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Kernfragen der GEW Teil 7

Die Säulen des Systems

Nach einer Phase großer Vielfalt auf engstem Raum begibt sich das Bundesland Bremen auf den Weg zu einer klareren strukturellen Übersichtlichkeit

Beginnen wir mit dem Gegenkonzept. Als die Bremer SPD sowohl die traditionelle Volksschule als auch das Gymnasium nur noch auf der Entwicklungsstufe eines „pädagogischen Fossils“ (vergl. Burger 2008, S. 10) sieht, beschließt die Bürgerschaft im Jahre 1975 ein Schulgesetz, das ein horizontales Schulsystem beinhaltet. Dieses ist in Stufen zu gliedern, schrittweise zu integrieren und soll nach der Orientierungsstufe die Haupt- und die Realschule sowie die Jahrgangsstufen 7 bis 10 des Gymnasiums zusammenfassen. Will man die Ausrichtung dieser Zeit ein wenig zuspitzen, so drängt sich der Eindruck auf, dass die stützenden Säulen des traditionellen Schulsystems kurz davor standen, geschreddert zu werden. In einem späteren Interview macht der ehemalige Senator für Bildung, Horst von Hassel, allerdings auf die nicht hinreichend konsequente Umsetzung dieser Vorgaben aufmerksam: „Als Senator (von 1979 bis 1983) kannte ich eine vollhorizontalisierte Schule in Bremerhaven, in Bremen erlebte ich die Innenstadtgymnasien im Schonraum der Politik“ (GEW Bremerhaven 2017, S. 13). In der politischen Realität erwies sich manche Säule mithin als ziemlich stabil.

Große Vielfalt auf engstem Raum

30 Jahre nach der oben zitierten Schulgesetzänderung gehört die Schulstruktur des (kleinen) Landes Bremen zu den Systemen mit der höchsten Säulenzahl in der Republik. Im Säulengang fällt in der Regel der erste Blick auf die Sekundarstufe I: Das Angebot umfasste damals neben dem Gymnasium Gesamtschulen und Integrierte Stadtteilschulen, eine Sekundarschule, die in Klasse 9 und 10 in Haupt- und Realschulklassen aufgeteilt wurde, sowie Förderzentren. Bemerkenswert waren außerdem einige sechsjährige Grundschulen, die damit in die Sekundarstufe hineinragten. U.a. diese Unübersichtlichkeit rief vernehmbare Kritik hervor.

Abbildung 1: Die Bremer Bildungsgänge im Überblick (2005)

Hinsichtlich der gesamten Bundesrepublik vermerkte Ernst Rösner zudem, dass es „keine wissenschaftliche Begründung für die vorherrschende Struktur des deutschen Bildungswesens (gibt)“ (Rösner 2008, S. 3). Erwiesen seien dagegen dessen hochgradige soziale Selektivität, seine geringe Leistungsfähigkeit und die dadurch beförderte Stabilisierung ungleicher Bildungschancen (vergl. ebenda).

„Zweigliedrigkeit“ als neuer Trend

Obgleich von interessierter Seite die Relevanz der Schulstruktur für erfolgreiches Lernen immer wieder in Abrede gestellt wird, nehmen alle 16 Bundesländer in den ersten zehn Jahren nach „PISA 2000“ strukturelle Veränderungen vor. Eine Harmonisierung der landestypischen Systeme gelingt allerdings nicht. Übersichten dazu liefern Tillmann (2012) sowie Maaz und Kühne (2020). Einig sind sich die Autoren allerdings dahingehend, dass eine „Verschlankung des Schulformangebots“ (Maaz und Kühne 2020, S. 47) stattgefunden und sich eine „Entwicklung hin zur Zweigliedrigkeit durchgesetzt hat“ (Tillmann 2012, S. 10). Dies gilt unabhängig der Tatsache, dass sehr unterschiedliche Bezeichnungen für die Säulen trotz ähnlicher Angebote in der Sekundarstufe I gewählt wurden bzw. gleiche Bezeichnungen durchaus unterschiedliche Konzepte beinhalten können.  Wir bewegen uns zwischen Stadtteil- und Regelschule oder Mittel- und Sekundarschule, ohne zunächst auf der Begriffsebene Differenzen oder Gemeinsamkeiten erkennen zu können. Gemeint ist bei diesen (Wort-) Schöpfungen allerdings immer der nicht-gymnasiale Teil nach der Grundschule, denn eines „steht“ vermeintlich unantastbar: Die Säule des Gymnasiums!

In Bremen wurde im Jahre 2008 der Diskurs innerhalb und außerhalb der amtierenden rot-grünen Koalition geführt. Die Grünen argumentierten, dass die Qualität des Unterrichts wichtiger als die Struktur sei, die CDU forderte ein „Schutzgebiet Gymnasium“. Gelöst wurden diese Konflikte durch die Verabredung eines auf zehn Jahre angelegten „Schulfriedens“.

