Datenschutz
Überwachung im Klassenzimmer
Warum Cloud-Technologie die Freiheit der Schüler gefährdet
Eine analoge Vorahnung:
Alexander Solschenyzin erzählt in seinem Roman „Krebsstation“, wie sich verschiedene Krebspatienten in einem usbekischen Krankenhaus begegnen, und zwar in den 1950er Jahren. Dabei stellt er fest: »Im Laufe seines Lebens füllt jeder Mensch zahlreiche Formulare mit zahlreichen Fragen aus, die irgendwo gespeichert werden.“ Und dann heißt es weiter: „Die Antwort eines Menschen auf eine Frage auf einem Formular wird zu einem kleinen Faden, der ihn permanent mit dem öffentlichen Personalverwaltungszentrum verbindet.“ Daher würden von jedem Menschen „Hunderte kleiner Fäden“ ausgehen. Solschenyzin schreibt dann von „Millionen dieser Fäden“, die am Himmel „wie ein Spinnennetz aussehen“. Seine Schlussfolgerung: »Jedermann, der sich seine eigenen unsichtbaren Fäden dauernd bewusst ist, entwickelt einen natürlichen Respekt für die Leute, die die Fäden manipulieren.“
Unsere „Formulare“ sind heute die virtuellen Einkaufswagen im Online-Shop, Google-Suchaktionen oder Postings bei Facebook. Und: die Lerndaten unserer Kinder! Jedenfalls, wenn es nach den Plänen des „Hasso-Plattner-Instituts“ (HPI) geht. Es hat seinen Sitz in Potsdam, der SAP-Mitgründer und Multimilliardär Hasso Plattner rief das Institut 1998 ins Leben. Die Arbeitsbereiche:„Big Data“, „Cloud Computing“, „Process Mining“ und „eHealth“.
Das HPI ist eine private Hochschule, allein finanziert von ihrem Mäzen Plattner, der auch in der Lehre aktiv ist. Zu einer bundesweit geplanten Cloud-Lösung schreibt das HPI:
„Durch zahlreiche Zusatzaufgaben überforderte Lehrkräfte, technisch mangelhaft ausgestattete Klassenzimmer, vernachlässigte Computernetzwerke, hohe Lizenz-und Personalkosten prägen das Bild in vielen deutschen Schulen.“ Die „Schul-Cloud“ sei eine Lösung, “mit der Schüler flächendeckend neueste und professionell gewartete Programme nutzen können.“ Statt dezentral Daten und Programme auf einzelne Server abzulegen, landen diese Inhalte auf zentralen Servern, also in der „Cloud“.
Zur wirtschaftlichen Seite stellt das HPI fest: „Die Schul-Cloud wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren.« Damit bereitet das private Institut den Boden, um Bildung weiter zu privatisieren. Der wissenschaftliche HPI-Direktor, Prof. Christoph Meinel, schreibt dazu in der FAZ: »Es macht einen qualitativen Unterschied, ob Bildungsinhalte für einen potentiellen Markt von 40.000 Schulen entwickelt werden Oder für 10.000.“ Weiter heißt es in der FAZ: „Durch die Nutzung und Bewertung einzelner Lernanwendungen entsteht gleichzeitig eine effektive Qualitätskontrolle durch die Nutzer.“ Mit den „Mitteln der Learning Analytics“ sei es möglich, digitale Lernangebote „auf der Basis des Nutzerverhaltens“ gezielt weiterzuentwickeln, so Meinel.
Wie diese Analyse von Lernprozessen abläuft, schildern Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, die das Geschäftsmodell von Jose Ferreira beschreiben (Firma Knewton): „Mit Hilfe von Big Data will er über jeden so viel wie möglich erfahren, um mit diesem Wissen und einer sich anpassenden Lernsoftware den Unterricht zu personalisieren.“ Argument: Im Gegensatz zu Lehrern in großen Klassen ist die Software Knewton in der Lage, „jedes Detail zu jedem Schüler“ zu speichern. Konkret heißt das: „Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in welchem Tempo ein Schüler lernt.“ Dabei wird eine Vielzahl von Parametern erfasst: „Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch.“
Genau dieser Rückkanal ist die Achilles-Ferse automatisierter Lernsysteme, die biometrische Messungen an Schülern ergänzen können. Das Ergebnis sind minutiöse Lernprotokolle, die sich versilbern lassen. Dräger und Müller-Eiselt nennen Ferreiras Geschäftsmodell: „Individuelle Bildung für alle im Tausch gegen Daten von jedem.“ Und: Venture-Kapitalisten hätten bereits mehr als 150 Millionen Dollar in die Firma Knewto investiert.
