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Geschichte der GEW Teil 4

70 Jahre GEW - 190 Jahre Bremer Lehrervereine, Teil 4: Reformpädagogik und Sozialismus

Im August 1884 hatten sich 29 (zumeist jüngere) Kollegen aus der „Konferenz bremischer Volksschullehrer“ verabschiedet und den „Bremischen Lehrerverein“ (BLV) gegründet. Bereits drei Jahre später gehörten dem neuen Verein 223 Lehrkräfte an. Die von den Schulvorstehern dominierte „Konferenz“ tagte zwar weiter, der BLV war aber fortan der repräsentative Zusammenschluss der bremischen Lehrerschaft. Im Jahre 1905 waren hier 678 Lehrkräfte aus Volks- und Realschulen organisiert. (Die Gesamtzahl der Volksschullehrer betrug im selben Jahr 686.) Nachdem 1881 die ersten sechs weiblichen Lehrkräfte an Volksschulen eingestellt worden waren, hatte sich 1889 bald auch ein kleiner „Bremischer Lehrerinnenverein“ konstituiert.

Bremen wird zur Industriestadt
Das Wachstum des BLV spiegelte die Entwicklung der Stadt wieder: Nach dem Zollanschluss an das Deutsche Reich begann eine rasche Industrialisierung und die Bevölkerungszahl, die von 1850 bis 1890 von 57000 auf 125000 angestiegen war, verdoppelte sich bis 1905 noch einmal auf 245000. Wieder wurden neue Schulen und neue Lehrkräfte gebraucht. Bis 1914 wurde jedes Jahr mindestens eine neue Volksschule gebaut und für die Mittelschicht entstanden neue Realschulen. Das Lehrerseminar expandierte, aber angesichts des Wachstums der Stadt bestand Lehrermangel.

Mit der Zunahme der Industriearbeiterschaft gewann die Sozialdemokratie an Einfluss. Nach 1905 gehörte die Bremer SPD reichsweit zum äußersten linken Flügel, gestützt insbesondere auf die Belegschaft der Großwerft AG „Weser“. Außerdem kam es in Bremen nach 1900 immer häufiger zu Streikbewegungen. Auch diese Präsenz der Arbeiterbewegung hatte Einfluss auf die LehrerInnenschaft.

Die Entwicklung des BLV bis 1905
Der BLV tagte meist monatlich in der „Jacobihalle“ in der Langenstraße und hatte bald mehrere Arbeitskreise. In den großen Vereinsversammlungen wurden Referate gehalten und diskutiert. Dabei kamen auch - was neu war - auswärtige Referenten zu Wort. In den 90er Jahren wurden eine „Naturwissenschaftliche Sektion“ und ein „Litterarischer Verein“ gegründet. In beiden sammelten sich viele junge Absolventen des Seminars. Die naturwissenschaftliche Sektion orientierte sich an Darwin und Haeckel und verbreitete Auffassungen des Monismus. Der literarische Verein diskutierte die moderne realistische Literatur, u.a. von Ibsen, Zola, Hauptmann und Tolstoi. 1890 wurde ein „Jugendschriften-Ausschuss“ gegründet, ab 1893 gab es eine „Pädagogische Sektion“. Eine weitere Abteilung war seit 1897 der „Bremer Lehrergesangverein“.

Die Themen der im Plenum gehaltenen Referate und der Arbeitskreise zeigen überwiegend, dass in den 80er und 90er Jahren weiterhin - wie in der „Konferenz“ - pädagogische Fragen im Mittelpunkt der Arbeit standen. Hinzu kam die Beschäftigung mit weltanschaulichen Grundsatzproblemen in einigen Arbeitskreisen. Um die Jahrhundertwende mehrten sich Beiträge, die sich kritisch mir der kaiserzeitlichen Pädagogik auseinandersetzten. In dieser Kritik taten sich zwei junge Lehrer aus der Freischule an der Birkenstraße besonders hervor: F. Gansberg und H. Scharrelmann. 1902 erschienen ihre ersten beiden Bücher, „Plauderstunden“ (Gansberg) und „Herzhafter Unterricht“ (Scharrelmann). Die Titel deuten an, worum es ihnen ging. An die Stelle von Belehrung und Drill sollten Phantasie und Selbsttätigkeit der Kinder treten. Der Unterricht sollte „produktiv“ und „künstlerisch“ sein. Innerhalb weniger Jahre wurden diese beiden BLV-Mitglieder reichsweit bekannte Autoren und Wegbereiter der reformpädagogischen Strömung. Eine zweite Gruppe von Junglehrern näherte sich der Sozialdemokratie an. Ihr profiliertester Vertreter im BLV war W. Holzmeier. 1904 tagte in Bremen der Parteitag der SPD und auf der parallel stattfindenden sozialdemokratischen Frauenkonferenz hatte Clara Zetkin die einheitliche, weltliche und unentgeltliche Schule gefordert. Diese Forderung fand, vertreten durch Lehrer wie W. Holzmeier, H. Schulz, E. Sonnemann, H. Eildermann und J. Knief, auch Eingang in die Diskussionen des BLV. Im Juni 1905 gründeten beide Kreise gemeinsam die Zeitung „Roland. Organ für freiheitliche Pädagogik“ mit einer Auflage von 1200 Exemplaren. Hier entwickelten sie ihre Grundsätze und kommentierten in den folgenden Jahren die Konflikte um Schulaufsicht, Religionsunterricht, pädagogische Freiheit und politische Betätigung der Lehrkräfte, die im selben Jahr begannen.

