Zum Inhalt springen

Bremerhaven

Das Stichwort „Bildung“ in den Koalitionsvereinbarungen 2023 – 2027

Informationen des Stadtverbands Bremerhaven Juli/August 2023

Skyline von Bremerhaven mit Hafenansicht
Foto: Inge Kleemann

Nun aber wirklich! – Das Stichwort „Bildung“ in den Koalitionsvereinbarungen 2023 – 2027

Die Ziele der Koalitionsparteien im Lande Bremen und der Stadt Bremerhaven weisen eine hohe Kontinuität aus. Für das Bundesland versprechen SPD, Grüne und Linke: „Wir schaffen echte Bildungschancen und bilden im Land Bremen die dringend notwendigen Fachkräfte aus“ (Zeile 37/38). Die Chancen der Menschen sollen „gerecht verteilt“ sein: „Bei der Bildung sowie auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt“ (Zeile 16/17). Deshalb ist es das Ziel der drei Parteien, „dass alle Kinder unabhängig von ihrem Elternhaus, der Herkunft oder dem Wohnort ihre Potenziale auch in der Schule entfalten können. Wir werden dafür sorgen, dass mehr Schüler:innen einen Schulabschluss erreichen“ (Zeile 141-143).

Für die Stadtgemeinde Bremerhaven formulieren die dortigen Koalitionäre von SPD, CDU und FDP ihre Ausrichtung wie folgt: „Bildung, Ausbildung und Arbeit sind aber der Schlüssel für Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben“ (Seite 5). Diese drei Parteien betonen: Sie stünden „für ein Bremerhaven, das niemanden ausgrenzt und diskriminiert“ (ebenda).

An dieser Stelle blättern wir einmal zurück. Im Jahre 2019 konstituierte sich eine rot-grüne Landesregierung. Sie stellte fest: „Bildung ist der Schlüssel zu einem aktiven und selbstbestimmten Leben, zu Teilhabe an der Gesellschaft, zu guter Arbeit und nicht zuletzt zur Bekämpfung von Armut“ (Zeile 2112/2113) und ergänzte: „Bildungschancen und Schulerfolg dürfen nicht von der familiären Situation, der Herkunft oder dem sozialen Umfeld abhängen“ (Zeile 2120/2121). Dazu würden „starke und verantwortliche Schulen“ gebraucht, „die eine verlässliche Unterrichtsversorgung gewährleisten und die die unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten unserer Kinder und Jugendlichen fördern“ (Zeile 2123-2125). Heruntergebrochen auf die Stadt Bremerhaven (damals SPD/CDU-Koalition) liest sich das ähnlich: „Bildung ist der Schlüssel zu einem guten Start ...“ (Seite 7) und ebenfalls soll durch ein Personalentwicklungskonzept dem Unterrichtsausfall entgegengewirkt werden (vergl. Seite 8).

Kontinuität in den Zielsetzungen auf allgemeiner Ebene ist, wie angekündigt, nicht das Problem. Diese ist sogar einzufordern, da wir als Gewerkschaft in den vergangenen acht Jahren wiederholt nachweisen konnten, dass beispielsweise von einer „verlässlichen Unterrichtsversorgung“ ganz und gar nicht die Rede sein kann, und zwar nicht nur in Bremerhaven, sondern im gesamten Bundesland. Was aber soll nun in der bevorstehenden Amtszeit passieren, um diesen Perspektiven tatsächlich näher zu kommen? Ist es mehr als die Beschwörung, „nun aber wirklich“ Verbesserungen folgen zu lassen? Oder geht es um eine Selbstbekräftigung der Wünsche einer Koalition, deren Substanz nebulös bleibt? Unterrichtsausfall, Fachkräftegewinnung (Attraktivität der Arbeitsplätze), Qualität, aber auch die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit an den Schulen lauten einige der entscheidenden Kriterien, dies zu beurteilen.