Neue Form der Kontrolle
Stichwort „individuelle Bildung“.
Dazu schreibt Prof. Ralf Lankau: „Algorithmen und Software haben keinerlei Vorstellung von Individualität oder Persönlichkeit.“ Die Wahrheit sei, „dass die nächsten Aufgaben und Übungen aus einem vorgegebenen Pool nach den bisherigen Lernleistungen und anhand von Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung ausgewählt werden.“
Die Konsequenzen laut Lankau:
- Audiovisuelle Medien: Inhalte werden in digitale Module zerlegt, wodurch sie durch IT besser zu steuern sind. Audiovisuelle Medien treten in den Vordergrund, obwohl schon Konfuzius wusste: „Ich sehe und vergesse. Ich höre und erinnere. Ich tue und verstehe.“
- Standardisierung: Lernprozesse werden vereinheitlicht, damit sie leichter zu prüfen sind. Alles wird protokolliert, neben den Lernergebnissen auch Daten zum Verhalten: „Stressresistenz, Aufmerksamkeitsspannen, Fehlerquotienten“, nennt Lankau.
- Lernbegleiter: Der „personenzentrierte Unterricht“ wird auf „maschinenzentrierte Lern- und Prüfformen“ umgestellt. „Lehrer werden (wahlweise) zum Lernbegleiter, Internet-Mentor oder Video-Tutor degradiert“, so Lankau.
- Technisches Personal: Lehrer werden weniger gebraucht, dafür aber Techniker wie Administratoren oder Programmierer. Sie halten die Rechner in Schuss, die an die Stelle der Lehrer treten.
Soweit die pädagogische Kritik an der erwünschten „Individualisierung“ durch eLearning.
Gewöhnung an Beobachtung
In diese Kerbe schlägt auch der Datenschutzbeauftragte der Ruhr-Universität Bochum, Dr. Kai-Uwe Loser: Der Einsatz von „Learning Analytics“ stehe im Widerspruch zum „gesellschaftlichen Bildungsauftrag, der auch die Erziehung zu freiheitlichem und demokratischem Handeln beinhaltet“. Die „massenhafte Datensammlung“ und der „Einsatz von (Big Data) Analysewerkzeugen“ zeige bereits „negative Auswirkungen“, etwa „Unsicherheit über die Beobachtung der Privatsphäre“ oder „Sanktionierungen außerhalb rechtsstaatlicher Mechanismen“. Wenn „dieselben technologischen Grundlagen“ in Schulen zum Einsatz kommen, „werden Heranwachsende bereits frühzeitig an die Beobachtungssituation gewöhnt“, so Dr. Loser.
Der Datenschutzbeauftragte konstatiert „ein Machtgefüge zwischen Lehrenden mit ihrer Sanktionierungsmöglichkeit der Benotung“ - und dem Zwang der Schüler, „sich im Lernkontext anzupassen.“ In dieses Machtgefälle ordnet Dr. Lose „Learning Analytics“ ein: „Das Sammeln von Daten über die Lernenden (fügt) negativ wirkende Facetten hinzu“: In der Schule entstehe „ein faktischer Zwang, etwa zur Nutzung von E-Learning Plattformen, und damit zum sich Ergeben in eine umfassende Beobachtung.“
Aus Sicht des Lernenden bekomme der Lehrende ein weiteres Instrument in die Hand, „in dem sich seine umfassende Kontrollbefugnis manifestiert.“ Dr. Loser: “Im Kleinen wird so vorgelebt, was im Großen NSA und Co. praktizieren. Einem Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden kann das nicht zuträglich sein.“
Investitionskosten für Hardware sinken
Dabei würden, so das HPI, Lehrkräfte entlastet, und zwar von der Hardware-Verwaltung und -Pflege. Als Zugang zu den Inhalten der „Schul-Cloud“ seien „lediglich ein Internetzugang sowie webfähige Anzeige- und Eingabegeräte nötig“.
