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Kernfragen der GEW Teil 18

Die Stärke unserer Organisation

Die Analyse von „Kernthemen der GEW“ ermutigt zum Handeln

Bernd Winkelmann, ehemaliger GEW Landesvorstandssprecher
Bernd Winkelmann, ehemaliger GEW Landesvorstandssprecher (1999-2019)

*Was bringt´s?´ und `Ändert sich über die Jahre überhaupt etwas?´ lauteten die verdichteten Fragen zum Auftakt dieser Serie. Stellvertretend für die öffentliche Debatte wurden diese in einem Problemaufriss aus bildungspolitischen Gesprächen einer Senioren-Fußballmannschaft eingebracht. Drei Jahre ist das her. Zum Fußballteam ist zu sagen, dass es unter Achtung der Coronaregeln für Freizeitsport im Verein, mittlerweile geimpft und geboostert, auch quälende Monate überstanden hat, in denen vieles untersagt war. Nun rollt der Ball wieder und Zuversicht gewinnt an Raum.

Für die Beantwortung der Eingangsfragen ist dies ebenso eine angemessene Stimmung. Mit den bisherigen 17 Folgen unserer Serie sind Überlegungen zu wesentlichen Themen gewerkschaftlicher Arbeit ausgeführt und eingeordnet worden. Nun gilt es, anhand einiger zugespitzter Aussagen einen Blick – um ein letztes Mal im sportlichen Metier zu bleiben – im besten Rehagel´schen Sinne in „kontrollierter Offensive“ in die Zukunft zu werfen.

Kernaussagen

Zunächst also zu Gedanken, die sich durch die Texte ziehen.

(1)  Die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung tobt, auch wenn sie mancherorts ignoriert wird.

 Wir sprachen in den Texten über vorenthaltene Menschenrechte, insbesondere dem auf Bildung, und zeigten auf, dass ihre Armut Menschen daran hindert, Chancen überhaupt ergreifen zu können. Was den Einzelnen als individuelles Versagen untergeschoben werden soll, ist ein Merkmal des kapitalistischen Systems.

(2)  Schulreform ist Freiheitskampf

 Diese Aussage, formuliert unter den noch sehr nahen Erlebnissen des Faschismus, gilt weiterhin. Strukturen, Inhalte, Räume und Ressourcen sind maßgeblich, sollen die Individuen sich in der sozialen Einbindung entfalten können. Der mehrfach beschriebene Mangel ist das Ergebnis gewollter (Fehl-) Entscheidungen. Privilegien werden zäh verteidigt.

(3)  Bildung eröffnet den Zugang zur Welt

Es ist nicht gleichgültig, was in den Einrichtungen gelehrt und gelernt wird, ob es um inhaltsfreie Kompetenzen geht oder die Durchdringung der Widersprüche in unserer Gesellschaft. Ebenso wenig ist es nicht belanglos, inwieweit es gelingt, ein Klima der Achtung und des Wohlwollens zu erzeugen.

(4)  Die Überzeugungen der Jugend sind uneinheitlich

Verschiedenste Quellen zeigen, in welcher Bandbreite junge Menschen ihr Leben ausrichten, welche differierenden politischen Einschätzungen sie favorisieren, wie sie eine Gesellschaft der Zukunft ausgestaltet sehen wollen. Viele der neuen Kolleg*innen in unserer Gewerkschaft gehören diesen Jahrgängen an! Ihnen steckt, so teilen sie wiederholt mit, Bologna in den Knochen, mit seinem partialisierten Lernverständnis des Zerstückelns anstatt des Erkennens von Zusammenhängen. Die Angebote in ihrem Studium waren oftmals eingeengt, eine gesellschaftswissenschaftliche Einordnung fehlte.

(5) Die GEW: generationenübergreifend kampfkräftig

Pädagog*innen, so sie ihren Auftrag recht verstehen, müssen als mündige und solidarische Bürger*innen voranschreiten. Sie sind Mitgestalter der Gesellschaft und leisten einen Beitrag für den sozialen Zusammenhalt. Die GEW verfolgt einen hohen Anspruch an sich als Organisation und die eigenen Mitglieder: Eine eigenständige Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen soll tatsächlich erfolgen. Zunächst ist festzustellen:

So manches ist uns gut gelungen

Oftmals überlagern die Anspannungen der Kolleg*innen die Tage. Und die in politischen Auseinandersetzungen erzielten Verbesserungen sind eigentlich Selbstverständlichkeiten. Sind sie aber nicht, sondern immer wieder hart errungen. In „diesen Zeiten“, zum Jahreswechsel 2021 / 2022 umfasst der Landesverband Bremen wieder 5.100 Mitglieder. Allein dies zeigt eine nicht gering zu schätzende Stabilität, trotz aller Beschränkungen, die es uns nicht erlaubten, direkte Kontakte bei Referendarsbegrüßungen, Neueinsteiger*innenseminaren, im Dschungel Referendariat mit Studierenden oder mit den Betriebsgruppen herzustellen.

