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Geschichte im Unterricht

Baldachin für einen Revolutionär

Toussaint Louverture bleibt eine enigmatische Figur: Warum der schwarze Spartakus nicht ins postkoloniale Schema passt.

Toussaint - Illustration Martin Krämer

Es muss ein grotesker Anblick gewesen sein: Im Herbst 1798 heißen vier weiße Plantagenbesitzer auf Haiti katzbuckelnd einen dunkelhäutigen Mann in französischer Militäruniform willkommen. Sieben Jahre früher hätten sie sich ihm, dem Aufständischen gegen die Sklaverei, wohl nur mit Pistole oder Peitsche in der Hand genähert. Nun bestehen sie darauf, ihn auf seinem Weg ins nahegelegene Port-Républicain mit einem Baldachin zu beschirmen. Der Geehrte lehnt zunächst ab und gibt sich bescheiden, lässt der Prozession dann aber doch ihren Lauf. In der Ortschaft warten Weihrauchfässer, Fahnen und weitere Ehrungen auf Toussaint Louverture.

Paradoxe Allianzen

Er hatte an der Erhebung der Versklavten von 1791 teilgenommen, aus den Kämpfenden mit spanischer Unterstützung eine Armee geformt und sich die Vertreibung der französischen Kolonialmacht zum Ziel gesetzt. Denn die durch Revolutionäre in Paris feierlich verkündete Gleichheit galt bekanntlich zunächst nur für wohlhabende weiße Männer. Auf Drängen der 'Societe des Amis des Noirs', in der sich abolitionistisch Gesinnte wie Jean-Pierre Brissot betätigten, fand sich der Nationalkonvent auch zu Reformen in den Kolonien bereit. Allerdings wurde lediglich freien Farbigen, sogenannten Gens de Couleur libre, die bürgerliche Gleichstellung versprochen. Deren Interessenvertretung trat übrigens für die Aufrechterhaltung der Sklaverei ein, von der wohlhabende Farbige profitierten und weiter zu profitieren gedachten. So schienen die schwarzen Versklavten auf sich selbst gestellt, hatten von den pathetischen Proklamationen aus Paris weiter nichts zu erwarten und gingen ein Zweckbündnis mit Frankreichs Rivalen ein, der spanischen Krone, in deren Hand der östliche Teil Haitis damals noch war. Als Waffenbruder Spaniens fährt Toussaint daher seine ersten militärischen Erfolge ein und steigt zum General auf.

Republikanischer Wandel

Die Revolte der Schwarzen von 1791 entwickelte unerwartete Wucht: Französische Truppen waren in ihrer Niederschlagung gebunden. Das dadurch entstandene Machtvakuum glaubte wiederum die britische Krone ausnutzen zu können und startete eine Invasion. Als Zentrum der globalen Zuckerproduktion waren die lukrativen Plantagen der Karibikinsel durchaus lohnende Beute. Zur Abwehr des neuen Invasoren war der revolutionäre Nationalkonvent plötzlich auf schwarze Soldaten angewiesen und musste ihnen im Gegenzug aus dem Mund des Gesandten Sonthonax 1793 die Emanzipation von der Sklaverei versprechen. Schon vorher waren aus den Wirren des Fraktionskampfes radikalere Jakobiner wie Robespierre zu Wortführern im Konvent aufgestiegen und hatten sich offen dafür gezeigt, nun doch allen Hautfarben auf St. Domingue Bürgerrechte zu gewähren. In dieser historischen Konstellation trifft Toussaint eine politische Entscheidung: Mit der nunmehr radikaleren französischen Führung glaubt er eher das Ende der Sklaverei erreichen zu können – vor allem, wenn diese in militärischer Bedrängnis ist – als mit der Kolonialmacht Spanien. Er wechselt die Seiten.

Ein Systematiker

In den folgenden Jahren befreit Toussaint Louverture die Insel dank seiner überragenden militärstrategischen Fähigkeiten vom britischen Aggressor. Der Sieg ist aus seiner Sicht nur durch eine disziplinierte Armee moderner Prägung zu erringen. Gewiss schätzt er die Guerillataktiken der Bossales, also derjenigen Versklavten, die noch in Afrika geboren waren. Oft hatten verlorene Stammeskriege ihnen ihren elenden Status eingebrockt, sie hatten also noch zu kämpfen gelernt, ehe sie an europäische Händler verkauft wurden. Jedoch versucht er ihre Methoden mit Elementen europäischer Militärstrategie zu kombinieren. Er scheut sich nicht, Unterricht bei Offizieren zu nehmen und studiert Militärhandbücher, führt Ränge und Disziplin in seine Armee ein. Nach gewonnenen Schlachten wird er vom Gegner zum bedeutenden Verbündeten, nicht zuletzt, wie er immer wieder betont, zum Patrioten Frankreichs. Seitdem trägt er die Farben der Kokarde.

