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Der »Null-Jahrgang« und die Folgen

An den gymnasialen Oberstufen in der Stadtgemeinde Bremen gibt es große Unsicherheit über die Anzahl der SchülerInnen in den nächsten Jahren. Das hat weitreichende Konsequenzen. Wie viele Kurse können angeboten werden? Welche Fächer fallen eventuell weg? Wird es Personal-Versetzungen geben? Können sich die kleinen Oberstufen, die seit 2008 gegründet wurden, angesichts dieser Lage überhaupt halten? Und was wird aus den Versprechungen der ehemaligen Bildungssenatorin, die weitere Oberstufengründungen in der östlichen Vorstadt und in Gröpelingen in Aussicht gestellt hatte?

Die Ursachen


Der bevorstehende Rückgang ist Ergebnis des bildungspolitischen Zick-Zack-Kurses, den die Bremer Landespolitiker seit der Veröffentlichung des PISA-Ländervergleichs 2002 eingeschlagen haben.

  • Station 1: Abschaffung der Orientierungsstufe und G8
    Die große Koalition von SPD und CDU schafft 2005 die Orientierungsstufe ab. Statt längerem gemeinsamem Lernen verordnete sie frühe Entmischung. Der Übergang zum Gymnasium erfolgt jetzt nicht mehr nach der 6. Klasse auf Empfehlung der Klassenkonferenz, sondern auf Elternwunsch nach der 4. Klasse. Folge ist ein rasanter Anstieg der Anmeldungen für diese Schulform. Sie steigen auf über 50% der SchülerInnenschaft, der „Rest“ geht in die neu eingerichtete Sekundarschule oder das Förderzentrum. Von den gut 50% GymnasialschülerInnen besuchen etwa 20% die acht durchgängigen Gymnasien, etwa 30% befinden sich in den Gymnasialzweigen der Sekundarstufe-I-Zentren.
    Gleichzeitig beschließt die große Koalition in Anpassung an die Regelung in fast allen Bundesländern die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre (G8). Dies gilt nicht nur für die durchgängigen Gymnasien, in denen es zum Teil auch vorher schon Schnellläufer-Klassen gab, sondern auch für die Gy-Abteilungen der Sek.-I-Zentren. Ein Weg zum Abitur nach 13 Jahren ist nur noch über die 12 Gesamtschulen möglich.
  • Station 2: „Bremer Schulfrieden“ und Doppeljahrgang
    Rot/Grün und CDU vereinbaren 2008 den „Bremer Schulfrieden“. An den durchgängigen Gymnasien bleibt G8 erhalten, die Gy-Abteilungen der Sek.-I-Zentren laufen aus, da dort die Integration zur Oberschule beginnt und keine neuen 5. Gy-Klassen mehr gebildet werden. 2009 kommt der „Doppeljahrgang“ in der gymnasialen Oberstufe an. Die 9. und 10. Gy-Klassen gehen gleichzeitig in die Einführungsphase über. Die Zahl der SchülerInnen erhöht sich in diesem Jahrgang von 2383 auf 3601. Übervolle Kurse, erhöhte Klausurbelastung und Raumprobleme sind die Folge. Mitten in dieser Überlastungsphase kürzt die Bildungssenatorin Stellen in der Oberstufe, um die Integration und den Beginn der Inklusion in der Sek. I zu finanzieren.
  • Station 3: Der „Null-Jahrgang“
    Fünf Jahre nach Beginn der Oberschul-Integration gibt es in den ehemaligen Sek.-I-Zentren keinen Gy9-Jahrgang mehr, der in die Oberstufe übergeht. Alle SchülerInnen bleiben dort bis zur 10. Klasse. Damit fällt ein großer Teil der Zugänge zur GyO im betreffenden Jahr weg. 2008, im letzten Jahr vor dem Doppeljahrgang, verteilten sich diese Zugänge wie folgt: Ca. 630 aus den durchgängigen Gymnasien, ca. 940 aus den Gy-Abteilungen der Sek.-I-Zentren und ca. 800 aus Gesamtschulen und Realschulabteilungen.
    In der Realität fällt die Lücke nicht ganz so krass aus, wie angesichts der Zahlen von 2008 zu befürchten war: Erstens haben nicht alle Sek.-I-Zentren gleichzeitig mit der Integration begonnen, sodass der „Null-Jahrgang“ über zwei bis drei Jahre verteilt auftritt. Zweitens hat sich in den durchgängigen Gymnasien die Zahl der SchülerInnen im 9. Jahrgang von 2008 bis 2012 von 630 auf 865 erhöht (was ein bildungspolitisches Licht auf den „Bremer Schulfrieden“ wirft).
    Die Prognose für die nächsten Jahre sieht folgendermaßen aus: Zurzeit haben wir in der E-Phase 2526 SchülerInnen. 2014 werden es noch ca. 2320 sein, 2015 ca. 2200 und 2016 ca. 2250. Ab 2017 setzt eine langsame, aber nicht übermäßige Erholung ein. Zwar geben dann alle Oberschulen einen 10. Jahrgang ab, aber die SchülerInnenzahl sinkt insgesamt leicht. Und ob es den Oberschulen gelingt, die Übergangsquote zur GyO zu erhöhen, bleibt abzuwarten. Jetzt darauf zu setzen wäre reine Spekulation.

