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Schwerpunkt

Bildung eröffnet den Zugang zur Welt

Visionen gegen die „Dominanz engstirniger Slogans“

Auch damals, als die GEW durch die „Schulpolitischen Positionen“ (2001) und „Bildungspolitische Reformpositionen“ (2005) erneut Stellung zu Perspektiven von Bildung und Erziehung bezog, stand unsere Organisation in heftigem Widerstreit mit mächtigen Interessengruppen. Umso wohltuender las sich das Lob von Wolfgang Klafki. Er, einer der profiliertesten Erziehungswissenschaftler der Bundesrepublik, hob den offenen Horizont unseres schulpolitischen Grundsatzprogramms hervor, wie auch die eingebrachten Prinzipien von Chancengleichheit und Demokratie, die Schüler- und Lebensweltorientierung bei den Unterrichtsinhalten und -formen oder die angestrebten Haltungen von Verantwortungsbewusstsein bis zur gegenseitigen Achtung (vergl. Klafki 2001). Das alles mag mehr als zwanzig Jahre her sein. Die dann anschließende Kritik Klafkis an der Dominanz „engstirnige(r) Slogans“ in Stellungnahmen einflussreicher Kreise und faktischer Bildungspolitik liest sich jedoch ganz und gar gegenwärtig. Das Beispiel „Leistung muss sich wieder lohnen“ steht für eine solche Parole, die auch tagesaktuellen Medien hätte entnommen werden können. Ähnliches ließe sich zur „frühe(n) Auslese der Begabten“ nachweisen oder zu „flächendeckenden Leistungstests zu gleichen Zeitpunkten in allen Schulen einer Schulart“ (vergl. ebenda).

Verengung des Verständnisses von Bildung

Aufmerksamen Beobachter*innen der Debatte entgeht nicht, dass die Verlautbarungen, die unter den Rubriken „Bildungspolitik“ bzw. „Bildungssystem“ abgegeben werden, oftmals wenig mit „Bildung“ als solcher zu tun haben. Nun wird man eingestehen müssen, dass Auseinandersetzungen um Noten, die Erwartung von „mehr Leistung“, vornehmlich in den sogenannten Kernfächern, oder die vermeintlich fehlende „Ausbildungsreife“ junger Menschen sehr direkt auf ein weit verbreitetes Alltagsverständnis von Bildungsprozessen trifft. Zudem lassen sich derartige Ausführungen leicht emotionalisieren und damit zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte machen anstatt grundsätzlich darüber nachzudenken, welchen inhaltlichen Beitrag das Bildungssystem zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten muss und wie man sich die Zukunft in dieser Gesellschaft überhaupt vorstellt.

Solch eine Zukunftsidee argumentativ niederzulegen und zu vermitteln ist schwer, aber wir bewegen uns mit diesem Text wie angekündigt im Kontext von Visionen. Die eingangs zitierten „alten“ Gedanken, auch das ist zu bedenken, sind nicht nur komplexer als die zitierten Slogans, sie bergen auch Gefahren, zumindest für manche Strippenzieher*innen, indem sie z.B. Bestehendes hinterfragen, einschließlich der damit verbundenen Strukturen von Macht und Herrschaft. Die immer wieder zu lesende schnelle Verurteilung von Überlegungen, indem sie als „veraltetes Wissen“ diskreditiert werden, kann auch ganz handfest als eine Strategie angelegt sein.

Die Vision ist bereits konturiert

Insofern verbleiben wir für einen weiteren Abschnitt noch bei unseren bereits verfassten Schriftstücken, ohne allerdings den gesellschaftlichen Wandel aus den Augen zu verlieren. Diese gesellschaftliche Entwicklung ihrerseits, die stete Zunahme der Spaltung in Arm und Reich sowie die Spannungen und Konflikte im Zusammenleben der Bevölkerung begründen jedoch das Aufrufen der Prinzipien „unvollendete(r) deutsche(r) Bildungsreformen“ (GEW 2002, S. 5) erst recht. Stellt man sich dieser Realität, dann geht es tatsächlich um „epochaltypische Schlüsselprobleme“ (vergl. Klafki 1985)! Was soll denn sonst wichtiger sein als Frieden, der Erhalt ökologischer Lebensgrundlagen und ein solidarisches Miteinander der Menschen in sozialer Gerechtigkeit?

Die weiterhin ungebrochene Abhängigkeit des Bildungserfolges von Kindern und Jugendlichen in diesem Land vom sozialen Status ihrer Eltern fordert eine sich demokratisch verstehende Gemeinschaft geradezu heraus, mehr ideellen und materiellen Einsatz zu zeigen für Integration, Inklusion, Emanzipation, Mitbestimmung usw.

„Bildung ist der Zustand, in dem man Verantwortung übernehmen kann“ (Klafki 1964, S. 10). Das haben wir in einem Aufsatz gefunden, dessen ursprüngliche Fassung auf 1958 datiert ist. Diese Überlegungen sollten wir weiterhin ernst nehmen. Damit der Sprung in die Gegenwart nicht zu Weit wird, vergewissern wir uns bei unseren zwischenzeitlich getroffenen eigenen Beschlüssen: „Der Hauptvorstand entwickelt in Kooperation mit den Landesverbänden bis Ende 2006 Umsetzungsstrategien für ‚Eine Schule für alle‘. Die GEW will erreichen, dass … in allen Bundesländern die gesellschaftlichen, politischen und pädagogischen Voraussetzungen für den Systemwechsel geschaffen werden“ (GEW 2006, S. 22).

