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Gesellschaftspolitik

Blut und Boden für Mütterchen Russland

Die imperialistische Esoterik des Aleksandr Dugin und ihre kriegsbedingte Konjunktur

Aleksandr Dugin-Illustration: Martin Krämer

Aleksandr Dugin hat eine bemerkenswerte postsowjetische Karriere hingelegt. In den Achtziger Jahren soll er als Student obskure völkisch-mystizistische Zirkel besucht haben. Nach dem Ende der Sowjetunion betätigte er sich in explizit neofaschistischen Gruppierungen. Für ein Russland, das sich weiterhin durch den Sieg über Hitlerdeutschland definierte, waren das – damals noch – zuviele Tabubrüche. Jahrelang war Dugin nicht mehr als eine schillernde Randfigur im öffentlichen Leben. Im Laufe von Putins Regierungszeit gelang es ihm, zu landesweiter Prominenz aufzurücken. Taktische Jugendsünden, etwa die beherzten Lobesworte für Reinhard Heydrich und andere SS-Größen zu Anfang der Neunziger Jahre, vermeidet er mittlerweile. Dem Nationalsozialismus hat er vorgeblich abgeschworen. Liberalismus, Kommunismus und Faschismus gelten ihm nun gleichermaßen als Symptome einer Krankheit, die Moderne heißt. Als Gegenmittel verficht er publizistisch die konservative Kulturrevolution, nicht zuletzt zur Restauration russischer Großmacht. Eklektisch greift er auf Gedanken reaktionärer Ideologen von Julius Evola über Carl Schmitt bis hin zu Alain de Benoist zurück. Da Dugin viele ihrer Werke im Original lesen kann, ist ihm bei denen, die darauf hereinfallen, der Ruf eines polyglotten Intellektuellen zugewachsen. Mit seinen Ideen beliefert der „Philosoph“ Talkshows in Russland ebenso wie internationale Strategiekongresse der identitären Rechten.

Ideologe auf Abruf

Hat die politische Führungsriege um Putin gelegentlich Anregungen von ihm aufgegriffen, so hielt man doch zugleich Abstand: Zu exzentrisch und zu offen antidemokratisch fällt seine Theorie aus, als dass sie – zumindest bislang – unmittelbar Eingang in die politischen Sprachregelungen des Kreml hätte finden können. Als Propagandist russischer Weltmacht war er dennoch brauchbar, und so durfte der Studienabbrecher, gewiss dank politischer Patronage, eine Professur an der renommierten Lomonossow-Universität ausüben. Doch in Kriegszeiten verschieben sich die Akzente. Zwar klingt es reichlich übertrieben, wenn Micha Brumlik im März 2022 Dugin zum „Vordenker des Feldherren“ – gemeint ist Putin – erhebt. In dem Maß, wie die „Spezialoperation“ zum veritablen Landkrieg übergeht und sich der damit verbundene Konflikt mit dem Westen zuspitzt, steigt durchaus seine öffentliche Präsenz.

Ein klassischer Reaktionär

Den imperialistischen Ausgangspunkt bildet, bei Dugin wie etlichen anderen rechten Ideologen: die Wiedererrichtung verlorenener Großmacht. An der Ursachenforschung trennen sich die Wege. Dugin erweist sich als klassischer Reaktionär, insofern er die Schwäche Russlands im kulturellen Niedergang traditioneller Werte verortet. Für ihn zeichnet die Epoche der Moderne verantwortlich, die er wörtlich zur „Krankheit“ pathologisiert. Ausgelöst durch die Ursünde der Französischen Revolution, habe sie traditionelle Hierarchien in Familie und Gesellschaft, Keimzellen eines starken Staates, verkümmern lassen. Das nun sukzessive zur Selbstverwirklichung befreite Individuum sieht er zum Unglück verdammt, ist es doch eigentlich von Gott (oder einer vergöttlichten Natur) zur Einfügung ins große Ganze bestimmt, was für die einen Führen, für die anderen Gehorchen bedeutet, eben je nach gesellschaftlicher Stellung. Das Postulat der Aufklärung, gesellschaftliches Leben auf vernünftige Einsicht zu gründen – ein reiner Irrweg. Übrigens spannt Dugin die Vernunftkritik der Postmoderne für seine Zwecke ein: Wenn es viele Wahrheiten gäbe, müsse es doch auch eine „russische“ geben. Jedenfalls könne lediglich ein fundamentaler Bruch mit der Moderne den Niedergang stoppen. Stilgerecht inszeniert er sich selbst, bis hin zum äußeren Erscheinungsbild, als kulturkritischer Mahner.