Schulfrieden mit Verlängerung

Mit dem „Bremer Konsens zur Schulentwicklung“ wurde Ende 2008 der Jahrzehnte alte Streit über die Schulstruktur für beendet erklärt. Die unterzeichnenden Parteien garantierten Zeit für eine kontinuierliche und qualitative Weiterentwicklung des (vereinfachten) Systems, Handlungsspielräume für die Schulen und Verlässlichkeit durch einen definierten Rahmen. Die damit verbundenen Zielstellungen waren anspruchsvoll: Lernniveau und Leistungsfähigkeit sollten gehoben, die soziale Koppelung zwischen Elternhaus und Schulerfolg reduziert und insgesamt das Ansehen des Bildungsstandortes Bremen gestärkt werden (vergl. SPD u.a. 2008). Festgeschrieben wurde damit die Struktur der zwei Säulen in der Sekundarstufe I, bestehend aus Oberschule und Gymnasium.

Unterschrieben haben den Text schließlich die SPD, die Grünen und die CDU. Der zum Ende dieser (ersten) Friedensperiode verfasste Evaluationsbericht einer Expert*innengruppe hebt u.a. die breite Akzeptanz der Oberschule als Ort der Zusammenlegung der bisherigen nicht-gymnasialen Schularten bei Schulleitungen hervor (vergl. Maaz et al. 2019, S. 56). Sich auf die Ausführungen der Expert*innen berufend, schätzen die amtierenden Parteivorsitzenden des Konsenses ein, „dass die Schulstruktur derzeit den richtigen Rahmen bietet, um die innere Schulentwicklung voranzutreiben“ (SPD u.a. 2018, S. 1). Sie leiten daraus die Notwendigkeit ab, den Konsens zur Schulentwicklung um weitere zehn Jahre zu verlängern. Parteipolitisch betrachtet bleibt die FDP weiter „außen vor“, die Linke hingegen steigt zur zweiten Periode in den Konsens ein – eine Entscheidung, die einige Monate vor der Bürgerschaftswahl 2019 durchaus als koalitionsorientiertes Signal verstanden wurde.

Die Bremer Besonderheiten

Die bildungspolitische Wirklichkeit in Deutschland zeigt, dass es sehr unterschiedliche Ausprägungsformen auch von 2-Säulen-Modellen gibt. Was das Bremer Konzept angeht, so ist der Einschätzung von Tillmann nachzugehen, der es als realisiert ansieht, die Differenz zwischen Gymnasium und zweiter Säule möglichst klein gehalten zu haben (vergl. Tillmann 2012, S. 12). Insbesondere bleibt aber zu überprüfen, ob es gelungen ist, eine „vollständig gleichberechtigte und gleichwertige Schule“ (Jürgens-Pieper /Pieper 2011, S. 238) zum Gymnasium zu konzipieren, so dass es keine Hierarchie zwischen den Säulen gibt.

Abbildung 2: Neue Struktur der allgemeinbildenden Schulen ab Schuljahr 2011/12

Was stützt nun die Aussage der klein gehaltenen Differenz? Tatsächlich gibt es im bundesrepublikanischen Zusammenhang beachtenswerte bremische Ausgestaltungen:

  • Die Oberschulen arbeiten grundsätzlich mit einem eigenständigen Differenzierungskonzept auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus; bei entsprechenden Leistungen kann ein Übergang in die gymnasiale Oberstufe nach fünf bzw. sechs Jahren erfolgen;
  • die Gymnasien halten ein Anforderungsniveau vor, das nach insgesamt 12 Jahren zum Abitur führt; die Zahl der Gymnasialplätze ist begrenzt, das Sitzenbleiben abgeschafft. Es gibt lediglich eine Versetzungsentscheidung am Ende der Klasse 9 zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe;
  • da im Gymnasium alle Abschlüsse der Sekundarstufe I vorgehalten werden, ist ein Wechsel in die Oberschule nicht vorgesehen. Ausnahmen sind nur im Einvernehmen mit den Erziehungsberechtigten möglich;
  • die vorher existierenden Förderzentren der Sekundarstufe I sind ausgelaufen, bei einigen klar definierten Ausnahmen, die als Wahlangebot bestehen bleiben;
  • in der mittlerweile einheitlichen vierjährigen Grundschule gibt es keine Sonderschulen im klassischen Sinne mehr, wohl aber einzelne besondere (schulersetzende) Maßnahmen;
  • die sonderpädagogischen Kapazitäten werden zum einen schulintern im virtuellen Zentrum für Pädagogik, hinsichtlich schulübergreifender Aufgaben in regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren gebündelt.

