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„Vor allem die Leistungsschwachen sind zu fördern“

Bildungsforscher Prof. Dr. Kai Maaz hat die Evaluation der Oberschulen geleitet. Er hält die "Schule für alle" für wünschenswert, aber nicht jetzt

Vor der Evaluation haben Sie die „Schule für alle“ als pädagogisch ideal bezeichnet, aber auch als Energieverschwendung. Warum sollte man etwas pädagogisch Ideales nicht ansteuern?

Eine Schule für alle, die durchlässig ist, die den individuellen Förderbedarfen der Kinder gerecht wird, die sie dort abholt wo sie sind, in der viele Kinder gemeinsam lernen, bietet optimale Voraussetzungen, damit Leistungsstarke und Leistungsschwache voneinander profitieren können. Warum ist es eine Energieverschwendung? Weil die Umsetzung momentan realitätsfremd ist. Wir brauchen eine Struktur, die unter den gegebenen Umständen zukunftsfähig und modernisierungsoffen ist.

Ihr genaue Aussage war: „Jetzt ist es eine Energieverschwendung.“ Was muss denn passieren, damit es keine Energieverschwendung mehr ist? Und wann kann das so sein?

Ich kann leider nicht in die Zukunft zu schauen. Derzeit fußt unser Bildungssystem auf gegliederten Schulzweigen, dem entspricht auch die soziale Realität, große Teile der Gesellschaft können sich in Schulsystem ohne Gymnasium derzeit nicht vorstellen. Daher wäre es im Augenblick müßig, ein System ohne eine solche äußere Differenzierung zu entwickeln. Ob das in 10, 15 oder 20 Jahren anders ist, weil sich in der Gesellschaft möglicherweise ein anderes Verständnis von Bildungsstrukturen etabliert hat, kann ich schwer einschätzen. Denkbar wäre das durchaus.

Auch wünschenswert?

Prinzipiell ja. Aber in der Gegenwart ist es zunächst einmal mein Wunsch, dass wir das Zwei-Säulen-System annehmen und es so ausgestalten, dass die beiden Seiten wirklich gleichberechtigt agieren können. 

Sie empfehlen, die Ressourcenausstattung der Schulen kritisch zu hinterfragen? Was meinen Sie damit konkret?

Man sollte zuerst klären, welche Ressourcen zur Verfügung stehen – und wofür? Das Ziel sollte eine klare Ressourcenzuweisung sein. Wo kann eine Schule möglicherweise auf Ressourcen verzichten, wo braucht eine Schule vielleicht mehr Geld, um dringende Probleme vor Ort zu lösen?

Sie plädieren also für ein Umverteilen?

Ja, es geht in den Schulen möglicherweise auch um Umverteilung, aber an den Stellen, wo es notwendig ist, müssen zudem mehr Ressourcen ins System gesteckt werden. Nur wäre es einfach zu sagen, dass es mit mehr Geld im System getan wäre. Das Land Bremen hat vor allem große Probleme pädagogisches Personal zu rekrutieren. Nur mit mehr Geld lassen sich aber keine Lehrkräfte, Sozial- oder Sonderpädagogen gewinnen. Man muss sich also auch andere Strategien überlegen.

Es gibt bei Eltern und Lehrkräften die große Sorge, dass der Fach- und Lehrkräftemangel nicht nur anhält, sondern sich sogar ausweitet. Das Zwei-Säulen-Modell hat diesen Mangel nicht verhindert.

Ich glaube, dass die Erwartungen, die man in eine solche Reform steckt, bildungspolitisch sehr weit formuliert werden, es aber bildungspraktisch nicht wirklich realistisch ist, dass diese Ziele in Gänze erreicht werden. Ich kann verstehen, dass die Beteiligten ein Stück weit enttäuscht sind. Aber viele Dinge sind meines Erachtens nicht erwartbar, obwohl die strukturelle Entscheidung in die richtige Richtung geht. Deshalb haben wir deutlich gemacht, dass nach den strukturellen Schritten nun die Qualitätssicherung und -entwicklung in den Fokus rücken muss. Die Bildungsstruktur wird akzeptiert, sie schafft Raum für inhaltliche und pädagogische Orientierung. Das scheint mir der richtige Weg zu sein. Aber dabei müssen die Schulen und Lehrkräfte unterstützt werden, sonst macht sich schnell ein Gefühl der Hilflosigkeit breit.

Eine Frage zur Methode ihrer Studie: Ihnen standen lediglich Statistiken zur Verfügung, dazu haben sie Schulleitungen befragt. Einschätzungen des pädagoschen Fachpersonals und der Schülerinnen und Schüler fehlen. Wären mit ihnen andere Ergebnisse entstanden?

Schulleitungen sind - das zeigen andere Studien, in denen auch Lehrkräfte befragt wurden - ganz gute Seismografen für die Situation in ihrer Schule. Ihre Aussagen decken sich oft mit denen der Pädagogen. Bei Schülerinnen und Schülern ist es etwas anderes. Sie nehmen die Schulstruktur und Veränderungen am System aus einer anderen Perspektive wahr. Wir hätten gerne ein anderes Design angelegt und auch Lehrkräfte und Schüler mit berücksichtigt, aber wir hatten für diese Studie nur ein Jahr Zeit. Da waren zeitlich nur Fragen an Schulleitungen möglich.        

Ist die im Ländervergleich schlechte Schüler/Lehrer-Relation Bremens in dieser Studie berücksichtigt worden?

Explizit nicht, aber bei den Interviews im Bereich der Inklusion unter der Überschrift „Unzureichende Ausstattung mit Personal“ hat sie natürlich eine Rolle gespielt. Das ist ein Problem, das man angehen muss. Ohne ausreichend Lehrkräfte, habe ich Probleme qualitätsvollen Unterricht zu organisieren. Die Bildungspolitik ist gefragt, Strategien zu entwickeln und gutes pädagogisches Fachpersonal zu rekrutieren.

Was soll die Bildungsbehörde jetzt zuerst tun?

Als Wissenschaftler können wir nur einen Überblick über die relevanten Ansatzpunkte geben, die Priorisierung muss durch die Politik erfolgen.

Sie sind aber tief ins Thema eingedrungen, kennen sich gut aus und können sicher Hinweise geben.

Die formale Struktur sollte beibehalten werden, aber man sollte sich nicht darauf ausruhen. Aus meiner Sicht sollte man drei Herausforderungen primär angehen: Erstens die zum Teil großen Kompetenzdefizite. Warum ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die die Mindeststandards nicht erreichen, in Bremen so groß? Warum gibt es so viele, die die Schule ohne Abschluss verlassen? Man braucht auf der Prozessebene neue Modelle, die explizit diesen Schülern zu besseren Leistungen verhelfen. Die zweite Herausforderung hängt eng mit dem ersten Problem zusammen: die großen sozialen Ungleichheiten. Es gilt vor allem die Leistungsschwachen zu fördern – und zwar stärker als die Leistungsstarken. Es braucht Programme, die speziell darauf ausgerichtet sind. Meine dritte Empfehlung wäre es, sich genau anzuschauen, warum manche Schulen kaum ausgewählt werden. Wie kann man diese Schulen wieder attraktiver machen?

Sie haben bei den drei Zielen das Wort Geld nicht benutzt.

Ich habe das Wort Geld nicht benutzt, aber das wäre sicherlich ein vierter Punkt, den man nennen könnte. Es geht um die Überprüfung der Ressourcenausstattung, der Ressourcenverwendung und einer differenzierten Ressourcenzuweisung. Das gilt vor allem für Schulen in herausfordernden Lagen.