Der BLV im „Bremer Schulstreit“ (1905-1910)
Anstoß für die Protestbewegung war die autoritäre und religiös orthodoxe Amtsführung des 1892 vom Senat berufenen Schulinspektors Köppe. Von Beginn an hatte es Beschwerden aus den Schulen über seine Hospitationen gegeben, in denen er oft zurechtweisend in den Unterricht eingriff. Am 01. Mai 1905 fand im Gewerbehaus eine „allgemeine bremische Lehrer- und Lehrerinnenversammlung“ mit ca. 425 TeilnehmerInnen statt, zu der die vier Verbände (BLV, Lehrerinnenverein, Konferenzen der Stadt- und Landschullehrer) gemeinsam aufgerufen hatten. Sie beauftragte einen Ausschuss, eine Beschwerde gegen Köppe und einen Antrag auf Entfernung des Religionsunterrichts aus den Schulen zu formulieren. Eine zweite Versammlung am 22. Mai verabschiedete die Beschwerde gegen den Schulinspektor fast einstimmig. Nachdem über den zweiten Auftrag im Ausschuss Meinungsverschiedenheiten aufgetreten waren und nichts beschlossen werden konnte, formulierte W. Holzmeier die Denkschrift „Religionsunterricht oder nicht?“, die am 04. September auf einer dritten Versammlung mit 273:43 Stimmen verabschiedet wurde.

Diese Resolution einer repräsentativen Lehrerversammlung mit der Forderung nach der weltlichen Schule provozierte im ganzen Deutschen Reich scharfe Kommentare pro und contra. Die von den Schulvorstehern dominierte „Konferenz“ distanzierte sich nachträglich von der Denkschrift. Die Landschullehrerkonferenz blieb neutral. Der Lehrerinnenverein billigte sie fast einstimmig, ebenso der Bremerhavener Lehrerverein. Auf der Hauptversammlung des BLV am 04. April 1906 wurden die Sprecher der Protestbewegung - fast identisch mit der Redaktion des „Roland“ - allesamt in den Vereinsvorstand gewählt. Vorsitzender wurde H. Lüdeking, ein sozialistisch orientierter Lehrer. Unterstützung bekamen die Bremer im Religionsstreit von der „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“, dem größten Hamburger Lehrerverein. Beide Vereine einigten sich auf einen Antrag an die „Deutsche Lehrerversammlung“, die Pfingsten 1906 in München stattfand. W. Holzmeier begründete ihn unter Protesten und Beifall. Nach sechsstündiger Debatte und bei einer Rednerliste von 47 noch nicht gehaltenen Beiträgen blieben die Antragsteller isoliert. Man warf ihnen vor, mit ihrem Radikalismus den klerikalen Kräften in die Hände zu arbeiten.

Disziplinarverfahren und Entlassungen
Auch in Bremen blieb die Reaktion auf die Forderungen des BLV nicht lange aus. Nachdem die Beschwerde gegen Schulinspektor Köppe vom Senat abgewiesen worden war, fanden 1906 zwei weitere Lehrerversammlungen statt, deren Protest gegen diesen Bescheid veröffentlicht wurde. Jetzt wurden vom Senat Disziplinarverfahren gegen W. Holzmeier, F. Gansberg, H. Lüdeking und H. Gartelmann eingeleitet. Dieser „Köppe-Prozess“ vom März 1907 endete mit einem Verweis und einer Geldstrafe. Wenig später ließ sich der Schulinspektor in den Ruhestand versetzen. Das nächste Disziplinarverfahren richtete sich Anfang 1908 gegen H. Scharrelmann, der im BLV und öffentlich die Abschaffung des Vorsteher-Amtes und die Wahl des Schulleiters durch die Lehrerkonferenz gefordert hatte. (Nach der Übernahme dieser Forderung durch die Vereinsversammlung trat die Mehrheit der Vorsteher aus dem BLV aus.) Scharrelmann wurde mit einer Geldbuße bestraft. Da ihm ein weiteres Verfahren drohte, quittierte er den Dienst und arbeitete fortan als freier Schriftsteller.