Traditionalismus und Herrschaft

Seinem Vorbild Evola folgend, ergeht sich Dugin in der Glorifizierung vormoderner traditionaler Herrschaftsformen, zumindest wenn ihr Ursprung rassentheoretisch zertifiziert ist: „Jede Art des indogermanischen Erbes sollte wiederhergestellt werden“, verkündet gewissermaßen der „Arier“ in ihm, wobei der Begriff großzügig ausgelegt wird. Als funktionalistischer Anhänger von stabilen Gefolgschaftsverhältnissen kann er sich an diversen Kulturräumen erfreuen, sei es das hinduistische Kastensystem oder eine autoritär islamistische Herrschaft. In diesem Sinne sympathisiert er mit dem Mullah-Regime im Iran und soll persönliche Beziehungen zur Regierung Erdogan aufgebaut haben: Kräfte, die in seinen Augen exemplarisch auf dem Weg zu Retraditionalisierung und neuer nationaler Größe sind. In Russland sei die geistliche Macht der orthodoxen Kirche auszubauen, auf dass im Namen eines konservativ erneuerten Christentums dem Ungeist individueller, nicht zuletzt sexueller Befreiung der Kampf angesagt werde.

Dugin wäre nicht der erste Reaktionär, der sich selbst zum Freigeist stilisiert, dem niederen Volk hingegen unverbrüchlichen Schicksalsglauben ans Jenseits verordnet. Einem eher akademischen Publikum malt er seine staatliche Utopie mitunter als platonische Gelehrtenrepublik aus, vermeintliche Herrschaft der von Natur aus Klügsten. Gelegentlich zaubert er einen Ständestaat mit kriegerischer Führungselite hervor, deren Herrschaftsanspruch darauf fußt, dass sie „mit Todesverachtung kämpf(t)“. Heidegger lässt grüßen. Wer übrigens nicht zu den Klugen und Mutigen gehört, findet seine Erfüllung als Mitglied der arbeitenden Klasse.

Eurasische Rassenlehre

Der russische Anspruch auf Weltmacht ruht für Dugin auf dem Fundament einer bizarr anmutenden geschichtsphilosophischen Konstruktion. Motor der Weltgeschichte ist nämlich der ewige Kampf zweier antagonistischer Kulturräume. Für deren geradezu metaphysischen Gegensatz bemühten exilierte russische Intellektuelle in den Zwanziger Jahren die Metaphorik von See und Land. Dugin greift diese Gedanken auf und erweitert sie: Der angelsächsische Raum um den Atlantik herum hat die liberale kapitalistische Moderne erfunden, um das traditionale Gefüge anderer Territorien aufzuweichen. Zum Glück existiert ein Gegenspieler, der, wenngleich momentan etwas ins Hintertreffen geraten, am Ende den gerechten Sieg davon tragen kann: Es handelt sich um die Staatenwelt der „eurasischen“ Landmasse. Sie hat an sich einen erdverbundenen und traditionsbewussten Menschenschlag hervorgebracht – wären da nicht die teuflisch manipulativen Auswirkungen moderner Kultur, die es eben einzudämmen gilt. Der aus dem Westen importierte Kult des Individuums zersetzt in Dugins Augen kollektive Identitäten und macht Nationen damit wehrlos gegen jene Einwanderung, die sie noch weiter schwächt.