Ein Versöhnler

Nachdem er die französischen Gouverneure, denen er anfangs unterstellt war, erfolgreich ausgebootet und damit auch politisches Geschick bewiesen hat, steigt er de facto für einige kurze Jahre zum Alleinherrscher über die Kolonie auf. In dieser Zeit befreit er alle Schwarzen aus der Sklaverei, nicht nur diejenigen unter den Kämpfenden, denen Sonthonax es als individuelles Privileg versprochen hatte. Im Gegensatz zu früheren Aufständen wie dem des legendären Makandal plant er nicht, alle Weißen zu vertreiben und die erlittenen Qualen blutig an ihnen zu rächen. Stattdessen folgt Toussaint einem gewissermaßen universalistischen Prinzip: Weißen und Farbigen reicht er die Hand zu Versöhnung, mehr noch, den Plantagenherren wird eine Wiedereinsetzung in ihr Eigentum angeboten, sofern sie sich mit der Abschaffung der Sklaverei und der Gleichstellung aller Bevölkerungsteile ohne Ansehen der Hautfarbe abfänden. Das erklärt wohl die unerwartete Servilität der vier feinen Baldachinträger von Port-Républicain.

Glorienschein

Die Geschichte der Sklaverei und ihrer Abschaffung wurde lange im Zeichen sogenannter White Saviours wie Abraham Lincoln geschrieben. Der von Versklavten selbst entfachte Widerstand wird heutzutage weniger marginalisiert als in den frühen Tagen kolonialer Geschichtsschreibung: Zweifellos ein Fortschritt. Dennoch gab es nur eine einzige erfolgreiche Selbstbefreiung – die Revolution auf Haiti in den Jahren 1791 bis 1805. Es war Toussaint Louverture, der ihr seinen Stempel aufgedrückt hat, und folgerichtig galt er im 19. Jahrhundert Leuten wie dem afroamerikanischen Bürgerrechtler Frederic Douglass als leuchtendes Beispiel für den Befreiungskampf der Unterdrückten. Bald zirkulierten Illustrationen eines verwegenen schwarzer Mannes in französischer Generalsuniform, mit Säbel und Pferd, Spiegelungen ikonischer Napoleon-Darstellungen. Zumindest visuell wurde er bald nach seinem Tod zum Emblem für das, was nach einem modernen Begriff  Self-Empowerment heißt. Biografisch Forschende des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich auf die Quellen ernsthaft einließen, stießen gleichwohl auf Irritierendes, vor allem wenn sie selbst aus einem postkolonialen Ansatz heraus arbeiteten.

Symbolfigur mit Widersprüchen

Zu den einflussreichste Publikationen über Toussaint gehört jenes Werk des Historikers C. R. S. James, welches ihn 1938 schon im Titel zum 'schwarzen Jakobiner' erhebt. Mittlerweile gilt diese Zuschreibung eher als Projektion. Mit dem radikalen Republikanismus des Pariser Kleinbürgertums haben seine gesellschaftspolitischen Ideen wenig gemein. Geboren als Sklave auf der Insel, also Kreole, erhält er seine Bildung durch Jesuiten, die ihm den Katholizismus nahebringen, den er gewissermaßen befreiungstheologisch interpretiert und dem er bis zum Ende treu bleibt. Eine weitere Quelle der Inspiration ist ihm der Aufklärer Raynal, dessen Werk über die Geschichte der 'beiden Indien' mit der Gewalt des Kolonialismus abrechnet. Seine Freilassung im Jahre 1776 erfolgte wohl durch den weißen Verwalter Bayon de Libertat, für den er Zeit seines Lebens freundschaftliche Gefühle hegt. Der Anthropologe David Scott kritisiert, Toussaint  habe sich letztlich westlichen Maßstäben unterworfen. Eine unlängst erschienene, umfangreiche Biografie des Historikers Hazareesingh versucht sich demgegenüber an einer Rehabilitation, verfällt dabei jedoch bisweilen in einen Personenkult, der eher an die Napoleon-Biografien des 19. Jahrhunderts erinnert. Dies wiederum hat gewisse objektive Anknüpfungspunkte im Wirken Toussaints.

Der 'schwarze Napoleon'

Denn obwohl er sich nach 1793 als Republikaner bezeichnet, spricht die Verfassung, die er 1801 für Haiti konzipiert, eine andere Sprache: Darin lässt er sich nach napoleonischer Manier zum Diktator auf Lebenszeit ernennen und gibt den politischen Organen des künftigen Staates nur scheindemokratische Rechte. Der überzeugte Katholik nötigt seiner Bevölkerung, obwohl in ihr die synkretistische Praxis des Voudou dominiert, die eigene Konfession als Staatsreligion auf, und das zu einer Zeit, als selbst die autoritäre Verfassung des Thermidor in Frankreich noch Religionsfreiheit gewährt. Während das liberale französische Großbürgertum den Frauen die Scheidung erlaubt, erschwerte Louverture sie den Frauen Haitis. Vor allem aber verliert seine Großtat, die verfassungsrechtliche Abschaffung des Eigentums an Menschen, etwas von ihrem Glanz, wenn man das System der Zwangsarbeit betrachtet, das er an die Stelle der Sklaverei setzte, um die Zucker- und Tabakproduktion, Grundlage des Exports, aufrecht zu erhalten.

