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Kolonialismus im Unterricht

Ambedkar kämpft und Gandhi fastet

Zur Kontroverse über die Unberührbaren in der indischen Nationenbildung

gezeichnetes Konterfei von Ambedkar
Ambedkar goes Pop-Art | Grafik: Martin Krämer /Freiburg

Gandhi wollte das Kastensystem 'reformieren'. Dr. Bimrhao Ambedkar forderte dessen Abschaffung. Der eine ist im Westen postum zum Popstar avanciert, spätestens seit er mit Attenboroughs Verfilmung seiner Biografie ins Pantheon der Kulturindustrie eingegangen ist. Der andere hat, wie die Publizistin Arundhati Roy schrieb, nicht einmal eine Nebenrolle darin bekommen, obwohl sein Name in Indien prominent mit der Emanzipation der Unberührbaren verknüpft ist.

Emanzipation der Dalits

Ambedkar hatte, 1891 geboren, das britische Bildungssystem durchlaufen, wurde Jurist und Politiker in der Zeit des indischen Unabhängigkeitskampfes. In orangene Gewänder hüllte er sich nicht, er zog Anzug und Krawatte vor, Embleme westlicher Bürgerlichkeit. Den Weg zum Studium hatte ihm das Mitglied einer höheren Kaste geebnet, gewissermaßen durch Adoption. Denn mit seinem Dalit-Namen wäre ihm, dem Kind einer Familie von Unberührbaren, solcher Aufstieg verwehrt gewesen. Zunächst als Kopf der sozialistischen Partei, später mit einer eigenen Bewegung der Unberührbaren und als Justizminister sowie Mitautor der Verfassung kämpfte er in den Dreißiger und Vierziger Jahren dafür, dass der Aufbau einer indischen Nation auch mit der sozialen und politischen Emanzipation der Dalits einher ginge.

Entstehung des Hindu-Nationalismus

Das war keineswegs selbstverständlich: Der indische Nationalkongress, das einflussreiche politische Sammelbecken, berief sich auf ein angeblich Jahrtausende altes, historisch homogenes Erbe des Hinduismus, auf dem sich die künftige Nation erheben würde. Die Führungsschicht des Kongresses entstammte natürlich höheren Kasten. Derselbe Mythos, der ihren sozialen Herrschaftsanspruch repräsentierte, sollte zum nationalen Einigungspunkt fixiert werden. Kritisch merkt der britische Historiker Perry Anderson dazu an, dass es in der Vergangenheit des Subkontinents eine Unzahl von wechselnden Herrschaftsformen, Personenverbänden, Stammesgesellschaften mit unterschiedlichsten kulturellen Einfärbungen gab, hinduistischen wie auch buddhistischen, islamischen sowie unterdrückten Naturreligionen. Zwischen ihnen gab es größte Differenzen. Ein einigendes Band des Hinduismus existierte nur in der Fantasie national gesinnter intellektueller Hindus, und es gründete sich auf eine entsprechend 'selektive Repräsentation' (Anderson) der Historie. Wie bei allen nationalen Erzählungen eines reinen und homogenen Ursprungs ist – nach dem Vorbild europäischer Romantik - der ideologische Wille am Werk, dem eigenen Führungsanspruch unhintergehbar historische Weihen zu geben. Auch Gandhi war sich dafür nicht zu schade: „Indien wurde von der Natur als ungeteiltes Land geschaffen...Wir Inder sind eins, wie keine zwei Engländer es sind.“ Konstituiert der Hinduismus nun die nationale Identität, gehört dann das davon schwer trennbare Kastenwesen nicht ebenfalls zum ehrenvollen Traditionsbestand?

Terror der Unreinheit

Die den Dalits zugeschriebene und damit an ihnen auch exekutierte 'Unreinheit' prägte ihren Alltag über Jahrhunderte. Ihr sozialer Raum war durch Bettelei, Straßenmusik, Tagelöhnerei und andere marginalisierte Tätigkeiten bestimmt. Wo sie dadurch unvermeidlich in Berührung mit Hindus höherer Kasten kamen, galt zugleich strikteste Trennung in allen Lebensvollzügen, die religiös aufgeladen waren, also so gut wie allen. In manchen Gegenden mussten Dalits Besen und Kehrblech mit sich führen und beständig hinter sich kehren, da schon ihre bloße Anwesenheit eine spirituelle Beschmutzung für Höherstehende bedeuten konnte. Verstießen sie gegen die Vielzahl der sie beschränkenden Regeln, durften ihnen gezeigt werden, wo ihr Platz ist. Verbale und physische Demütigung war alltäglich, rechtfertigen ließ sie sich mit dem Verweis auf die hinduistische Lehre von Karma und Wiedergeburt. Dalit-Frauen waren Freiwild für Vergewaltiger – von der temporären Verunreinigung befreite sich mancher Täter später durch eine fromme Opfergabe im Tempel.