Die Rolle Europas in dieser chiliastischen Szenerie ist somit doppelbödig, schließlich ist es geografisch mit dem russischen Territorium verbunden. Zu seinem Schaden hat es sich den USA unterworfen, jedoch wäre ein Pfad zur Erlösung gegeben: Die Menschen Europas müssten ihre aristokratischen „eurasischen“ Wurzeln wiederentdecken. Als Verbündete in diesem Kulturkampf sieht Dugin die Neue Rechte in Deutschland, weshalb es bereits Treffen mit Alexander Gauland und anderen AfD-Leuten gegeben hat.

Annäherung an Trump

Milder gestimmt ist der Meister übrigens seit einiger Zeit auch gegenüber der Bevölkerung in den USA, was ziemlich exakt mit dem Aufstieg Trumps zusammenhängt. Von einer Bewegung, wie sie Steve Bannon repräsentiert, erhofft er sich einen Stimmungswandel im Machtzentrum des „atlantischen“ Raumes. Im Grunde hat Dugin seine geopolitische Zweiteilung längst entgrenzt und in einen internationalen Kulturkonflikt transformiert, sodass die Revolte gegen den Liberalismus zum weltweiten Projekt wird. Umgekehrt ist Russland in den letzten Jahren Sehnsuchtsort all jener geworden, die Dugins Ressentiment gegenüber der Emanzipation des Individuums teilen. Gemeinsam gilt es, gegen die „globalistischen Eliten‘“zu kämpfen, wie er im Interview mit Trump-Anhängerinnen sagt. In der weltweiten Bewegung traditionalistischer Revolutionäre käme Russland, dem Herz Eurasiens, natürlich eine Führungsrolle zu, wobei Dugin sich eher „ethnopluralistisch“ gibt und sein völkisches Subjekt nicht auf die ethnischen Russen begrenzt. Das Konstrukt „Eurasien“ erlaubt ihm, auch die nicht-russischen Ethnien der Föderation in seine Großmachtfantasien zu integrieren, ähnlich wie die NS-Rassenlehre im Bild des Ariers auch England oder Schweden als potenzielle Bündnispartner eingemeindete.

Wandel in der russischen Propaganda

Nachdem Putins „Spezialoperation“ der erhoffte schnelle Durchbruch nicht beschieden war, entschied sich die russische Regierung im September 2022 zögernd für eine teilweise Mobilmachung. Für den nun doch zu erwartenden Landkrieg bedarf es eines deutlich größeren militärischen Aufgebots, der Organisation einer entsprechenden Kriegswirtschaft und folglich auch einer geistig stabilen Heimatfront. Zunächst hatten der Staatsapparat und die ihm verbundenen Medien auf gängige diplomatische Titel gesetzt: Der Schutz der russischstämmigen Bevölkerung der Ukraine und anderer vor einer drohenden faschistischen Diktatur erfordere eine russische Version des „Regime Change“. In die Welt gesetzt worden war dieses Motiv schon seit 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew. Der historische Rückbezug auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ suchte, agitatorisch nicht ungeschickt, die Bevölkerung hinter einer Melange aus patriotischen und antifaschistischen Elementen zu vereinen.