Zur Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit unserer Säulen

Ermöglicht sind nunmehr, und das stimmt, innerhalb der allgemeinbildenden Schulen zwei Wege zum Abitur. Auf diesen Wegen existieren jedoch auch Abzweigungen, die das Bild ausschließlich zweier kompakter Säulen relativieren. Das Schulgesetz selber kennt in § 25a die sog., den Berufsschulen angegliederte „Werkschule“, für die sich Schüler*innen der Jahrgangsstufe 8 „bewerben“ können.  Ebenso verbleiben nach § 70a „übergangsweise“ spezielle sonderpädagogische Förderzentren. Des Weiteren werden eine Schule für sozial-emotionale Entwicklung fortgesetzt und ein Paket schulersetzender Maßnahmen mit diesem Förderschwerpunkt vorgehalten. Augenfällig ist außerdem, dass nach der Auflösung des Stufenprinzips in der Stadtgemeinde Bremen dort Oberschulen mit und solche ohne Oberstufe bestehen. Anwahlzahlen und Einschätzungen zeigen, dass eine strukturelle Differenz durchaus wahrgenommen wird (vergl. Maaz et al. 2020, S. 38). Innerhalb der Oberschulen der Stadt Bremen bestehen zudem sog. „Inklusionsklassen“, welche ihrerseits die Säulenstruktur aufweichen.

In einem aufwändigen Praxisreport kommt unsere Fachgruppe Oberschule – eine Schule für alle zu dem Ergebnis, dass sich die Oberschule „auch zehn Jahre nach ihrer Einführung nicht zu einer einheitlichen Schulform entwickelt (hat)“ (GEW Bremen 2018, S. 25). Einig in ihrer Wahrnehmung sind sich im Übrigen die Expert*innen der GEW und der Evaluationsgruppe des DIPF, dass der Mangel an räumlicher, personeller und materieller Ausstattung die strukturellen Maßnahmen in ihrer Wirksamkeit beeinflusst (vergl. GEW Bremen 2018, ebenda; Maaz et al. 2019, S. 56). Dieser sich auf die Ressourcen beziehende Gedanke muss an anderer Stelle vertieft werden.

Nur: Säulen bleiben Säulen. Auch in einem 2-Säulen-Modell mit Abzweigungen wird das Gymnasium nicht grundsätzlich tangiert. Im Rahmen eines solchen Modells dürfte strukturell, das zeigen die Vergleiche mit anderen Bundesländern, kaum mehr gehen als in Bremen. Zugangsbegrenzung zum Gymnasium, Abschulungsverbot , die Ermöglichung aller Abschlüsse in beiden Säulen und die weitgehende Auflösung der Förderzentren sind dabei zentrale Kriterien. Hamburg mit einer Gymnasialquote von deutlich mehr als 50%, die durch eine uneingeschränkte Elternwahlfreiheit nach der Primarstufe erzeugt wird, mag als mahnendes Beispiel genügen. Zwei Säulen aber sind ein „Kompromissmodell“ (Tillmann 2012, S. 10), das den Konflikt mit den vielfältigen Unterstützern des Gymnasiums weitgehend vermeidet, obwohl die freie Elternwahl in Bremen eingeschränkt ist. Zwei Säulen sind für Politiker*innen höchst attraktiv!

Schon früh hat der Leiter der Bremer Expertenkommission des DIPF eingeschätzt, dass es zwar aus pädagogischer Sicht kaum Argumente gegen eine Schule für alle gebe, sie aber nicht umsetzbar sei, etwaige Versuche vielmehr zum jetzigen Zeitpunkt Energieverschwendung darstellten (vergl. Maaz 2017). Nun sind wir einerseits Pädagog*innen, andererseits überzeugte Gewerkschafter*innen, die sich mit einem dramatischen Widerspruch zur eigenen, mit guten Gründen verabschiedeten Beschlusslage konfrontiert sehen. Dazu kommt, dass mit dem 2-Säulen-Modell verbundene Ziele nicht eingelöst sind. Die Abhängigkeit des Bildungserfolges vom Sozialstatus ist beispielsweise weiterhin markant.

Geben wir uns also damit zufrieden, wenn die „Eine Schule für alle“ schlicht als nicht durchsetzbar eingestuft wird? Diese Diskussion wird in der nächsten Folge dieser Serie aufgenommen.

Quelle:

Burger (2008): Argumente für die Stufenschule, in: BLZ, Heft 10
GEW Bremen (2018): Wie weiter mit der Oberschule in Bremen?, Bremen
GEW Bremerhaven (2017): 70 Jahre GEW, Festschrift der GEW Bremerhaven
Maaz (2017): Experte lobt Bremer Schulreform, Interview im Weser-Kurier vom 6.01.17​​​​​​​
Maaz et al. (2019): Zweigliedrigkeit und Inklusion im empirischen Fokus, Münster, New York​​​​​​​
Maaz und Kühne (2020): Flickenteppich Sekundarschulsystem?, in: Pädagogik, Heft 2
Rösner (2008): Länger gemeinsam lernen – strukturelle Aspekte, Bremen
SPD u.a. (2008): Bremer Konsens zur Schulentwicklung, Bremen
SPD u.a. (2018): Bremer Konsens zur Schulentwicklung 2018-2028, Bremen
​​​​​​​Tillmann (2012): Das Sekundarschulsystem auf dem Weg in die Zweigliedrigkeit, in: Pädagogik, Heft 5