Das folgenschwerste Verfahren wurde im Februar 1909 gegen W. Holzmeier eröffnet. Inzwischen hatte der Lehrerverein seit Februar 1908 einen neuen Vorstand. Als Vorsitzender war C. Karrenberg gewählt worden, ein Vertreter der „Gemäßigten“, die eine zu große Nähe des BLV zur Sozialdemokratie befürchteten. Nachdem Holzmeier eine Anfrage an den neuen Vorstand gerichtet hatte, wie er zu den Beschlüssen von 1906/07 stünde und dabei scharfe Worte gegen die Behörde und die „Konferenz“ gewählt hatte, nahm die Behörde diesen im „Bremer Tagblatt“ veröffentlichen Text zum Anlass, ein Verfahren einzuleiten. Dieses änderte wiederum die Verhältnisse im BLV. Nach der Verabschiedung einer Solidaritätserklärung für Holzmeier trat der Vorsitzende Karrenberg zurück und die „Radikalen“ mit H. Lüdeking als Vorsitzendem bildeten wieder die Vorstandsmehrheit. Trotz der Proteste des BLV wurde Holzmeier im Februar 1910 entlassen. Am Abend der Disziplinarverhandlung entschlossen sich ca. 30 sozialdemokratische BLV-Mitglieder zu einer Provokation. Sie sandten „aus Anlass der Dienstentlassung“ ein Geburtstagstelegramm an den SPD-Vorsitzenden August Bebel. Die hierdurch hervorgerufene Polarisierung war enorm. C. Karrenberg berief eine Lehrerversammlung mit ca. 450 Teilnehmern ein, die sich vom Telegramm distanzierte. Die „Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung“, Organ des Deutschen Lehrervereins, unterstützte gar das behördliches Vorgehen. Die Bremer SPD dagegen organisierte eine Versammlung mit 3500 TeilnehmerInnen, auf der W. Holzmeier sprach, und eine Protestdemonstration durch die Stadt mit ca. 10000 TeilnehmerInnen. Die Unterzeichner des Telegramms, die denunziert worden waren, bekamen Disziplinarstrafen. Entlassen wurden E. Sonnemann, H. Rumpf und C. Döring. Suspendiert mit halbem Gehalt wurde H.Ostersehlte.

Nach diesen dramatischen Ereignissen trat in der Bremer Schulpolitik eine trügerische Ruhe ein, die - bedingt durch den Ersten Weltkrieg - bis zum November 1918 andauerte. Erst danach wurden die Positionen und Forderungen wieder aufgegriffen, die 1905/06 von einer kleinen Gruppe erarbeitet worden waren und im BLV eine Mehrheit gefunden hatten. Sie sind zum Teil auch heute noch von einer erstaunlichen Aktualität.

Aus Resolutionen und Beschlüssen

Beschwerdeschrift gegen den Schulinspektor, 22.05.1905
... Die bremischen Schulen erfreuten sich eines guten Rufes; die Lehrer arbeiteten, von unvermeidlichen Ausnahmen abgesehen, mit Freude, Eifer und Geschick. Sie pflegten ein reges Vereinsleben und verfolgten die pädagogischen und die sonstigen wichtigeren geistigen Bestrebungen der Zeit. Dieser Lehrerschaft nun trat der Herr Schulinspektor bei seinen amtlichen Besuchen durchweg so entgegen, als ob sie aller Berufstüchtigkeit und aller Pflichttreue bar seien. Und so ist es geblieben. Pedanterie, Polizeigeist, Kleinigkeitskrämerei treiben ihr Wesen. Ein schief hängender Stundenplan, eine versäumte Eintragung ins Klassenbuch, ein beim Korrigieren übersehener Fehler sind Kapitalverbrechen. (...) Der Herr Schulinspektor nimmt sogar keinen Anstand, auch in der Klasse vor den Ohren und Augen der Kinder in der anstößigsten Art den Lehrer zu hofmeistern, zurechtzuweisen und anzufahren ... Nicht zu rechtfertigen ist auch die schroffe, barsche, oft maßlos heftige Art und Weise, in welcher der Herr Schulinspektor die Kinder anzureden pflegt. Es ist nicht selten vorgekommen, daß die Kinder darüber in Tränen ausgebrochen sind ...