 

Die Auswirkungen

Ein solcher Rückgang bedeutet, dass in den nächsten Jahren – unter der Voraussetzung, dass die Richtfrequenzen nicht gesenkt werden – in der E-Phase weniger Klassenverbände gebildet werden können. Waren es dieses Jahr noch 94 in allen Bremer GyO's, so wird die Zahl auf ca. 78-80 sinken. Die Fähigkeit der einzelnen Schulen, diese „Durststrecke“ durchzustehen, ist allerdings höchst unterschiedlich ausgeprägt:
Die acht durchgängigen Gymnasien dürften ungefährdet sein – werden sie doch überwiegend von den ca. 850 Gy9-SchülerInnen besucht. Rein rechnerisch sind das für die acht Schulen zusammen ca. 34 Klassen.
Der „Rest“ verteilt sich auf die ehemaligen Sek.-II-Zentren und auf die neu gegründeten Oberstufen an einzelnen Oberschulen. Bis 2008 standen den acht Gymnasien acht Oberstufenzentren (plus einer Oberstufe in Rockwinkel) gegenüber. Diese wurden unter der ehemaligen Bildungssenatorin zerschlagen, d.h. verkleinert und einzelnen Oberschulen oder Berufsschulen zugeordnet. Zusätzlich wurden vier kleine Oberschul-Oberstufen neu gegründet. Für diese 13 Schulen bleiben ca. 44-46 Klassen übrig. Rein rechnerisch sind dies 3,5 Klassen pro Schule gegenüber 4,25 Klassen an den Gymnasien.
Dieses Ungleichgewicht hat inhaltliche Bedeutung. Die GyO lebt von der Fächervielfalt, die sie bieten kann. Wird hier nicht gesteuert, so stehen demnächst den Oberstufen der Gymnasien mit einem attraktiven Fächerangebot nur noch Zwerg-Oberstufen der Oberschulen gegenüber, die sich auf den Dreischritt „Deutsch-Mathe-Englisch“ beschränken müssen.

 

Die Entscheidungen von 2008 – Inkompetenz oder böse Absicht?

Die Konferenz der gymnasialen Oberstufen hat bereits 2008 in ihrer Stellungnahme für den Schulentwicklungsausschuss vor dem Verlust der Fächervielfalt gewarnt. Die GEW hat gegen die geplante Zerschlagung der Oberstufenzentren protestiert. Beide haben darauf hingewiesen, dass eine Ausstattung aller Oberschulen mit Oberstufen rein zahlenmäßig gar nicht möglich ist. Die Bildungssenatorin und ihr oberster Schulaufsichtsbeamter haben sich darum nicht gekehrt. Entweder war ihnen durch die deutsche Ideologie vom durchgängigen Zwei-Säulen-Modell von der 5. bis zur 13. Klasse (die es außer bei uns nur noch in sehr wenigen Ländern der Welt gibt) jeglicher Sinn für die Realität abhandengekommen, oder sie hatten von vornherein eine andere, nicht offen geäußerte Kalkulation:
Um die 30% der Elternschaft zufrieden zu stellen, die ihr Kind bisher in die Gy-Abteilungen der Schulzentren geschickt hatten, reichte es ja, eine Reihe von „Leuchttürmen“ mit Oberstufen auszustatten. Der Rest blieb eben der Rest. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde von Beginn an ein solches dreigliedriges System (Gymnasium – Oberschule mit Oberstufe – Oberschule ohne Oberstufe) bewusst einkalkuliert. Das war gleichzeitig ein probates Herrschaftsinstrument. Eine Oberstufe konnte als „Belohnung“ vergeben werden. Eine Zuspitzung der Konkurrenz zwischen den Sek.-I-Schulen, die vorher schon durch das Anwahlsystem zur 5. Klasse angelegt war, wurde vorprogrammiert. Und es wurden Versprechungen gemacht, die nicht eingehalten werden können. Zwei weitere Oberstufen wären unverantwortlich – auch wenn die Stadtteilbeiräte sie wünschen. Eine noch weitere Zersplitterung würde alle Oberschul-Oberstufen vor die Überlebensfrage stellen.

Die aktuelle Aufgabe: Schadensbegrenzung und Neukonzeption

Die Verordnung des Schulstandortplans von 2009 hat den Bremer Schulen viel Arbeit beschert. Oberschulen ohne Oberstufe begannen mit einem Neuaufbau, bei dem sich KollegInnen mit viel Mehrarbeit engagierten. Den bisherigen Oberstufenzentren wurden Profile weggenommen, der Stress von Kürzungsdiskussionen war eine zusätzliche Belastung. Zwei ehemalige Zentren (Kurt-Schumacher-Allee und Blumenthal) wurden völlig durcheinander gewirbelt, weil sie – der Ideologie der Durchgängigkeit von der 5. bis zur 13. Klasse folgend – eine Sek. I neu aufbauen müssen.
Die Schulpolitik von 2008 bis 2012 hat eine Lage geschaffen, in der ein untaugliches, halb durchgeführtes Umbaukonzept aufgrund der harten Fakten (SchülerInnenzahl) nicht weitergeführt werden kann. Was jetzt ansteht, sind Schadensbegrenzung und Neukonzeption.
Um den Engpass der nächsten Jahre zu meistern, ist ein neuer Politikstil vonnöten. Kooperation und Information müssen das oberste Gebot sein. Wer jetzt nach Expansion strebt, schadet bewusst den anderen. Die Fächervielfalt kann nicht durch konkurrierende Angebote, sondern nur durch Kooperation und Absprache gesichert werden. Und schließlich schafft der Rückgang der SchülerInnenzahl endlich den Spielraum, um die Richtfrequenzen zu senken und die Arbeitsbedingungen in der GyO zu verbessern.
Darüber hinaus bedarf es aber einer Neukonzeption der Oberschul-Oberstufe. Das Konzept der Bildungssenatorin Jürgens-Pieper ist gescheitert. Das Schulgesetz muss an dieser Stelle nach gründlicher Vordiskussion und transparenter Zukunftsplanung geändert werden.