Gleichstellung und Ausgrenzung

Mit dem Eintritt der indischen Unabhängigkeit 1947 und gemäß der neuen Verfassung waren Dalits nunmehr rechtlich gleichgestellt. Wie alle depravierten Minderheiten mussten sie erfahren, dass mit dem Erwerb staatsbürgerlicher Rechte noch keineswegs die Verfügung über jene ökonomischen Mittel gegeben war, die zur sozialen Mobilität nach oben nötig waren. Zu überwinden galt es auch das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit, mit dem man sozialisiert, das einem immer wieder eingebleut worden war. Vor allem aber: Das Bewusstsein der hinduistischen Mehrheitsgesellschaft war noch kaum reformiert, im Gegenteil wurden Dalits, denen tatsächlich der Aufstieg gelang, nicht selten als ungerechtfertigte Emporkömmlinge wahrgenommen. In Hassverbrechen stellte man die religiös verbriefte eigene Superiorität wieder her. Arundhati Roy berichtet vom Fall einer Dalit-Frau namens Sureka Bhotmange, die mutig genug war, Land in einem Dorf zu kaufen, das einer 'höheren' Kaste angehörte. Man machte ihr das Leben schwer, schmetterte ihre Versuche ab, Anschluss ans Elektrizitätsnetz oder Wasserzugang zu bekommen. Gerade weil sie sich nicht einschüchtern ließ und Beschwerden bei der Polizei lancierte, stieg der Zorn des Dorfes ins Unermessliche: Es endete damit, dass die beiden Söhne verstümmelt wurden und danach bei der Vergewaltigung und Ermordung ihrer Mutter zusehen mussten, bis sie selbst schließlich von ihren Martern durch den Tod 'erlöst' wurden. Das war 2006. Obwohl mittlerweile etliche Dalits den Anschluss an die Mittelschichten fanden und auch parlamentarisch repräsentiert sind, ist ihre sozioökonomische Position nach wie vor rückständig und die Erfahrung der Diskriminierung virulent. Bhotmange hatte in ihrem verwaisten Haus ein Photo ihres Vorbildes hängen: Ambedkar.

Hoffnungen auf Gandhi

Die Bewegung der Dalits und ihr bekanntester Protagonist hatten in den Dreißigern zunächst Hoffnungen auf Mahatma Gandhi gesetzt, der zwar politisch dem Kongress nahe stand, zugleich aber so etwas wie eine spirituelle Sonderstellung ohne offizielles Amt beanspruchte. Nicht als Exponent politischer Alltagskämpfe, eher als Guru wollte er wahrgenommen werden. Ihm schwebte ein reformierter Hinduismus vor, der, schon aufgrund seiner buntscheckig polytheistischen Ausrichtung, durchaus zur Toleranz gegenüber der muslimischen Bevölkerungsgruppe und den vielen anderen religiösen oder ethnischen Minderheiten fähig sei. Gandhi sprach sich gegen die Stigmatisierung der traditionell als unrein geltenden Dalits aus, etwa, indem er öffentlich das Mahl mit ihnen einnahm, was in den Augen konservativer Hindus eine Provokation darstellte und ihn zum Enfant terrible machte. Die Honoratioren des Nationalkongresses wussten anderseits, was sie an dem Charismatiker hatten, schließlich konnte er wie kein anderer durch sein Gespür für politische Symbolik die Massen erreichen.

Enttäuschte Hoffnung

Der von Ambedkar erhobenen Forderung nach Abschaffung der Kasten verweigerte sich der Mahatma jedoch: Das Kastenwesen galt ihm als erhaltenswert, sofern man es von Diskriminierung befreite. Den Widerspruch, ein System religiös begründeter essentieller Ungleichheit demokratisieren zu wollen, versuchte er zu überbrücken, indem er die Hierarchie zwischen den Kasten zu einem Kontinuum unterschiedlicher, doch gleich wertvoller Dienste an der Gemeinschaft verklärte. Idealerweise würden Dalits weiterhin niedere Tätigkeiten vollführen, dabei indessen genauso viel Ansehen genießen wie Angehörige höherer Kasten, die mit dem schweren Karma der ökonomischen und politischen Leitung betraut waren. Augenscheinlich versprach er sich von einem solchen ständestaatlichen Modell den Schutz von Gemeinschaftlichkeit vor den zerstörerischen Kräften des freien Marktes und 'ungezügelter' Freiheit.

Kritik durch die Bewegung der Dalits

Ambedkar jedenfalls realisierte die Inkonsequenz von Gandhis Haltung und so kam es zur Konfrontation. „Die Frage, ob der Kongress für Freiheit kämpft, bedeutet wenig gegenüber der Frage, für wessen Freiheit er kämpft“, lautet eine seiner prägnanten Äußerungen. Zur Befreiung gehörte der kulturelle Bruch mit der Tradition. An Gandhi appellierte er: „Du musst den Hindus sagen, dass mit einer Religion, die das Kastenwesen heilig spricht, etwas nicht stimmt“. Dieser äußerte bei verschiedenen Gelegenheiten seine Missbilligung für Ambedkars Standpunkt, einmal soll er, wie Gurus das so tun, aus Protest in eine Art von religiöses Fasten verfallen sein, was der Bevölkerung signalisierte: Der Dalit-Politiker hat den Meister verletzt. So wirkte Gandhi, obgleich das nicht sein Motiv gewesen sein dürfte, öffentlich gegen die Sache der Dalits und zugunsten der Hindu-Eliten.

