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Arbeitszeiterfassung

Die Angst vor der Arbeitszeiterfassung

Die Bildungsbürokratien, die Handlungsunwilligkeit und die Vertuschung der Bildungskrise

Täglich grüßt das Murmeltier mit einer neuen Katastrophenmeldung aus dem Bildungsressort. Dabei geht es schon lange nicht mehr um einzelne Mängel, sondern um eine strukturelle Krise, die bereits jetzt deutlich größer ist als die von Picht in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts skizzierte Bildungskatastrophe, die seinerzeit wenigstens zu einer Reformbewegung im Bildungswesen geführt hat. Kern der Reformen war die Öffnung der Bildungseinrichtungen für bis dahin weitgehend ausgegrenzte Bevölkerungsschichten, die unter dem Postulat von Chancengleichheit erfolgte. Das ermöglichte vielen Menschen, so auch mir, den sozialen Aufstieg und sorgte für eine breite Schicht gut qualifizierter Menschen in Deutschland, wodurch ein elementarer Beitrag für eine positive Wirtschaftsentwicklung geleistet und die Entwicklung einer breiten demokratischen Substanz in der Bevölkerung erreicht wurde.

Die Kurzsichtigkeit der Politik

Gerade die einmal erreichte weitgehende Durchlässigkeit im Bildungssystem ist größenteils zurückgefahren. Die Abhängigkeit der Bildungschancen der Kinder vom sozialen Status der Eltern ist heute größer als in den sechziger Jahren. Dadurch werden viele Potenziale nicht erschlossen, erreichen viele Kinder keinen angemessenen Bildungsabschluss. Der Fachkräftemangel ist nicht nur das Ergebnis der Demografie, sondern auch eines des Versagens der Bildungspolitik. Die jüngst im Auftrag der Diakonie durchgeführte Studie über die gesellschaftlichen Langfristkosten, die sich aus der Vernachlässigung der nachwachsenden Generationen im Bildungsbereich ergeben, belegen einmal mehr die Kurzsichtigkeit der aktuellen Politik. Und nicht nur die materiellen Folgen veranlassen zur Sorge.

Unangemessene Zukunftsvorbereitung

Die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weist auf deutliche Zerfallserscheinungen in unserer Demokratie hin. Die aktuelle Politik negiert die reale Krise weitgehend. Es gibt zwar einzelne Debatten wie z.B. über die Notwendigkeit, die Entwicklung der Digitalisierung in der Gesellschaft stärker in den Schulen zu verarbeiten, aber im Großen und Ganzen wird nicht angemessen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert. Die Herausforderungen in einer Zuwanderungsgesellschaft, die Individualisierung bei gleichzeitiger Schwächung gesellschaftlich normierender Großorganisationen wie Kirchen oder Gewerkschaften, die ökologischen und ökonomischen Folgen der Klimakrise, die sich verschärfende soziale Spaltung in unserer Gesellschaft werden in unseren Schulen nicht ausreichend begleitet. Unsere Kinder werden nicht angemessen auf ihre Zukunft vorbereitet. Bislang sind seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) und auch aus den Bundesländern nicht ansatzweise Wege aus der Krise zu erkennen. Es gibt weder Initiativen zur massiven Ausweitung der Lehrer*innenausbildung vor allem in der ersten Phase, kaum Initiative zur Ausweitung der Erzieherinnenausbildung, keine inhaltlichen Vorschläge zur Strukturierung der weiteren Entwicklung.

Organisierte Kriminalität

Im Gegenteil: Die KMK interveniert beim Bundesarbeitsminister, um die rechtlich geltende und damit verbindlich einzuführende Arbeitszeiterfassung durch eine Sonderregelung für Lehrkräfte außer Kraft zu setzen. Damit signalisieren sie, dass sie eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation vermeiden wollen. Ohne eine solche Erfassung ist aber ein gezieltes Vorgehen zu systematischen Lösungsansätzen überhaupt nicht denkbar. Sie vertuschen mit ihrem Vorgehen die reale Dimension der Bildungskrise und dokumentieren damit ihre eigene Handlungsunwilligkeit. Wie absurd das daraus folgende Verhalten der Bildungsbürokratien ist, zeigt sich am Beispiel eines Initiativantrags des Bremer Personalrats, mit dem er die Einführung der Arbeitszeitmessung erreichen wollte. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ja gesetzlich geregelt sei. So hat das auch das Bundesarbeitsgericht argumentiert und damit die Selbstverständlichkeit der Umsetzung dieser Maßnahme betont. Die Bürokraten benutzen dieses Argument, um genau die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht zu verhindern. Politik und Kultusbürokratien verweigern nicht nur die Umsetzung – spätestens mit dem EuGH-Urteil aus dem Jahr 2019 hätten sie mit der Umsetzung der Verpflichtung beginnen müssen - sondern sie versuchen auch noch organisiert diese Verpflichtung zu umgehen. Bei strafrechtlich relevanten Verstößen kennzeichnet man ein solches Vorgehen als organisierte Kriminalität, hier geht es ja „nur“ um Arbeits- bzw. Beamtenrecht.