Religionsunterricht oder nicht? Denkschrift der bremischen Lehrerschaft, 04.09.1905
... Die Schule ist eine Veranstaltung des Staates; Religion aber ist Privatsache. Diese beiden Grundsätze sind im wesentlichen vom modernen Staat bereits anerkannt. Der Staat nimmt das Recht der obersten Aufsicht über das gesamte Unterrichtswesen für sich in Anspruch und zwingt alle seine Angehörigen zum Besuch der öffentlichen oder vom Staat anerkannten Schulanstalten. Dagegen verlangt er von seinen Angehörigen nicht das Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensrichtung und macht ihre bürgerlichen Rechtsverhältnisse nicht von einem solchen Bekenntnis abhängig. Protestanten, Katholiken, Juden und solche Bürger, die keiner kirchlichen oder religiösen Gemeinschaft angehören, genießen in Deutschland dieselben staatsbürgerlichen Rechte. Dieser Zustand ist Ausdruck des Prinzips der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Insofern der Staat dieses Prinzip anerkennt, gibt er zu, daß er kein Interesse daran hat, welcher Glaubensrichtung seine Glieder angehören. Damit fällt aber für ihn auch das Recht weg, seinen Angehörigen in den öffentlichen Schulen durch seine bestellten Organe eine bestimmte Glaubensrichtung zu vermitteln und den Unterricht im Sinne einer solchen Glaubensrichtung erteilen zu lassen. ...

Resolution zur pädagogischen Reformbewegung, 09.01.1907
1) Die im Verein unter der Führung der Herren Gansberg, H. Scharrelmann, Eildermann usw. betriebene und gepflegte pädagogische Reformbewegung ist verdienstlich und wird der Entwicklung des bremischen Schulwesens zum Vorteil gereichen. - 2) Denn sie wendet sich, wie gegen die Vergewaltigung der persönlichen Eigenart der Kinder und der Lehrer überhaupt, so insbesondere gegen das gebräuchliche Drill- und Pauksystem im Schulbetriebe und gegen eine Handhabung der Schulaufsicht im Sinne dieses Systems ...
4) Der Verein stellt mit Bedauern fest, daß die Behandlung von Reformbestrebungen von Seiten der aufsichtsführenden oder sonst übergeordneten Stellen durchweg eine solche ist, daß sie einer Ächtung der ganzen Richtung und ihrer Träger gleichkommt. ...

Resolution gegen das Disziplinarverfahren Holzmeier, 19.05.1909
Anläßlich des gegen den Kollegen Holzmeier eröffneten Disziplinarverfahrens gibt der Bremische Lehrerverein folgende prinzipielle Stellungnahme kund:
Erstens: Meinungsäußerungen, welche in Versammlungen eines freien Lehrervereins gemacht und durch die Presse verbreitet werden, dürfen nicht auf Grund des Disziplinarverfahrens geahndet werden. Sollten solche Meinungsäußerungen tatsächlichen Verhältnissen widersprechen, so ist der Urheber vor den bürgerlichen Gerichten abzuurteilen.
Zweitens: Die Vorschrift der Schulordnung, daß der Morgenunterricht in den bremischen Schulen mit Gesang und Gebet zu eröffnen ist, schließt für diejenigen Lehrer, welche nicht auf christlich-dogmatischem Standpunkte stehen, einen Gewissenszwang ein und ist deshalb aufzuheben.

Schulaufsicht und Schulleitung. Thesen des Vorstandes, April 1910
Das Amt des Schulvorstehers (Rektors) im jetzigen Sinne ist abzuschaffen.
Die Verantwortung für die Leitung der einzelnen Schule übernimmt das Kollegium. Als Präsident bei den Konferenzen und zur Erledigung der geschäftlichen Angelegenheiten wird ein Lehrer bestellt und zwar unter Mitwirkung des Kollegiums und der Lehrerschaft.
Allgemeine Richtlinien und Grundsätze für die Schulverwaltung und Schulleitung werden von der Behörde im Verein mit einer geeigneten Vertretung der Lehrerschaft festgesetzt.
Inspektionen der Behörde wären im Verein mit Vertrauensleuten der Lehrerschaft und ihrer Vertretung vorzunehmen.
Als erste Schritte auf dem Wege zu den gekennzeichneten Zielen sind anzusehen: die Aufhebung der Vorsteher(Rektor)-Prüfung und die Gewährung des Beschlußrechtes für die Konferenzen der einzelnen Schulen.