Erfolg und Resignation

Während der Dreißiger Jahre hatte Ambedkar die Strategie verfolgt, mit den Organisationen anderer Minderheiten, vor allem der Muslim Liga, ein Gegengewicht zur Übermacht der Kongresspartei zu bilden. Als jedoch die muslimische Seite Kurs auf eine eigene Staatsgründung nimmt, erkennt er, dass die Dalits nach der erfolgten Separation Pakistans wieder isoliert sein werden. Seine Versuche, sich an die europäischen Mächte zu wenden und um Unterstützung zu bitten, bringen zumindest etwas Rückenwind. Die Verfassung mit ihrer formalen Rechtsgleichheit sieht er, illusionslos, nur als Teilerfolg, solange das Kastenwesen in der Gesellschaft geistig verwurzelt bleibt. Schwankend in seinem Verständnis von Sozialismus zwischen Marx und dem Buddhismus, entscheidet er sich für letzteren und tritt öffentlich zu ihm über, 1956, im Jahr seines Todes. Hunderttausende Dalits folgen ihm nach und bewirken so die größte Massenkonversion der jüngeren Geschichte.

Kultur und politische Legitimation

Entgegen dem bisweilen unter postkolonialer Fahne hochgehaltenen Dogma, dass es im kolonialen Befreiungskampf wesentlich um den Gegensatz autochthoner Kulturen zum Westen gegangen sei, zeigt auch das Beispiel Ambedkars den durchgängig transkulturellen Charakter der Entkolonialisierung, besser gesagt, die Verschmelzung von politischen Interessen mit den verschiedensten kulturellen Deutungsangeboten, gleichgültig gegen deren geografische Herkunft. Gandhis reformierter Hinduismus stieg ebensowenig aus den Tiefen Jahrhunderte alter vedischer Schriften wie Ambedkars buddhistische Wendung allein aus der Lektüre des Erleuchteten. Das Papier, auf dem religiöse Texte gedruckt sind, ist ohnehin geduldig. Beide verbinden europäische Ideen von Nation und Rechtsstaatlichkeit mit indischen Traditionen.

Neue Formen der Geschichtsfälschung

Was Ambedkar nicht mehr erleben musste, ist ein Trend innerhalb der Postcolonial Studies, das Kastenwesen zu einer Konstruktion der britischen Kolonialmacht zu erklären. Es geht zurück auf die verzerrende Interpretation der Arbeiten des Historikers Bernard Cohn, der erforscht hat, wie das Bild Indiens bei der britischen Kolonialmacht entstanden ist. Im Zuge der bürokratischen Erfassung des Landes, etwa zur Einteilung der Bevölkerung in Steuerklassen, hat man sich immer wieder auf die Beratung durch gelehrte Brahmanen der obersten Kaste verlassen, damit aber auch deren Perspektive auf die indische Gesellschaft übernommen, obwohl diese in Wirklichkeit komplizierter und vielgestaltiger war, als es brahmanische Engstirnigkeit wahrhaben wollte. Mag diese These einiges für sich haben, so erlaubt sie noch lange nicht die Umkehrung, ein Kastenwesen  und die damit verbundenen Hierarchien habe es nie gegeben, da die Vergangenheit auf dem Subkontinent ach so 'divers' war. Dagegen polemisiert die Historikerin Ananya Chakavarti und erwähnt Quellen, die teilweise Jahrhunderte alt sind: „In meiner Forschung treffe ich überall auf Beweise, dass Kaste das organisierende Prinzip des sozialen Lebens war.“ Sie verweist auf ihre eigene Herkunft aus einer höheren Schicht und kritisiert, die vermeintlich fortschrittlichen Postkolonialen würden durch die historische Weißwaschung der vorkolonialen Verhältnisse dem rechten Hindutva-Nationalismus der Modi-Regierung in die Hände spielen: „Indem wir die Schuld auf den Kolonialismus schieben, sprechen wir uns von unserer eigenen Komplizenschaft mit dem Kastensystem frei, selbst wenn wir weiterhin davon profitieren.“ Dies, könnte man hinzufügen, reproduziert in gewisser Weise den Fehler Gandhis und damit auch dessen Verrat an der Emanzipation der Dalits. Mißachtet wird erneut, unter progressivem Anstrich, Ambedkars Erbe.

Die Grafik wurde eigens von Martin Krämer/Freiburg für dieses Magazin erstellt. Ganze Grafik [hier...].