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Arbeitszeiterfassung

 

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Arbeitszeiterfassung dient dem Gesundheitsschutz

 

Die Frage ist nicht ob, sondern wie der Arbeitsgerichtsbeschluss umgesetzt wird

 

Von Elke Suhr

 

Spätestens seit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 steht fest: die Arbeitszeit von allen Arbeitnehmer*innen ist zu erfassen. Die Arbeitgeberseite ist verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu messen. Mit diesem Beschluss des BAG wurde das entsprechende Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Mai 2019 auch für Deutschland verbindlich, auch ohne ein entsprechendes Bundesgesetz. In Artikel 17 dieser EU-Arbeitszeitrichtlinie werden Abweichungen bei der Umsetzung beschrieben. Diese seien möglich bei Tätigkeiten, die aufgrund ihrer besonderen Merkmale nicht gemessen bzw. im Voraus festgelegt werden könnten. Benannt werden hier u.a. leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbständiger Entscheidungsbefugnis. Darauf bezugnehmend forderte die Kultusministerkonferenz (KMK), dass Lehrkräfte von der Arbeitszeiterfassung ausgenommen werden sollen.

 

Für alle Beschäftigten in Schulen

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erteilte dieser Anfrage im August eine klare Absage; für Lehrkräfte käme Artikel 17 nicht zur Anwendung. Das BMAS schrieb ferner, dass der europäische Arbeitnehmerbegriff auch Beamt*innen einschließt und das Arbeitsschutzgesetz Anwendung findet. Und nur weil der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nichts entgegen. Mit dieser Maßgabe des BMAS ist klar, die Arbeitszeiterfassung gilt für alle Beschäftigten in Schulen. Die Frage ist also nicht, ob die Arbeitszeiterfassung kommt, sondern wie sie umgesetzt werden wird. Arbeitszeiterfassung ist Teil der Anwendung des Arbeitsschutzgesetzes und dient damit dem Gesundheitsschutz.

 

Anforderungen an die Arbeitszeiterfassung

In verschiedenen Arbeitsgruppen auf Landes- und auf Bundesebene hat sich die GEW intensiv mit dem Thema Arbeitszeiterfassung beschäftigt. Dabei wurde klar, die Verhandlungen zur Arbeitszeiterfassung müssen getrennt von einer Diskussion um andere Arbeitszeitmodelle geführt werden. Die Personal- bzw. Betriebsräte sind hier in der Mitbestimmung. Folgende Anforderungen an die Arbeitszeiterfassung wurden definiert:

 

1.            Die vom Arbeitgeber zu verantwortende Erfassung der geleisteten Arbeitszeit muss datensparsam erfolgen – es wird nur erfasst, was gesetzlich erforderlich ist: Anfang, Ende und Pausen. Die Beschäftigten sowie die zur Vertraulichkeit verpflichteten Personalvertretungen haben jederzeit Zugriff auf die gespeicherten Daten.

2.            Die Erfassung sollte zeitnah durch die Beschäftigten mit einem einfach zu handhabenden, manipulationssicheren elektronischen System erfolgen. Sie ist dadurch unabhängig von Zeit und Ort der Erbringung der Arbeitszeit und schränkt Lehrkräfte nicht in ihrer pädagogischen Freiheit ein.

3.            Arbeitszeiterfassung ist kein Instrument der Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Maßnahmen zur Durchsetzung von Arbeitsschutznormen sind gemeinsam mit den Personalräten zu entwickeln und müssen die Arbeits- und Lebensrealität der Lehrkräfte berücksichtigen.

4.            Um die Handlungsbedarfe aufgrund zeitlicher Überlastung zu identifizieren, kann es sinnvoll sein, Daten in einem aggregierbaren Format zu erfassen und zu speichern. Weitergehende Informationen, z.B. über ein Cluster der Tätigkeiten, dürfen nur in anonymisierter Form aggregiert und verarbeitet werden. Dann aber können sie wertvolle Informationen zur Weiterentwicklung der Schulentwicklung und der Personalbedarfsplanung liefern.

5.            Zur Steuerung ihrer eigenen Arbeit kann es für Lehrkräfte zudem sinnvoll sein, verschiedene Tätigkeitscluster differenziert zu erfassen. Diese Informationen dürfen dann aber nur der einzelnen Lehrkraft zur Verfügung stehen, nicht den Dienstvorgesetzten.

 

Formen der Entlastung verhandeln

Verschiedene Arbeitszeitstudien, die für Lehrkräfte durchgeführt worden sind, belegen schon seit 2015, dass die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit für Lehrkräfte viel zu hoch ist. Diese übersteigt regelmäßig die gesetzlich festgelegte maximale Arbeitszeit von 48 Stunden in der Woche und ist in den vergangenen Jahren noch einmal gestiegen. Ganz klar ist, die Arbeitszeiten sind strukturell viel zu hoch. Allein um diese Mehrarbeit auszugleichen müssten laut Rackles rund 30.000 Lehrkräfte eingestellt werden. Nicht unterrichtende pädagogische Beschäftigte im Land Bremen berichten ebenfalls, dass die Zeiten, die sie mit Vor- und Nachbereitung sowie Kooperation und Gesprächen verbringen, nicht mit den zur Verfügung stehenden Stunden abgedeckt werden kann. Wenn die Arbeitszeiterfassung diese Mehrarbeit aller Beschäftigten endlich sichtbar macht, gilt es die richtigen Konsequenzen in Form von Entlastung zu verhandeln.