Diese Konstanz stellt sich nicht ohne Grund ein. Unsere Präsenz in Tarifvorhaben in- und außerhalb des Öffentlichen Dienstes und in Besoldungsangelegenheiten („A 13 für alle“) ist unübersehbar. Die Landesverbände und die Bundes-GEW haben es hinbekommen, mit „Bildung. Weiter denken!“ eine gemeinsame Initiative aufzulegen, die dezidierte Gutachten veröffentlichte, in Aktionszeiträumen drängende Themen republikweit und einheitlich vertrat und damit fundiert in die eigene Organisation hinein und in „die Politik“ kommunizieren konnte. Ein erheblicher Fortschritt für Menschen, die auf Argumente und Fakten noch etwas geben.

Und schließlich: Alle Themen dieser Serie sind Gegenstand unserer gewerkschaftlichen Tätigkeit. Die Auseinandersetzungen um diese Sachverhalte müssen geführt werden, strategisch ausgerichtet und gut organisiert. Die GEW Bremen hat sich deshalb verändert: Sie hat sich selber genau analysiert und eine Vorstellung zu ihrer eigenen Zukunft präzisiert, Schulungen über die gewerkschaftliche Bildung sind umfangreich und vielschichtig wie nie; Teilnehmer*innenzahlen auf Rekordniveau. Arbeitsstrukturen wurden erneuert: Der Erweiterte Vorstand in Bremerhaven ist in Sachen direkter Teilhabe von Mitgliedern ein ernst zu nehmendes Exempel. Fortschritt gelingt durch Planung, persönliche Zuständigkeiten und Verbindlichkeit.

„There is power in a union“ hat schon Joe Hill gedichtet, und zwar 1913. Trotz allem drängen Fragen und Unzufriedenheiten. Wir wollen mehr: Anhand der Ausführungen, die sich auf ein inklusives Gesellschaftsmodell mit einem demokratischen Handlungskonzept beziehen, deutet sich an, welche Inhalte die GEW Bremen in absehbarer Zeit bearbeiten wird. Unsere „9 Thesen zur Lehrer*innenbildung“ (GEW Bremen 2019) fächern diese Perspektive beispielhaft auf: Freiräume, Unterstützung, Reflexionsmöglichkeiten und nicht zuletzt ein aufgeklärter Bildungsgriff sind von immenser Wichtigkeit. Der Bildungsauftrag, das nur zur Sicherheit, steht im Übrigen auch in der Landesverfassung. Was wir zusammenfassend auf alle Fälle benötigen, ist Solidarität.

Der Wochenplan stimmt nicht

Die Arbeitgeber erledigen den Auftrag, der ihnen im Rahmen unserer Wirtschaftsordnung zukommt. Sie haben, um in unserem Bereich zu bleiben, die Unterrichtsverpflichtung von Lehrkräften 1997 um zwei Stunden für alle Lehrämter erhöht. Dieses Beispiel ist so schön geeignet, da wir in diesem Jahr dessen 25-jähriges Jubiläum begehen. Unsere anderen pädagogischen Professionen weisen ihre eigenen Verwerfungen auf. Immer jedoch kommen wir an den Punkt, an dem weitere Arbeitsleistungen eingefordert werden, eine Reform die vorherige ablöst. Die Zeit reicht nie. Die Last nimmt zu. Das Tempo wird beschleunigt. Vieles muss noch geschafft werden. Wo bleibt da der Raum, sich im Ehrenamt in der Gewerkschaft zu beteiligen?