Nun hat es zwar zugegebenermaßen mit der zeitlichen Taktung nicht ganz geklappt. Um diesen visionären Beschluss aber richtig einordnen zu können, muss man wissen, dass die Idee der „Einen Schule für alle“ nicht nur mit der Veränderung von Schulstrukturen verbunden ist, sondern neue Schul- und Lernkulturen gleichermaßen damit zusammenhängen.

Insofern ergibt sich eine naheliegende Verbindung zu den aktuellen Überlegungen um die Neufassung der schulpolitischen Positionen, wird dort doch eine „erneute innere Verständigung um die Inhalte der allseitigen Bildung“ (GEW 2021, S. 229) angemahnt. Aus der Erkenntnis, dass „der Widerspruch zwischen Bildung, Demokratie und Ökonomie eine neue Qualität und Dynamik“ (ebenda, S. 230) angenommen habe, lassen sich für die heutige Zeit zunächst drei Prinzipien ableiten: 1. Erziehung zur Mündigkeit statt ökonomischer Verwertbarkeit des Menschen. 2. Aneignung statt Prüfung als Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit. 3. Emanzipatorischer Bildungsbegriff statt funktionaler Verengung (vergl. ebenda). Damit ist festzuhalten:

Unsere Visionen haben Wurzeln

Auch ohne es mit den Visionen auf die Spitze treiben zu wollen, muss es Orientierungen dafür geben, was nun oberhalb der Erdoberfläche passieren soll. Die Kinder und Jugendlichen werden in dieser antizipierten Zukunft das Lernen als Erkenntnisprozess erfahren haben und sich in Abwägung verschiedener Interessen auf fachlicher Grundlage einen Standpunkt erarbeiten. Sie entwickeln Persönlichkeit. Sie werden sich kritisch mit der Realität auseinandersetzen und an deren Veränderung (s.o.) mitwirken. Damit das gelingt, wird man im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nicht umhinkommen, Elemente der Allgemeinbildung nicht nur neu zu gewichten, sondern vor dem Hintergrund der beschriebenen epochaltypischen Schlüsselprobleme präzise zu definieren. Derartigen Verabredungen liegt ein umfassendes Verständnis von Allgemeinbildung zu Grunde, deren Inhalte sich an ihrem Bildungswert für eine demokratische Gesellschaft messen lassen müssen.

In dieser Welt werden die Pädagog*innen Bologna wieder vornehmlich als Reiseziel wahrnehmen. Ihre Ausbildung wie ihre Praxis nämlich sind auf eine inklusive Gesellschaftsperspektive bezogen, umfassen Freiräume und eine reflexive Grundhaltung. Theoretisch fundiert erfolgt eine kooperativ angelegte, experimentierfreudige Pädagogik. Die „Kompetenzorientierung“ ist abgeschafft, da sie die Begründung für eine Inhaltsauswahl in der Bildungsarbeit nicht leistet (vergl. GEW Bremen 2019).

Gestützt werden die Kolleg*innen von einer GEW, in der sie alle gemeinsam die materiellen und inhaltlichen Voraussetzungen für „Eine Schule für alle“ geschlossen und strategisch abgestimmt über die sechzehn Bundesländer hinweg erkämpfen. Die GEW hat in diesem Zusammenhang nicht nur kluge Papiere zu notwendigen Reformen veröffentlicht, sondern beginnt den gesellschaftlichen Gegenentwurf mit ihrer Organisation zu konkretisieren und umzusetzen.

Bildung eröffnet den Zugang zur Welt, die Fähigkeiten zu Selbst- und Mitbestimmung sowie zur Solidarität sind dabei entscheidende Merkmale (vergl. Klafki 1985, S. 17). Durch Bildung kann es den Menschen gemeinschaftlich gelingen, sich gegen Unterdrückung zu stemmen. Dies bleibt das Streben der GEW, ungeachtet engstirniger Slogans, die uns sicherlich weiterhin begleiten werden.

Quellen:

  • GEW (2002): Bildung braucht Zukunft, Schulpolitische Positionen der GEW, Frankfurt a.M.
  • GEW (2005): Bildungspolitische Reformpositionen, Antrag 3.1 zum Bundesgewerkschaftstag in Erfurt, Frankfurt a.M.
  • GEW (2006): Eine Schule für alle, Frankfurt a.M.
  • GEW (2021): Schulpolitische Positionen 2021 Bildung – Zukunft – Gewerkschaft, Antrag 3.25 zum Bundesgewerkschaftstag in Leipzig, Frankfurt a.M.
  • GEW Bremen (2019): Zukunftsforum Lehrer*innenbildung, Bremischer Gewerkschaftstag, Antrag GT 15/19
  • Klafki (1964): Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung, Hannover
  • Klafki (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim und Basel
  • Klafki (2001): Zu den schulpolitischen Positionen der GEW, Stellungnahme zum Änderungsantrag der GEW Sachsen-Anhalt