Arbeitsbedingungen

Die kommunale Koalitionsvereinbarung stellt gleich zu Beginn dieses Abschnittes fest, dass sich der Personalmangel nur beheben lässt, „wenn die Ausbildungszahlen von Lehramtsstudent:innen erhöht und die Arbeitsbedingungen in den Schulen attraktiver gestaltet werden“ (Seite 8). So weit, so richtig. Nur: Mindestens der erste Teil der Aussage fällt in die Zuständigkeit des Landes und ist somit von Politiker:innen aus Bremerhaven schnell und folgenlos notiert. Die Landesregierung wird begeistert sein, wenn die Seestadt-Koalition den Kapazitätsausbau für Lehrämter an der Uni Bremen, die Absenkung des NC sowie die Verstetigung von Programmen für Quereinsteigende unterstützt.

Hinsichtlich der Attraktivität der Arbeit für Pädagog:innen wird in der Seestadt der Dauerbrenner „Entlastung von bürokratischen Aufgaben“ wieder hervorgeholt, der Einsatz für eine Fortführung der „erfolgreichen Referendar:innenausbildung“ angekündigt (Stand diese überhaupt in Frage?) und eine „gezielte Steuerung der Lehrkräftezuweisung an die Schulen“ (Seite 8) erwartet. Wir erinnern daran, dass zu Beginn des letzten Schuljahres 66 der 1.339 Stellen für Lehrkräfte in Bremerhaven nicht besetzt waren. Daraus lässt sich eine Unterdeckung von 6,72% ermitteln – ohne jede Vertretungsreserve. Wie soll vor diesem Hintergrund durch Steuerungsmaßnahmen eine Steigerung der Attraktivität gelingen?

In einer anderen Passage wird es fast schon grotesk. Die Koalition in Bremerhaven hält es für erforderlich, „die in den Ländern geltenden Rahmensetzungen für Beschäftigte anzugleichen“ (Seite 10). Gemeint sind: die Höhe der Unterrichtsverpflichtung, Regelungen der Beihilfe, Zugangsvoraussetzungen für Quereinsteigende und Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Auf eine solche Initiative aus Fischtown, man vermutet es sofort, hat die gesamte Republik nur gewartet.

Eine Chance bleibt noch: Gibt es Hoffnung durch das Land?

Zunächst erfolgt im Landeskoalitionsvertrag ein Bekenntnis zu einer „bedarfsgerechte(n) Ausstattung der Grund- und weiterführenden Schulen“ (Zeile 2766/2767). Dies will die Koalition sicherstellen (ebenda). Dazu werden „die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen im Land Bremen entsprechend der Bedarfe inklusiver Schulen“ (Zeile 2791/2792) ausgebaut. Dies gilt auch für die Referendariatsplätze für inklusive Pädagogik am LIS (Zeile 2794). Explizit angesprochen wird zu dieser Thematik eine Weiterentwicklung der Zuweisungsrichtlinie für Lehrkräfte. Verankert werden soll darin u.a. das stufenweise Erreichen einer Vollversorgung bei 110% (Vertretungsreserve) (Zeile 3070/3071). Ebenso soll die Vergütung im Referendariat erhöht und Maßnahmen erdacht werden, um diesen Personenkreis in Bremen zu halten (Zeile 3098/3099).

Ziemlich am Schluss des insgesamt 170 Seiten starken Vertrages sorgen die Verfasser desselben allerdings für Irritation: Nach der richtigen Analyse, in den kommenden Jahren „die eigene Ausbildung von Fachkräften aller Richtungen und Laufbahnen zwingend“ (Zeile 7907) vornehmen zu wollen, werden einzelne Berufe als Schwerpunkte dieses Anliegens hervorgehoben. Explizit genannt sind Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Polizei und Finanzverwaltung, leider aber keine Lehrkräfte (vergl. Zeile 7909/7910).