Arbeitszeit und andere Daumenschrauben

Das Vorgehen der Gegenseite ist in ihrem Sinne auch konsequent. Autonomie, Konkurrenz und Datensatzerhebungen sind effektiv für ein Verständnis von Schule, in der Vorgaben umgesetzt werden, echte Mitwirkung aber nicht vorgesehen ist. Zur Not wird die „Grauzone“ der Arbeitszeit durch zusätzliche Tätigkeiten erweitert. Lehrkräfte kennen Verordnungen über Präsenzen, Fortbildungen und Vertretungen, den nicht unterrichtenden Kolleg*innen sind andere Daumenschrauben gegenwärtig. Ursprünglich „disponible Zeit“ konnte so wirkungsvoll eingeengt werden, das Alltagsgeschäft verhindert ein Agieren mit Bedacht, untergräbt letztlich gesellschaftliches Engagement im weitesten Sinne, vom Sportverein bis zur Gewerkschaft, und begrenzt das Nachdenken über die eigene Lage. Letzteres muss aber sein.

Zeit für Widerstand

Schmerzhafte Erfahrungen sind doch genug gemacht! Im Sinne der Ideologie des derzeitigen Systems kann man an den Missständen natürlich weiter individuell leiden. Die Zeit des Klagens ist aber vorbei. Klimaauseinandersetzungen vor Corona haben spektakulär gezeigt, dass Widerstand im Zeitbudget unterzubringen ist. Dazu muss man nur die Prioritäten neu gewichten. Das dürfen auch Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, wenngleich sie 24 Stunden am Tag „im Dienst“ sind. Und gerade die GEW fängt nicht „bei Null“ an. Seht ins Kapitel „Die Kämpfe der Jahre“, ruft euch die Abfolge der Aktionen ins Gedächtnis. Auch wenn es zum Weltruhm (siehe Klima) nicht ganz gereicht hat: Eindrucksvoll ist diese Liste allemal (vergl. auch GEW Bremerhaven 2019a)!

Der eigene Wochenplan ist also umzuschreiben. „Wochenplan der Widerständigkeit“ könnte er heißen mit dem Kernelement: „Gewerkschaftszeit“. Darin erfolgen Planung, Umsetzung und Auswertung der Gegenwehr im Verbund mit den Kolleg*innen: Möglichst wenig Aufwand, dafür viel Wirkung bei untereinander abgestimmten Forderungen. Und es klappt (s.o.)!

Bildung und Selbstbestimmung in der Organisation

Niemand verkennt, dass eine gelingende Praxis ernsthaft vorzubereiten ist. Im Kapitel „Die Bildungsgewerkschaft“ sind Ansatzpunkte genannt. Krass gesagt: Offensichtlich fehlen vielen Gewerkschaftkolleg*innen verfügbare Kenntnisse zur Führung des politischen Kampfes und Überzeugungen über ihre Stellung als Bildungsarbeiter*innen. Nun strebt die GEW innerhalb ihrer eigenen Organisation richtigerweise die Erprobung von Mündigkeit und Selbstbestimmung an. Ebenso ist sie dazu da, in ihren Reihen die Mechanismen dieser Gesellschaft zu reflektieren. Kenntnisse sind in der Tat nötig, wir müssen sie allerdings auch umsetzen wollen.

Zum Schluss singt Billy Bragg: The Union makes us strong.

Und trotzdem dringt immer wieder das schlechte Gewissen durch: „Die `armen´ Kinder ...“. Der moralische Druck gehört zum Geschäft und zur Kernkompetenz auch der unfähigsten Politiker*innen. Als würden die Kinder nicht gerade durch deren Weichenstellungen Schaden nehmen: Verelendung, Chancenungleichheit und der Zusammenhang von sozialer Situation und Bildungserfolg sind die einschlägigen Stichworte.

Die wahre Solidarität mit Kindern – und der Pädagog*innen mit sich selbst – besteht doch nicht darin, den status quo um eines oberflächlichen Friedens willen aufrecht zu erhalten.

Wille zur Umgestaltung

Der Begriff „Solidarität“, das beweisen dessen Gegenwart und Geschichte, umfasst einige prägende Merkmale (vergl. Süß / Torp 2021). Insbesondere in jüngster Zeit ist er stetig zu hören, allerdings mit Vorsicht zu betrachten: Mittlerweile reicht sein Bedeutungsspektrum vom „kämpferischen Begriff der Arbeiterbewegung (bis) … ins Zentrum staatlicher Krisenpolitik“ (ebenda, S. 175). Die Ausrichtung ist damit gegensätzlich: Einerseits steht „der Wille zur Umgestaltung“ im Vordergrund, andererseits, während der Corona-Bekämpfung, „fungiert sie … als Synonym zum staatsbürgerlichen Gehorsam“ (ebenda).

