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Schwerpunkt

Arbeitsniederlegungen für bessere Arbeitsbedingungen

Bildungsstreik in Berlin: Ein Erfahrungsbericht nach 17 Tagen auf der Straße

Die GEW BERLIN fordert seit September 2021 Tarifverhandlungen für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, mit dem unter anderem die Klassengrößen in Grundschulen auf 19 und ab Klasse 8 auf 24 Schüler*innen reduziert werden. Zudem soll pro 150 Jugendliche eine Stelle für Schulsozialarbeit und pro 2.000 Jugendliche eine Stelle für Schulpsychologie geschaffen werden. Foto: Christian von Polentz

Wie wäre es, wenn man statt für mehr Geld für bessere Arbeitsbedingungen streiken könnte? In Berlin gehen wir dafür seit über zwei Jahren auf die Straße. Denn obwohl ein höheres Entgelt sicherlich willkommen ist, sind die eigentlichen Probleme an den Schulen die überfüllten Klassen, die mangelnden Räume, die unzähligen zusätzlichen Aufgaben, die nichts mit dem Unterricht zu tun haben, die fehlende Sauberkeit und die unzureichende Ausstattung. Wenn wir mit unseren Kolleg:innen sprechen, dann wollen viele lieber für bessere Arbeitsbedingungen streiken als für ein höheres Entgelt. Doch das deutsche Streikrecht erlaubt es nicht, einfach so für diese Themen zu kämpfen. Die Gewerkschaftsforderungen müssen tarifierbar sein, und viele Aspekte sind bereits im Tarifvertrag der Länder geregelt, der eine Friedenspflicht vorsieht. Das bedeutet, dass die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeit, die für uns Lehrer*innen so wichtig sind, nicht ohne Weiteres bestreikt werden können. Und selbst wenn es zu Arbeitskämpfen kommt, hängt die Streikbeteiligung stark von der Existenz und dem Engagement von Betriebsgruppen an den einzelnen Schulen ab.

Kein Streik ohne uns

Als Lehrkräfte an der Nürtingen Grundschule in Berlin Kreuzberg wissen wir, wie wichtig es ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Unser Kollegium besteht aus knapp 60 Lehrkräften. Etwas mehr als zwei Drittel von uns sind angestellte Lehrkräfte. Ein Großteil davon ist in der GEW organisiert. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis kontinuierlicher gewerkschaftlicher Arbeit an der Schule. Wir haben aktive Gewerkschaftsmitglieder, Personalräte und politisch engagierte Kolleg*innen, die sich für die Beschäftigteninteressen einsetzen, Schule mitgestalten und sich in der Betriebsgruppe treffen. Das macht uns stark und solidarisch, wenn es um Arbeitskämpfe geht. Egal ob für das Gehalt oder für den Gesundheitsschutz, wir beteiligen uns immer mit hoher Streikbeteiligung an den Aktionen der GEW. Zwischen 20 und 30 Kolleg:innen sind bei jedem Streik dabei, sodass der Unterricht ausfällt und nur eine Notbetreuung möglich ist. Die Art der Beteiligung variiert. Einige Kolleg:innen gehen nur zu den Demos, andere machen Streikposten, Plakate oder Infostände für die Eltern. Wir wollen nicht nur mehr Geld, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen für uns und bessere Lernbedingungen für unsere Schüler:innen.

Die Vision einer gesunden Schule

Die GEW Berlin kämpft seit 2021 für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, um die Arbeitsbedingungen und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten im Bildungsbereich zu verbessern. Dazu gehören die Festlegung von Obergrenzen für die Größe von Lerngruppen, die Berücksichtigung von sozialen und pädagogischen Faktoren bei der Klasseneinteilung und die Regelung des Verhältnisses von Schüler:innen zu Sozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen. Nach 17 Streiktagen, an denen durchschnittlich 2500 Streikende teilnahmen, hat der Arbeitgeber, das Land Berlin, immer noch nicht mit uns verhandelt. Er versteckt sich hinter der Tarifgemeinschaft der Länder. Wir haben zwar noch nicht unser Ziel erreicht, die Klassengrößen zu reduzieren, aber wir haben es dem Arbeitgeber erschwert, Maßnahmen zu ergreifen, die unsere Situation noch verschlimmern würden. Wir sind uns bewusst, dass ein Tarifvertrag, der die Gruppengröße regelt, ein Novum und kein Selbstläufer ist. Aber wir sind auch überzeugt, dass Arbeitskämpfe nicht nur dazu dienen, unsere materiellen Interessen zu verteidigen, sondern auch unsere gewerkschaftliche Identität zu stärken.

Identität und Beteiligung stärken

Unser Ziel ist es, die Kolleg*innen zu politisieren, ihnen eine Stimme zu geben, gemeinsam für unsere Rechte zu streiten und solidarisch zu handeln. Wir möchten, dass sie verstehen, dass wir gute Arbeitsbedingungen nicht geschenkt bekommen werden, sondern sie erkämpfen müssen. Daher geht es uns nicht nur darum, unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern auch um die gewerkschaftliche Identitätsbildung. An den Schulen sehen wir, dass viele Kolleg:innen Streit und Debatten vermeiden, um die vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht zu gefährden. In den schulischen Gremien trauen sich viele nicht, ihre Meinung zu sagen. Wir stellen auch fest, dass die Kolleg:innen aufgrund der hohen Arbeitsbelastung nur wenig Kapazitäten haben, sich gesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass fast alle Errungenschaften, von denen wir als Beschäftigte profitieren, durch uns Gewerkschafter:innen in der Vergangenheit erkämpft und verhandelt wurden. Streiks und Arbeitskämpfe sollen dazu führen, dass sich Kolleg:innen politisieren, sich in und außerhalb der Schule zu politischen Themen äußern, für ihre Interessen aufstehen. Wir gehen in die Debatte, wir streiten, wir halten Streit aus und machen unseren Widerspruch sichtbar. Denn neben dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Entgelt geht es auch um die Stärkung unseres Klassenbewusstseins. In diesem Sinne: Organisiert euch, macht Druck und nehmt euer Streikrecht wahr, wenn eure Gewerkschaft euch dazu aufruft!