitzubringen. Auf den selbstgedrehten Propagandafilmen erschallt - zur gottgefälligen Untermalung der Enthauptungen - ein inbrünstiges ‚Allahu akhbar!‘.

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Der Terrorangriff rief in der Weltöffentlichkeit neben Trauer und Abscheu auch Jubel hervor, und das keineswegs nur in islamistischen Kreisen. Insbesondere Kommentierende aus den sogenannten postkolonialen Milieus stimmten ein in einen vielfältigen Chor der Affirmation.

Nicht aus allen brach es gleich so heraus wie aus Russell Rickford, der die Mordtaten als „berauschend“ (exhilarating) und „anregend“ (energizing) bejubelte. Zareena Grewal ordnete sie in einer Wortmeldung auf Twitter als bewaffneten Widerstand gegen israelischen Kolonialismus ein. Handelt es sich bei den beiden um vernachlässigbare Randfiguren? Möglicherweise, aber dann kann man es mit solcher Gewaltverherrlichung bis zum Lehramt an der renommierten Cornell University (Rickford) oder am Yale College (Grewal) bringen, jedenfalls mit postkolonialem Ticket. Auf den zivilen Status der Opfer aufmerksam gemacht, belehrte sie: „Settlers are no civilians“, das sei doch wohl nicht schwer zu verstehen. Wobei die Hochschullehrerin für American Studies augenscheinlich Kleinkinder und thailändische Arbeitskräfte, Festivalbesucherinnen und Kibbutzniks gleichermaßen der Rubrik des Siedlerkolonialismus subsumiert und somit ex post noch einmal gedanklich zum Abschuss freigibt. Als Veranstalterin eines Seminars über den Islam in Amerika lieferte Grewal eine Kostprobe ihrer persönlichen Glaubenspraxis, indem sie nicht den Opfern, sondern den Terroristen ‚ihre Gebete’ sandte.

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Hinzu gesellten sich etliche andere Fälle, welche bereits durch die Presse gingen. Zwei abgehalfterte indonesische Polit-Künstler, die als „Kuratoren“ auf der Documenta Tee ausschenken durften und für die Verbreitung antisemitischer Bildwerke mit einer Gastprofessur in Hamburg geehrt worden waren, lancierten Solidaritätsadressen an die Täter. Der Ortsverband Chicago von Black Lives Matter erhob den Paragleiter zum glorreichen Widerstandszeichen. Die Journalistin Najma Sharif hatte für die schockierte Weltöffentlichkeit folgende Einordnung des Blutbads parat: „What did y’all think decolonization meant? Vibes? Papers? Essays? Loser.“ Verlierer, so lernen wir, sind diejenigen, die das Abschlachten und Vergewaltigen von Unbeteiligten im Dienste einer theokratischen Diktatur nicht, wie die erleuchtete Aktivistin, zum Akt der Dekolonisierung verklären. Von der digitalen Gefolgschaft regnete es zum Dank über Hunderttausend zustimmende Mausklicks.

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Während sich die queere Szene gegenüber sexueller Gewalt demonstrativ sensibel gibt, solange sie von Weißen ausgeht, gilt bei den Übergriffen des palästinsischen ‚Widerstands‘, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. „Die Taten der Hamas gegen Frauen wurden bislang auf der Bühne internationaler Organisationen weitestgehend nicht verurteilt“, bilanziert taz-Redakteurin Erica Zingher ernüchtert einen Monat nach dem Massaker. Dabei wurden von den entführten, oft vergewaltigten Frauen etliche am 7. Oktober wie Trophäen durch den Gazastreifen geschleift, als Spektakel für Umstehende, die mit einem Blick auf die verängstigten oder bereits ermordeten Körper ihren Voyeurismus befriedigen durften. Das alles ist gut dokumentiert. Patriarchale Frauenverachtung paarte sich mit dem Hass auf die ‚zionistische Entität‘. Einiges spricht dafür, dass derlei sadistische Bilder von der Führung gewünscht waren, als kollektive Demütigung Israels. Das Totschweigen dieser Fakten setzt immerhin noch eine gewisse Verunsicherung voraus; die Identifikation mit den Tätern ist nur durch Verdrängung aufrecht zu erhalten. Es geht jedoch offensiver: Ein in Kanada zirkulierender Aufruf nimmt die Akteure  gegen „unbelegte Vorwürfe sexueller Gewalt“ in Schutz. Unterschrieben ist er von etlichen Gruppen aus dem postkolonialen Spektrum, nicht zuletzt von Samantha Pearson, ihres Zeichens Direktorin der Beratungsstelle für sexuelle Übergriffe an der Universität von Alberta. Zwar wurde sie umgehend gefeuert, trotzdem stellt sich die Frage, wie eine mutmaßlich intersektionale Feministin zu einem derartigen Maß an gespaltener Wahrnehmung fähig ist. Dasselbe gilt auch für die anderen, auffällig vielen Einzelfälle. Es entfaltet sich ein Tableau geradezu pathologischer Symptome: Zu beobachten die ist offene Verherrlichung der Gewalttaten wie deren gleichzeitige Verleugnung, eine eklatante Unfähigkeit zur Anteilnahme, Umkehr von Täter und Opfer - das alles ist Index für den erreichten Grad an Verhärtung im postkolonialen Bewusstsein.

