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Bildung und Gesellschaft

Einheits- und/oder Richtungsgewerkschaft?

Spekulationen über die aktuelle Bedeutung von Gewerkschaftsformen und mögliche Auswirkungen auf die Kooperationsbereitschaft im DGB

Foto: Karsten Krüeger

Dieser Artikel stellt die Entwicklung verschiedener Gewerkschaftsformen dar und fragt nach deren Bedeutung für die aktuelle und zukünftige Entwicklung von GEW und ver.di.

Entstehung von Gewerkschaften

Während Angestellte aus Bildung und Wissenschaft noch 100 Jahre auf die Gründung der GEW warten mussten, entstanden um 1848, während der Märzrevolution, die ersten deutschen Gewerkschaften. Auch einer der Vorläufer der GEW – der Allgemeine Deutsche Lehrerverein – gründete sich 1848. Sozialer Status trennte Lehrervereine noch von den Berufsgewerkschaften und Arbeiterbewegungen. Die Gewerkschaften wuchsen rasant und vereinigten sich.

Gewerkschaften in der Weimarer Republik

In der frühen Weimarer Republik – erschüttert durch Regierungskrisen, Massenunruhen und Putschversuche – befanden sich die Gewerkschaften im Höhenflug, mit riesigen Mitgliederzuwächsen. Die Idee der gegenseitigen Hilfe, auch durch Rechtsschutz und Fortbildungen, wurde als genossenschaftliche Funktion von Gewerkschaften mitgeprägt. Gewerkschaften waren auch politische Verbände, die mit parlamentarischer Unterstützung durch Parteien, aber auch mit politischen Streiks politisch Einfluss nehmen wollten. Viele Richtungs- und Berufsgewerkschaften wurden zu Richtungs- und Industriegewerkschaften. Aber was sind Berufs-, Industrie- und Richtungsgewerkschaften?

Gewerkschaftsformen

Gewerkschaften können auf der weltanschaulichen und der arbeitsmarktbezogenen Ebene jeweils unterschiedlichen Prinzipien folgen. Die meisten Gewerkschaften in der Weimarer Republik blieben auf der weltanschaulichen Ebene Richtungsgewerkschaften, während sie auf der arbeitsmarktbezogenen Ebene von vielen Berufs- zu wenigen Industriegewerkschaften verschmolzen. Einheits- und Richtungsgewerkschaften bezeichnen dabei unterschiedliche weltanschauliche Prinzipien. In Richtungsgewerkschaften ist die parteipolitische oder weltanschauliche Orientierung entscheidender für die Mitgliedschaft als der Beruf. In der Weimarer Republik gab es zum Beispiel sozialdemokratische, sozialkatholische und sozialliberale Richtungsgewerkschaften. Einheitsgewerkschaften organisieren Arbeitnehmer dagegen unabhängig von weltanschaulichen, religiösen oder politischen Werten. Berufs- und Industriegewerkschaften bezeichnen wiederum arbeitsmarktbezogene Prinzipien. Während Berufsgewerkschaften, wie die Gewerkschaft der Polizei (GdP) oder weitestgehend die GEW – vor ihrer Reform zur allgemeinen Bildungsgewerkschaft – nur Arbeitnehmer eines Berufes organisieren, sind es bei Industriegewerkschaften, wie der IG-Metall, Arbeitnehmer einer Branche oder Industrie. Multibranchengewerkschaften, wie ver.di, umfassen mehrere Branchen.

Organisation im DGB

Nach dem Krieg setzte sich das Prinzip der Industrie- und Einheitsgewerkschaft gegenüber der Richtungsgewerkschaft durch. Im DGB blieb den Gewerkschaften relativ viel Macht erhalten. Das zeigt sich in der Konkurrenzausschlussklausel, nach der Gewerkschaften nur DGB-Mitglied werden sollten, wenn nicht schon eine DGB-Gewerkschaft die gleichen Arbeitnehmergruppen vertritt, und darin, dass DGB-Gewerkschaften die untereinander festgelegten Organisationsabgrenzungen nur einvernehmlich ändern können. So verhinderte zum Beispiel die ÖTV 1952 den Beitritt der GdP, da diese in Konkurrenz zur Fachgruppe Polizei im ÖTV (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) stand. 1978 gelang der GdP dann doch der Beitritt.

Der Dienstleistungssektor wächst

Der zwischen 1969 und 1988 stark wachsende Dienstleistungssektor, mit dem gewerkschaftliche Organisationsgrade nicht mithalten konnten, wirkte sich sehr unterschiedlich auf die Gewerkschaften aus – mitunter, da diese an ihren ursprünglichen Organisationsabgrenzungen festhielten. Die IG Metall und die ÖTV wuchsen stark. Auch die GEW profitierte. Anderen, wie der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, blieb nur die Fusion mit ressourcenstarken Gewerkschaften. Gewerkschaftsfusion, weitere organisatorische Konzentration, Mitgliederschwund und Finanzkrisen begleiteten viele Gewerkschaften durch die 1990er. Genossenschaftliche Funktionen, wie der Rechtsschutz, wurden in Sparmaßnahmen reduziert (Ausnahme GEW).

Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft

Angesichts der geringen Organisationsgrade im Dienstleistungssektor wurde 2001 die größte Neuordnung der deutschen Gewerkschaften nach dem Krieg besiegelt – die Fusion von fünf DGB-Gewerkschaften zu einer einheitlichen Dienstleistungsgewerkschaft. So entstand ver.di mit 2,9 Millionen Mitgliedern, einem Apparat von mehr als 5.000 Funktionären und einem Jahresbudget von 475 Millionen Euro. Am Ende dieser Konzentrations- und Fusionsprozesse vereinigten drei Multibranchengewerkschaften 80 Prozent aller Mitglieder und setzten durch Zentralisierung von Ressourcen und Personal neue Maßstäbe für Gewerkschaftsarbeit. Die GEW schloss sich der Fusion zu ver.di nicht an – obgleich es besonders in Bereichen wie Kinder- und Jugendhilfe sowie Hochschule durchaus Fusionsbefürworter gab. Stattdessen kooperiert sie mit ver.di in der Tarifpolitik und Lobbyarbeit. Es lässt sich aber vermuten, dass bei Kooperation zwischen so unterschiedlich großen Gewerkschaften auch Machtgefälle entstehen.

Zurück zur Richtungsgewerkschaft?

Nach aller Ressourcenbündelung bleiben Fragen nach Mitbestimmung, Identität und Repräsentation in großen Multi-branchengewerkschaften. Rückgängige Mitgliederzahlen mögen auch auf sinkender Repräsentation beruhen – ver.di verzeichnete, seit Gründung, nur im Jahr 2013 einen Mitgliederzuwachs. Ein Ausweg könnte eine Repolitisierung sein, die die Mitglieder hinter einer gemeinsamen Weltanschauung vereint und das gesamtverbandliche Handeln legitimiert. Das wäre die Rückkehr zur Richtungsgewerkschaft, wie sie in der Weimarer Republik vorherrschte.

Konkurrenz im DGB

Was die Konkurrenzausschlussklausel verhindern sollte, nämlich dass Gewerkschaften im DGB um Berufsgruppen konkurrieren, ist durch ver.di im DGB selbst entstanden – trotz entsprechender Beitrittsprotokolle, die den Sachverhalt regeln sollten. Zwischen ver.di und der GEW zeigt sich das zum Beispiel bei den Erziehern im TVÖD. Die GEW hatte den Ruf der Lehrergewerkschaft auch noch nach der Reform zur allgemeinen Bildungsgewerkschaft. Doch Beschäftigte aus KiTa, Jugendhilfe, Berufsbildung, Weiterbildung, Hochschule und Forschung machen nach eigenen Angaben nun circa 40 Prozent der Mitglieder der GEW Bremen aus.

Gewerkschaftsformen kollidieren

Ver.di leitet ihre Zuständigkeit für die Gruppen, die sie vertritt, von ihrer Rolle als Dienstleistungsgewerkschaft ab und die GEW von ihrer Rolle als Bildungsgewerkschaft. Bei Erziehern, in der Berufsbildung oder Hochschule überschneiden sich dann die Zuständigkeiten der großen Multibranchen- mit der kleinen Branchengewerkschaft. Konkurrenzkonstellationen zwischen ver.di und der GEW sind also auch das Produkt miteinander in Konflikt stehender Gewerkschaftsformen und sich verändernder Strukturen im DGB. Im Tarifkampf stehen beide Gewerkschaften zusammen, aber sie verwenden trotzdem Ressourcen für Konkurrenz zueinander. Während ver.di, angesichts ihrer Größe, mehr Ressourcen hat, kann die GEW als Bildungsgewerkschaft mit Qualität statt Quantität, unter anderem in berufsspezifischer Vertretung und Fortbildung, punkten. Als Bildungsgewerkschaft könnte die GEW in der Klimaschutzpolitik ihr Profil stärken.

Bildung für sozialgerechte Transformation

Unter den Fridays findet man durchaus Aktivisten, die das Potenzial der Gewerkschaften sehen, ökologische Transformation sozialgerecht zu gestalten. Bei Fridays For Future wird ver.di aber viel stärker wahrgenommen als die GEW, weil ver.di sich konzertiert und umfangreich an Klimastreiks beteiligt hat – obwohl die GEW die Klimastreiks in Wort und hin und wieder auch in Tat unterstützt. Würde die GEW das Thema aus einer gewerkschaftlichen Perspektive aufgreifen – durch Bildungsmaterialien oder ähnliche Angebote für Lehrer und Erzieher, die die GEW ja bereits anbietet – dann könnte die GEW gleichzeitig ihre genossenschaftliche Funktion ausbauen und eine aktivere Rolle in der sozialgerechten Gestaltung der ökologischen Transformation erlangen. Beim Beispiel Bildungsmaterialien finden sich wahrscheinlich sogar Umweltverbände, die bereit wären, mit der GEW gemeinsam Materialien zu erstellen. Die GEW wäre dann etwas mehr als Richtungsgewerkschaft aktiv, also politischer, könnte aber auch solidarisch zu sozialgerechten Transformationsprozessen beitragen.

Das Profil der GEW

Zusammengefasst scheinen Gewerkschaftsformen die Arbeitsweise von Gewerkschaften und zu einem gewissen Grad die aktuelle Kooperation im DGB beständig zu beeinflussen. Ver.di kann als Multibranchengewerkschaft auf Ressourcenbündelung setzen. Als Richtungsgewerkschaft könnte sie ihre Mitglieder auch durch gemeinsame Werte vereinen. Die GEW hat auch gemeinsame Werte, aber sie kann als Branchengewerkschaft auch besonders mit branchenspezifischen Angeboten glänzen, wie die genannten Unterrichtsmaterialien und Seminaren. Dabei schaden weitere Bündnisse wahrscheinlich auch nicht.