Die Brigaden des Herrn Putin

Dabei hätte auffallen können, mit welch‘ illustren Bündnispartnern Putin seinen angeblichen Freiheitskampf führt: Der berüchtigte tschetschenische Warlord Ramsan Kadyrow darf als Gegenleistung für Vasallendienste beim Kreml ungestört seine Cliquenherrschaft in Tschetschenien ausüben. Jewgenij Prigoschin kommandiert jene Söldnerarmee, die man für militärische Drecksarbeit jenseits der Genfer Konvention mieten kann. Benannt wurde sie nach dem deutschen Komponisten und notorischen Antisemiten Richard Wagner. An die Front entsendet er bewährte Eliteeinheiten, aufgefüllt u.a. durch Mörder, Schläger und Vergewaltiger aus den Gefängnissen der Föderationsrepubliken, die gegen das Angebot schneller staatlicher Amnestie in den Soldatenrock schlüpfen bzw. die Rolle des Kanonenfutters spielen dürfen. Das Prinzip ist aus der französischen Fremdenlegion bekannt. Nachdem durchgestochen wurde, dass in der Wagner-Gruppe des Verrats verdächtigte Mitglieder zur Abschreckung üblicherweise mit dem Vorschlaghammer bearbeitet werden, machte Prigoschin diesen selbstbewusst zu seinem Markenzeichen, indem er in den Sozialen Medien mit einem solchen posierte. Besagte Geste wird seitdem von Mitgliedern des politischen Establishments in Russland übernommen – Index fortschreitender Verrohung.

Die geistige Mobilmachung

Flankiert wird die Mobilmachung von einer bemerkenswerten ideologischen Offensive. Die bisherige Erzählung wird nicht aus dem Verkehr gezogen, doch der Krieg in den weiteren Rahmen eines fundamentalen globalen Kulturkampfes zwischen dem liberal-dekadenten Westen und dem für konservative Werte stehenden Russland gesetzt. Dugin dürfte sich bestätigt fühlen, selbst wenn das von Putin verwendete nationalistische Motiv der „russischen Welt“ nicht völlig deckungsgleich mit seinem „eurasischen Raum“ ist. Aus beidem lässt sich gleichwohl die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland, also die Negation ihrer staatlichen Souveränität herleiten. Hier kommt ein weiterer Bündnispartner der russischen Regierung ins Spiel, die orthodoxe Kirche. Sie nimmt die ihr von Dugin und anderen reaktionären Kräften zugewiesene Rolle begeistert wahr und stellt sich fanatisch hinter den Krieg. Metropolit Kyrill hat sogar ein kirchenrechtlich gewagtes Ablassversprechen aufgestellt, wonach die Gefallenen der Spezialoperation unter Umgehung des Fegefeuers direkt ins Paradies paradieren. Die russische Regierung wiederum erfüllte der Kirche den langgehegten Wunsch nach einer Gesetzesverschärfung gegenüber Homosexuellen, zumal diese ja nicht nur Gottes Gesetze, sondern auch die Ansprüche männlichen russischen Soldatentums untergraben. Ganz im Sinne der Ideologie Dugins ist es übrigens, wenn Vertreter des orthodoxen Klerus‘ ihre Sympathien für den Islamismus entdecken, der sich Traditionen gegenüber loyaler verhalte als die liberal verweichlichten Gläubigen im Westen.

So haben seine Ideen Konjunktur, und das dürften auch diejenigen bemerkt haben, die es mit einer Autobombe auf ihn abgesehen hatten, durch Zufall jedoch seine Tochter erwischten: Sie hatte mit ihm den Platz in der Limousine getauscht. Vermutlich nahm die mutmaßlich proukrainische Gruppe ihren Tod in Kauf, zumal sie als Propagandistin der väterlichen Doktrin aktiv war. Während Putin am Begräbnis Gorbatschows aufgrund „eines anderen Termins“ nicht teilnahm, trat er bei dem von Darja Dugina öffentlichkeitswirksam an. Die Frage ist allerdings, wer da wen benutzt, die politische Elite Ideologen wie Dugin als gerade passende Stichwortgeber für den Burgfrieden? Oder instrumentalisiert die reaktionäre Rechte um Dugin den Krieg als Transmissionsriemen zur Popularisierung ihrer Ideen? Vielleicht besteht zwischen beidem ein dialektisches Verhältnis. Wie dem auch sei, der Rechtsruck schreitet voran.