Die von der Bürgerschaft eingesetzte Expertengruppe zur Evaluation des Bremer Schulsystems hat am 05. März ihre Ergebnisse vorgelegt. Schon vorher hatte die GEW-Fachgruppe Oberschule ihren „Evaluationsbericht von Praxisexpert*innen“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein Vergleich beider Untersuchungen zeigt große Übereinstimmung in den Befunden, aber auch große Unterschiede in den daraus gezogenen Konsequenzen. Die folgenden Zitate aus den beiden Untersuchungen zeigen dies.
Aus den Befunden:
Ungleichmäßige Entwicklung:
Evaluationsgruppe: „Rund 70 Prozent der Erstwunschanmeldungen an den weiterführenden Schulen richten sich auf den Besuch einer Oberschule, 30 Prozent auf das Gymnasium. … Gleichwohl variiert die Schulnachfrage erheblich auf Ebene der einzelnen Schulen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Oberschulen mit und Oberschulen ohne eigene Oberstufe. Während die Gruppe der Oberschulen ohne Oberstufe in allen Jahren seit Einführung der neuen Schulstruktur eine Unternachfrage aufwies, waren die Oberschulen mit eigener Oberstufe übernachgefragt.“ (Siehe Abb. 1)
GEW-Fachgruppe: „Die Oberschule, die inhaltlich weitgehend dem Konzept der Gesamtschule entspricht und ihre Schüler*innen zu allen Bildungsabschlüssen einschließlich des Abiturs führen soll, hat sich auch zehn Jahre nach ihrer Einführung nicht zu einer einheitlichen Schulform entwickelt: Während sich Oberschulen mit eigener Oberstufe in bürgerlichen Stadtteilen einer hohen Akzeptanz in der Elternschaft erfreuen, drohen andere Oberschulen in sozial benachteiligten Stadtteilen sich zu Restschulen zu entwickeln.“
Soziale Herkunft und Bildungserfolg:
Evaluationsgruppe: „In Bezug auf die Entwicklung soziokultureller Disparitäten zeigt sich, dass die Herkunftsmerkmale der Schülerinnen und Schüler auch nach der Reform eng mit dem individuellen Bildungsverlauf und Bildungserfolg zusammenhängen.“
GEW-Fachgruppe: “Die Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungsabschluss wird durch das Zwei-Säulen-Modell nicht aufgehoben, sondern bestätigt.“
Ausstattung:
Evaluationsgruppe: „Insbesondere im Bereich der personellen, aber auch hinsichtlich der räumlich-materiellen Ausstattung werden seitens der Schulen zum Teil erhebliche Engpässe und Bedarfe gesehen. Dies gilt in besonderem Maße für Schulen in herausfordernden sozialen Lagen und für die Umsetzung der Inklusion.“
GEW-Fachgruppe: „Faktischer oder verschleierter Unterrichtsausfall, die Doppelbetreuung oder Aufteilung von Klassen, die Fluktuation von Vertretungskräften wie Bachelor- oder Masterstudierenden führen zu Diskontinuitäten u. Qualitätsverlusten im Unterrichtsprozess.“
Inklusion:
Evaluationsgruppe: „Die inklusionsbedingte Belastung wird durchgängig als hoch wahrgenommen. Die Probleme aufgrund des Fachkräftemangels und der damit einhergehenden unbesetzten Stellen sowie eine mangelhafte Ausstattung sowohl mit Förderressourcen als auch mit Lehrkräften werden beklagt. Kritisiert werden fehlende Kooperationszeiten und die als problematisch zu bewertende Verwendung sonderpädagogischer Ressourcen für die Vertretung von Unterricht. Hier bedarf es entsprechend eingehender Prüfungen des Ressourceneinsatzes.“„Kritisch bewertet wird die Unterstützung von Seiten der Bildungsverwaltung, die sich nach Einschätzung der Befragten nicht in top-down verordneten Steuerungsmaßnahmen, sondern in verbindlichen Rahmenkonzepten (u.a. inklusive Curricula, Lern- und Arbeitsmaterialien, Übergangsgestaltung, multiprofessionelle Kooperation) niederschlagen sollte, an deren Entwicklung die ZuP-Leitungen, Lehr- und Fachkräfte beteiligt werden wollen.“
GEW-Fachgruppe: „Die angestrebte sonderpädagogische Versorgung im Umfang von 3 Stunden pro Kind wird nicht gewährleistet. Die Minimalstandards hinsichtlich Förderstunden, Doppelbetreuung, Lerngruppengröße werden durchgängig unterschritten. Die Regelschulkolleg*innen fühlen sich mit den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf „alleingelassen“ und fachich überfordert. Die Fortbildungsangebote und Kooperationszeiten für das nichtunterrichtende Personal (z.B. Assistenzen) sind unzureichend. Es fehlen Kooperationszeiten für die gemeinsame Planung im Team von Regelschulkolleg*innen und Sonderpädagog*innen“.„Es gibt eine völlig unzureichende behördliche Anleitung, Begleitung, Steuerung und Unterstützung des Schulreformprozesses, auch bedingt durch fehlende personelle Kapazitäten in der Schulbehörde des Stadtstaates.“
Tests und Vergleichsarbeiten:
Evaluationsgruppe: „Zwar kommen in Bremen bereits verschiedene Verfahren wie Vergleichsarbeiten, zentrale Abschlussprüfungen und die Bereitstellung schulstatistischer Daten zur Anwendung. Der Einsatz erfolgt jedoch oftmals unverbunden, unsystematisch und überwiegend ohne hinreichende Überprüfung der Wirkungen von Maß-nahmen, die aus den Ergebnissen abgeleitet wurden. Entsprechend wird der wahrgenommene Nutzen der Verfahren auf Seiten der Schulen bislang überwiegend als gering eingeschätzt.“
GEW-Fachgruppe: „Die unzähligen Vergleichstests haben zu keiner Verbesserung der Unterrichtsqualität geführt.“
Beurteilung des Gesamtsystems:
Evaluationsgruppe: „Ein sehr hoher Anteil der Schulleitungen an den Oberschulen (über 90 Prozent) und Grundschulen (über 80 Prozent) spricht sich darüber hinaus für ein gänzlich ungegliedertes Schulsystem aus.“
GEW-Fachgruppe: „Es bleibt aber zu befürchten, dass perspektivisch das Festhalten an zwei Schulformen einer echten Chancengerechtigkeit im Wege steht. Nur eine Schule für alle kann diese für alle Kinder im Bundesland Bremen ermöglichen.“