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Nun ließe sich einwenden, bei den besagten Personen handle es sich eher ums triste Mittelmaß, Figuren aus der zweiten Reihe. Vielleicht können sie nur bedingt als repräsentativ angesehen werden. Andererseits geben gerade die mediokren Köpfe einer Bewegung deren Tendenz oft, aus Mangel an Instinkt, unbefangen wieder. Und um die großen Namen steht es eben auch nicht besser. Judith Butler hatte die Hamas 2006 in einer mittlerweile legendär gewordenen Sentenz als „Teil einer internationalen linken Bewegung“ bezeichnet und war davon auch in den Folgejahren nicht abgerückt. Noch 2012 hatte sie den Israelis die Auflösung ihres Staates anempfohlen, schließlich sei der bewundernswerte Nonkonformismus des Judentums in den Jahrtausenden der Diaspora doch viel besser gediehen. Ihr Bruder im Geiste, der prominente Philosoph Gianni Vattimo, Exponent der Postmoderne in Italien, hatte 2014 dazu aufgerufen, internationale Brigaden zur militärischen Unterstützung des Jihads in Palästina zu gründen. In einer italienischen Radiosendung träumte er davon, selbst Hand an die „zionistischen Bastarde“ zu legen und so die Seinsverachtung seines braunen Idols Heidegger en praxi auszukosten. Da er letztes Jahr gestorben ist, durfte er seine Kameraden mit den grünen Stirnbändern nicht mehr in Aktion erleben.

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Kurz nach dem 7. Oktober vollführte Butler gleichwohl eine kleine Absetzbewegung von ihren alten Sympathieträgern, schloss sich der Verurteilung des Überfalls an und stellte großmütig eine Auflösung der Hamas nach der Befreiung Palästina in Aussicht. Eine selbstkritische Revision ihrer früheren Äußerungen blieb freilich aus. Vielmehr verlegt sie sich auf zwei Varianten bewährter Apologetik: Zum einen markiert sie die bestialische Gewalt der islamofaschistischen Milizen als menschlich verständliche Reaktion auf Jahrzehnte der Besatzung. Darüberhinaus kommt ihr die Kriegführung in Gaza entgegen, deren Opfer sich gegen das jüdische Trauma des 7. Oktober mathematisch korrekt aufrechnen lassen, sofern man nur stillschweigend von Grund und Folge abstrahiert. In diesem Sinne unterzeichnete sie einen weiteren der vielen Aufrufe gegen Israel, in dem die Opfer der Hamas nur en passant angesprochen werden. Damit konfrontiert, räumte sie kleinlaut ein, dass sie im Initiatorenkreis ein deutlichere Sprache gefordert hatte, dies jedoch von den Mitstreitenden abschlägig beschieden worden sei. Was Butler allerdings nicht davon abhielt, zu unterschreiben.

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Andere prominente Stimmen aus dem Milieu sparen sich solche Kapriolen und gehen unverhohlener zur Akklamation des Massenmords über. Saree Makdisi, Literaturwissenschaftler an der Universität von Los Angeles (UCLA), schreibt: „Während der haitianischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts massakrierten ehemalige Sklaven Männer, Frauen und Kinder weißer Siedler. Während des Aufstands von Nat Turner im Jahr 1831 massakrierten aufständische Sklaven weiße Männer, Frauen und Kinder. Während des indischen Aufstandes von 1857 massakrierten indische Rebellen englische Männer, Frauen und Kinder.(…) Bei Oran im Jahr 1962 massakrierten algerische Revolutionäre französische Männer, Frauen und Kinder. Warum sollte man erwarten, dass Palästinenser - oder sonst jemand - anders sind?“ Diese Sicht der Dinge ist nicht nur eine Beleidigung echter Widerstandsbewegungen. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC) etwa hat niemals Mord und Vergewaltigung als Kriegswaffe propagiert, wenngleich radikale Elemente in seinen Reihen bisweilen Attentate auf zivilen Opfer ausführten. Erinnert sei ebenfalls an Konzepte gewaltlosen Widerstandes, von Gandhi bis Martin Luther King.

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Makdisi suggeriert mit Hilfe manipulativ gewählter Beispiele, aus einem Opfer des Kolonialismus müsse unweigerlich ein Schlächter werden. Solcher Determinismus entmündigt das Opfer und entschuldigt den Schlächter.

Verdrängt werden zielstrebig alle Spezifika jihadistischer Ideologie: die Verehrung von Tod und Märtyrertum, Verachtung für das vermeintlich sittenlose Leben im Westen einschließlich emanzipierter Frauen, die religiös vollzogene Hirnwäsche. Ignoriert wird der sorgsam geplante Charakter des Einsatzes, der sich mit der tatsächlich spontanen Erhebung Nat Turners nicht vergleichen lässt. Weggelassen wird, weil es nicht ins Schema passt, dass im Zuge der Revolution von Haiti auch Schwarze und Farbige verschiedener Fraktionen einander massenhaft den Garaus gemacht haben.