Interessant und gleichfalls blass bleibt die Zusicherung „... in einen Dialog (zu) treten, um zu einer zeitgemäßen Definition von Lehrkräftearbeitszeit zu kommen“ (Zeile 3101). Dies wäre dann in dieser Angelegenheit ein erneuter Anlauf. Bereits im letzten Koalitionsvertrag auf Landesebene fand sich ein entsprechender Prüfauftrag, durch „Veränderungen in den Arbeitsbedingungen und der Arbeitszeitgestaltung“ (Zeile 658/659) die Lehrkräftetätigkeit attraktiv zu halten. Dies ist der letzten Landesregierung nicht gelungen, Gespräche zwischen der GEW und der zuständigen Senatorin verliefen früh im Sande.

Qualität, Quantität und Gerechtigkeit

Zwei Aussagen sind im Landeskoalitionsvertrag von besonderer Bedeutung:

  • Die Koalition erklärt, „massiv zusätzliches Personal“ (Zeile 2705) einstellen zu wollen.
  • Sie hält fest am Ziel, „die Bildungsausgaben pro Schüler:in an die der anderen Stadtstaaten anzugleichen“ (Zeile 2735/2736, auch: 2746).

Man erinnere sich an die Unterschiede bei den Aufwendungen der Stadtstaaten pro Schüler:in und pro Schuljahr. Hamburg und Berlin sind derzeit deutlich mehr als 2.000 € vor Bremen. Wir sprechen also von ca. 200 Millionen € zusätzlich pro Jahr als Zielzahl für den Landeshaushalt.

Zur qualitativen Weiterentwicklung wird weiterhin auf das Institut für Qualitätsentwicklung (vergl. Zeile 2827 ff.) gesetzt. Die Koalition sieht in der Datenerhebung und -analyse einen entscheidenden Schritt, damit alle Kinder „Mindeststandards in den Kernfächern“ (Zeile 2830) erreichen. Diese Konzentration auf Lesen, Schreiben und Rechnen (auch in dieser Begriffswahl) findet sich ausdrücklich auch in den Verabredungen für die Stadt Bremerhaven (vergl. Seite 6). Dass unter der Maßgabe einer Qualitätssteigerung auf eine problematische Verengung des Bildungsbegriffes gesetzt wird, sei an dieser Stelle nochmals kritisch hervorgehoben.

Alle beteiligten Parteien thematisieren die soziale Lage des Landes bezogen auf die Realisierung des Bildungsauftrages und favorisieren eine Ressourcenverteilung nach Sozialindikatoren. Eine Zuweisungsrichtlinie für das nichtunterrichtende pädagogische Personal (Zeile 2715/2716) und neue „Quartiersbildungszentren“ (Zeile 2728 ff.) dürften dabei hilfreich sein. Überraschend mutet allerdings der Vorschlag der Koalitionsparteien aus Bremerhaven an, bei Nichterreichen der Mindeststandards „längere Verweil- und Lernzeiten in den einzelnen Schulstufen ermöglichen“ (Seite 11) zu wollen. Eine Lektüre beispielsweise der Grundschulverordnung hätte da schon geholfen, sieht diese doch in § 7 u.a. eine „Höchstverweildauer“ von fünf Jahren ausdrücklich vor. So bleibt immerhin ein Bekenntnis aus Bremerhaven zur Nutzung gültiger Rechtsnormen.

Eingebaut in dieses Seestadt-Papier ist allerdings ein echter politischer Sprengsatz. Im besagten Text steht, dass „der Qualitäts- und Leistungsgedanke mehr in den Vordergrund gestellt werden“ (Seite 6) muss. Einmal abgesehen von der Unterstellung an die Beschäftigten, ihnen würde eine angemessene Entwicklung der Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen nicht gelingen, kommt wenige Absätze später die eigentliche Zielsetzung dieser Aussage zum Vorschein. Unverhohlen werden die Schulkonferenzen zu Beschlüssen aufgefordert, neben Leistungsbeschreibungen auch Ziffernnoten durch die Lehrkräfte erteilen zu lassen und diese in den Zeugnissen zu dokumentieren. Da es in allen Grundschulen dieses Bundeslandes keine Ziffernnoten mehr gibt, wird hier ein offener Kulturkampf angezettelt, und zwar gegen die Landesregierung. Wenn man weiß, dass laut Zeugnisverordnung §18 (2) eine Schulkonferenz nur mit Zweidrittelmehrheit einen Antrag auf Genehmigung des Erteilens von Ziffernnoten bei der zuständigen Senatorin stellen kann, werden die Koalitionäre vermutlich aktiv auf die Schulen zugehen wollen und damit versuchen, von den eigentlichen Problemen abzulenken.