Das ökonomische Argument für Schulen: Ihre Investitionskosten in teure Hardware könnten stark sinken - so wie der Zugriff auf zeitliche und personelle Ressourcen, um lokale Rechner aufwendig zu warten.
Bei dieser „Schul-Cloud“ übernimmt das „Leininger-Gymnasium“ in Grünstadt eine Vorreiterrolle - gemeinsam mit 25 MINT-Schulen in Deutschland, die ein naturwissenschaftlich-mathematisches Profil haben. Die Pilotphase wurde im April 2017 gestartet und läuft bis Herbst 2018. Um die „Schul-Cloud“ überall ins Laufen zu bringen, kooperiert das HPI auch mit „MINT-EC“, einer „Initiative der Wirtschaft zur Förderung mathematisch-naturwissenschaftlicher Schulen«, wie auf der Website der Initiative zu lesen ist. Das Bundesbildungsministerium fördert das Projekt.
Nun zur wirtschaftliche Seite. Ganz offen schreibt das HPI: „Die Schul-Cloud“ wird dazu beitragen, einen prosperierenden Bildungsmarkt mit innovativen digitalen Bildungsprodukten zu etablieren.“ Damit bereitet das private Institut den Boden, um Bildung weiter zu privatisieren, zumal auch von einem „verstärkten Wettbewerb unter den Anbietern von Lerninhalten“ die Rede ist.
Auf diese Weise verbindet sich die „Schul-Cloud“ mit wirtschaftlichen Interessen - und es stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaft einen ständig wachsenden Einfluss der Wirtschaft akzeptieren will. Wollen wir wirklich, dass das Konzept der „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) andere Ideen von Bildung immer mehr in den Schatten stellt?
„Learning Analytics“
Und: Es ergibt sich eine weitere entscheidende Frage, sobald wir den FAZ-Text von Meinel weiterlesen. Da heißt es: „Durch die Nutzung und Bewertung einzelner Lernanwendungen entsteht gleichzeitig eine effektive Qualitätskontrolle durch die Nutzer. Mit den Mitteln der Learning Analytics können die digitalen Lernangebote auf der Basis des Nutzerverhaltens gezielt weiterentwickelt und Lernen individueller und erfolgreicher gestaltet werden.“
„Effektive Qualitätskontrolle durch den Nutzer“? Das klingt nach einer aktiven Bewertung von Lerninhalten, geht aber völlig an der Realität von „Learning Analytics“ vorbei. Wie diese rechnergestützte Analyse von Lernprozessen abläuft, schildern Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, die das Geschäftsmodell von Jose Ferreira beschreiben (Firma Knewton): „Mit Hilfe von Big Data will er über jeden so viel wie möglich erfahren, um mit diesem Wissen und einer sich anpassenden Lernsoftware den Unterricht zu personalisieren.“
Was meint Nicholas Carr? Langsam wird deutlich, warum der Autor „eine mächtige neue Form der Kontrolle“ fürchtet, wenn das Internet zu einer „vereinheitlichten Datenbank“ wird, etwa durch zentralistische Konzepte wie die „Schul-Cloud“. Auch das Bild von Solschenyzin gewinnt an Brisanz, wenn wir Meinels Idee von „Learning Analytics“ zu Ende denken Ein „Spinnennetz“ von Schülerdaten entfaltet sich am virtuellen Himmel.
Wenn aber ab einem Alter von 12-14 Jahren Selbstreflexion und abstraktes Denken leichter fallen (Piaget: „formaloperative Phase“), kann neben die Kompetenz zur Rezeption, Konzentration und Kritik auch die Fähigkeit treten, „Texte, Bilder und Videos in einer hohen Qualität zu produzieren (...).“ Es geht um „solides Handwerk bei der Medienproduktion“, wie es im Buch „Die Lüge der digitalen Bildun“ heißt. Wer in einer weiterführenden Schule aktiv mit digitalen Medien arbeiten lässt, findet viele sinnvolle Anwendungen: mobile Hörfunkstudios, Schulwikis oder filmische Dokumentationen in der Leichtathletik. Dazu braucht es keine „Schul-Cloud“ - und es reichen nur wenige Rechner mit einem Internet-Zugang aus, wodurch auch die Kosten im Griff bleiben.
Literatur:
Nicholas Carr: The Big Switch: Der große Wandel. Cloud Computing und die Vernetzung der Welt von Edison bis Google