Exkurs zu Frantz Fanon

Das Motiv, wonach Gewalt im antikolonialen Kampf psychisch befreiend wirke, gehörte schon vor dem 7. Oktober zum rhetorischen Repertoire der postkolonialen Schule. Es wird üblicherweise Frantz Fanon zugeschrieben. Geboren 1925 auf Martinique, hatte er nach dem Zweiten Weltkrieg seine intellektuelle Prägung in der marxistischen Linken Frankreichs durchlaufen und entwickelte sich zum politischen Theoretiker der Dekolonialisierung. Im Zuge des algerischen Unabhängigkeitskrieges schloss er sich der Nationalen Befreiungsfront (FLN) an und betreute als Psychoanalytiker in Kliniken unter anderem Menschen, die von der französischen Armee gefoltert worden waren. So mancher Claqueur jihadistischer Gewalt wähnt sich im Einklang mit Fanon, denn er kennt, auch wenn er sonst nichts gelesen hat, folgenden berühmten Satz: „Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen…Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“ Das Verdikt entstammt freilich dem Vorwort und damit der Feder Jean Paul Sartres, eines Europäers, der für sich selbst höchstwahrscheinlich eine kleine Ausnahmeregelung im Sinn hatte.

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Der Autor selbst behandelt den Gegenstand, worauf der Historiker Andreas Eckert hinweist, durchaus nuancierter. Wenn Fanon darüber reflektiert, ob die Ausübung von Militanz den Unterdrückten etwas vom Gefühl ihrer Ohnmacht nehmen kann, so steht ihm der Guerillakampf Che Guevaras oder Ben Bellas vor Augen, in dessen Rahmen die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen, zumindest der Theorie nach, sehr wohl respektiert wurde. Vollends unredlich wäre es, ihm, der die Auswirkungen der Folter aus eigener Anschauung kannte, eine Verharmlosung jener Exzesse zu unterschieben, wie sie die Hamas stolz zur Schau gestellt hat. Gleichwohl dient bei Fanon militärische Gewalt, die niemals mehr als ein notwendiges Übel sein kann, zur Therapie des „Minderwertigeitskomplexes“ der Kolonisierten. Somit dürfte er eben doch ein wenig den Boden für die spätere Verrohung des postkolonialen Bewusstseins bereitet haben. Seine These müsste vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Internalisieren die Kolonisierten den Terror, so gleichen sie sich ihren Unterdrückern an. Jihadistische Täter erinnern eher an die Schlächter des Imperialismus, etwa jene deutschen Kolonialtruppen, welche in Ostafrika den Maji Maji Aufstand niedergeschlagen haben, als an befreite Individuen.

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Den schwarzen Fleck im Auge des Postkolonialismus bestimmen Meron Mendel und Saba-Nur Cheema treffend: „Eine manichäische Spaltung der Welt in einen ‚globalen Norden‘ und einen ‚globalen Süden, in Unterdrücker und Unterdrückte, reduziert die komplexe Weltlage auf einfache binäre Widersprüche, in denen es nichts Drittes, nichts Ambivalentes geben darf.“ Was aber wäre ambivalenter als die Entwicklung des Nahostkonfliktes, in der europäisches Überlegenheitsdenken und die Hoffnung auf den Schutz vor Antisemitismus, demokratischer Säkularismus und religiöser Messianismus, emanzipatorische und autoritären Facetten des Nationalismus in historischer Fatalität verflochten sind. Die postkoloniale Ideologie konstituiert durch die Verdammung Israels als eines „weißen“ Vorpostens innerhalb eines romantisierten Südens das stabile Feindbild und durch die zweiwertige Logik von Unterdrückern und Unterdrückten die psychische Disposition, deren es bedarf, um Israelis zu dehumanisieren. Gestalten wie Grewal, Rickford, Sharif und Konsorten haben sich selbst in dem Maß verhärtet, wie sie jenes Feindbild verinnerlichten. Was sie damit an Bildungsstätten anrichten, hat sich eindrucksvoll unter anderem an der Universität der Künste in Berlin gezeigt. Das Klima, was dort durch eine Solidaritätsgruppe für Palästina erzeugt wurde, beschreibt ein Studierender in der Süddeutschen Zeitung als „Neigung zum Unterkomplexen, Parolenhaften und blind Nachgebeteten.“ Versuche des Rektors, eine Diskussion in Gang zu bringen, wurden vom Sprechchor der Rechtschaffenen in totalitärem Gestus übertönt. Der autoritäre Charakter, den Adorno und Horkheimer in den Dreißiger Jahren diagnostizierten, hat eine postkoloniale Variante bekommen. Aufgabe der Lehrenden ist es, das wird immer klarer, solchem Ungeist entgegenzutreten.