Sollte jemand Interesse an einer sachlichen Auseinandersetzung um den Wert und Nutzen von Ziffernnoten haben, so sei auf die Kleine Anfrage der CDU verwiesen, die der Senat am 09.01.2018 beantwortet hat (vergl. DS 19/1469) und in der die zentralen Argumente über die mangelnde Aussagekraft von Ziffernnoten nachzulesen sind.

Struktur und Inhalte

Das grundlegend unterschiedliche Verständnis der beiden Koalitionen in Bremen und Bremerhaven von schulischer Bildung wird mehrfach in den Papieren deutlich. Allein der Satz „Kein Kind wird ohne Talent geboren“ aus dem Bremerhavener Papier lässt aufhorchen. Die daraus abgeleitete individuelle Förderung der verschiedenen Talente, die in der Person des Kindes angelegt seien sowie der damit verbundenen besonderen Begabungen (Seite 6/7) deuten auf ein starres, eingeengtes Menschenbild. Von dieser Vorstellung menschlicher Entwicklung in vorgezeichneten Entwicklungsbahnen haben sich selbst konservative – allerdings nicht reaktionäre – Bildungswissenschaftler:innen zunehmend verabschiedet.

Das Papier der Landeskoalitionäre weist dagegen Anknüpfungen an eine zeitgemäße Pädagogik aus: Für unterschiedliche Lerntempi wird die verstärkte Nutzung jahrgangsübergreifenden Lernens empfohlen (Zeile 2804), hinsichtlich der Reduzierung sozialer Ungleichheiten eine Perspektive auf „die gebundene rhythmisierte Ganztagsschule“ (Zeile 2874) eröffnet und auf intensiver zu nutzende Potenziale pädagogischer Maßnahmen (neue pädagogische Konzepte, Demokratiepädagogik, Projektunterricht, alternative Leistungsbewertung, Selbstorganisation von Schüler:innen usw.) verwiesen (Zeile 2896 ff.). Zu dieser Ausrichtung von Bildung wird ausdrücklich ermutigt (ebenda).

In beiden Papieren wird auf eine engere Zusammenarbeit beim Übergang von einer Schulstufe auf die nächste abgehoben (HB: Zeile 2737, Brhv: Seite 6), man spricht sogar von Verbünden (HB: Zeile 2753, Brhv: Seite 8) . Dies ist unbedingt erstrebenswert. Allerdings sollte man diesen Gedanken auch konsequent zu Ende denken und die freie Anwahl der Schulen beim Eintritt in die Sekundarstufe I mindestens überprüfen. Bei der derzeit praktizierten Konstruktion von Kooperation und Wahlfreiheit konkurrieren gegenläufige Zielvorstellungen.

Die Bremerhavener Schlusspointe

Ganz am Ende der 65 Seiten aus Bremerhaven werden die neuen Magistratsposten verteilt. Erstmalig in der Geschichte erhält die FDP den Zuschlag für das Schul- und Kulturdezernat. Diese Zuordnung unterstreicht die bezogen auf das Land Bremen hin verfolgte unterschiedliche Ausrichtung der Schulentwicklung, zumal sich die FDP vornehmlich für Zensuren, Sitzenbleiben und die Privatisierung von Schullandheimen ausgesprochen hat. Der Konflikt mit der Landesregierung wird offenbar an dieser Stelle offensiv gesucht.

Bemerkenswert ist vor allem, dass die SPD Bremerhaven Positionen aufgibt, die sie in langer Tradition verfolgt hat. Augenscheinlich besaßen andere Magistratsbereiche für die stärkste Partei in der Stadtverordnetenversammlung eine höhere Priorität.