Um nun Klarheit zu gewinnen, ist es als Gewerkschaft naheliegend, auf das Solidaritätsverständnis der Arbeiterbewegung zurückzugreifen, welches sich aus „der Erfahrung von Unterdrückung und Entrechtung“ (ebenda, S. 177) speist, in internationaler Verknüpfung über eine kämpferische Praxis in den Auseinandersetzungen verfügt und sich auf die Umsetzung von Menschenrechten im weitesten Sinne bezieht.

Solidarität ist mehr als Resilienz

Damit verbindet sich bedeutend mehr, als nur Resilienz zu erzeugen, den status quo letztlich also hinzunehmen und auf Widerstand zu verzichten. Letzterer greift strukturelle Benachteiligungen an, die sich sehr wohl in „epochalen Schlüsselproblemen“ finden. Neben Selbst- und Mitbestimmung bedarf es dazu der Solidarität als „Empathie im Sinne der Fähigkeit, eine Situation, ein Problem, eine Maßnahme aus der Lage der jeweils anderen Betroffenen sehen zu können“ (Klafki 1985, S. 23). Solidarität in diesem Verständnis ermöglicht auch einen klaren Standpunkt, während im Spannungsfeld von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung die Auseinandersetzungen zum Teil bizarre Formen annehmen.

 

So ist es auch nur zu begrüßen, dass die GEW mit der Aktualisierung ihrer Schulpolitischen Positionen (vergl. GEW 2021) genau diese Aspekte einer notwendigen Selbstverständigung aufgreift und einen Prozess einleitet, der in die Tiefe und Breite der Organisation gehen wird. Auf der Grundlage der eigenen Prinzipien von „Chancengleichheit, Integration, Demokratisierung, Interkulturalität, Emanzipation …“ (GEW 2002, S. 5) werden Sachverhalte zu beraten sein, welche sich dem Lernen mit und ohne neuen Medien widmen, der Schulstruktur, der Aus- und Weiterbildung unserer Kolleg*innen oder ein Verständnis von heutiger Allgemeinbildung ermöglichen. Dies stärkt die Organisation, gerade wenn uns als Qualität verkauft werden soll, was diesen Namen nun gar nicht rechtfertigt.

 

Es wird dann geklärt, welche Überzeugungen die GEW eint, generationen- und professionsübergreifend. Seit der Erstfassung der Schulpolitischen Positionen aus dem Jahre 2001 hat sie sich natürlich verändert, allein schon durch die Fluktuation in der Mitgliedschaft und wesentliche bildungspolitische Entscheidungen in diesem Land.

 

Für den weiteren Kampf können die neuen Schulpolitischen Positionen nur hilfreich sein. Man erinnere sich an Eva Borst, die uns mitgab, dass die Vorstufe zum Handeln die Theorie sei (vergl. GEW Bremerhaven 2019b). Oder anders gesagt: „Die herrschenden Verhältnisse kommen vielleicht ohne Theorie aus. Die Emanzipation aus diesen nicht.“ (Jaeggi 2022).

 

Der Song mit dem schönen Vers unserer letzten Zwischenüberschrift, den u.a. Billy Bragg so kraftvoll singt, heißt übrigens „Solidarity forever“. Also: Los geht’s! 

 

Quellen:

  • Billy Bragg (2020): The May Day Toast: Billy Bragg sings `Solidarity forever´, You tube-Aufnahme vom 4.05.2020
  • GEW (2002): Bildung braucht Zukunft. Schulpolitische Positionen der GEW, Frankfurt
  • GEW (2021): Schulpolitische Positionen 2021 Bildung – Zukunft – Gewerkschaft, Antrag 3.25 zum Bundesgewerkschaftstag, Leipzig
  • GEW Bremen (2019): 9 Thesen zur Lehrer*innenbildung, Antrag GT 15 zum Bremischen Gewerkschaftstag, Bremen
  • GEW Bremerhaven (2019a): Chronologie der Ereignisse, Bremerhaven
  • GEW Bremerhaven (2019b): Frau Borsts Anregungen zum Nachdenken, Bremerhaven
  • Klafki (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim und Basel
  • Jaeggi (2022): „Revolution sollte man machen“, Interview mit Hanno Rehlinger in der taz vom 29./30.01.2022, S. 51
  • Süß / Torp (2021): Solidarität, Bonn