Im Bienenstock

Die von der Sklaverei Befreiten mochten ihre eigenen Pläne für die Zukunft haben. Viele von ihnen hätten die verhassten Plantagen, die Orte ihrer Traumatisierung, gerne verlassen.

Auf einer kleinen Parzelle eigenen Ackerlandes wären sie dem Rhythmus der Chain Gang und den  Zumutungen ihrer Vorarbeiter entronnen. Louverture hatte anderes für sie vorgesehen. In seinem Verständnis von Arbeit manifestiert sich das urbürgerliche Ressentiment gegen Müßiggang und die Glorifizierung von Fleiß und Bescheidenheit. Gesellschaftliche Arbeit verkörpert sich für ihn, unter Anspielung auf Mandevilles bekannte Fabel, im Sinnbild des Bienenstocks: „Sie arbeiten alle, jedes einzelne Tier trägt durch seine Bemühungen zum Glück des Kollektivs bei, und sie vertreiben diejenigen Mitglieder, die die Arbeit verweigern, denn sie tolerieren keine Faulheit in ihrer Mitte.“

Gesetze des Weltmarktes

In Toussaints Augen mussten die durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Plantagen wiederaufgebaut werden: Der Großteil der Staatseinnahmen, damit auch das für den Erhalt der Unabhängigkeit nötige Militär sowie der Lebensstandard der neuen 'schwarzen Bourgeoisie' aus Toussaints höheren Offizieren, von denen etliche sich verlassenen Besitz angeeignet hatten – alles hing daran.  Die befreiten schwarzen 'Cultivateurs' wurden also qua Gesetz zur Lohnarbeit in der verhassten Zuckerproduktion verpflichtet: Sie mussten entsprechende Papiere mit sich führen und konnten bei deren Fehlen als Landstreicher inhaftiert werden. Zwar sollten den Beschäftigten nach seiner Vorstellung angemessene Löhne gezahlt und minimale Standards im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen eingehalten werden, aber das Zwangsregime erzeugte gleichwohl Unmut und unterminierte die Reputation des 'schwarzen Spartakus'. Da die erhoffte wirtschaftliche Wiederbelebung auf sich warten ließ, setzte Toussaint seinen Mann fürs Grobe, General Dessalines, darauf an, den Arbeitszwang mit militärischer Härte durchzusetzen.

Der Knüppel der Gleichheit

Dies gelang und führte zu einer spürbaren Erholung des Exports, ließ viele der zwangsrekrutierten Arbeitskräfte indessen am Wert ihrer neuen Freiheit zweifeln. Zwar hatte Dessalines auf Geheiß seines Chefs den Gebrauch der Peitsche – des schlagendsten Symbols früherer Knechtschaft - verbieten lassen, nicht jedoch den des Knüppels, falls zur Erhöhung der Arbeitsintensität nötig. Revolten brachen aus, diesmal gegen den 'schwarzen Messias' und seine Verbündeten. Selbst die Marronage kehrte zurück, jene früher praktizierte Flucht von Gruppen Versklavter in entlegene Gegenden. Die Zahl der Marrones ist 1802 größer als zehn Jahre zuvor, und das, wo die Sklaverei doch eigentlich abgeschafft wurde. Der Oberbefehlshaber lässt das Militär auf die Revoltierenden los. Die Rolle des Bluthundes fällt, wieder einmal, Dessalines zu, der Arbeitende auf der Plantage von Plaisance mit Bajonetten niedermachen lässt. 

Zu Toussaints Erschrecken stellt sich heraus, dass kein anderer als sein Neffe und Vertrauter, General Moyse, in den er große Hoffnung gesetzt hatte, die treibende Kraft hinter den Erhebungen ist. Schon früher hatte dieser den versöhnlerischen Kurs seines Onkels gegenüber den Weißen und dessen Insistieren auf der Plantagenarbeit kritisiert. Er gab sich als Verfechter einer Landreform, soll freilich selbst großen Besitz angehäuft haben. Toussaint lässt ihn kurzerhand exekutieren. Falls er wirklich, wie der stets wohlmeinende Biograf Hazareesingh herausgefunden haben will, eine natürliche Abneigung gegen Gewalt verspürte, scheint er sie jedenfalls nach langen Jahren des Krieges überwunden zu haben: Eine Hinrichtung von vierzig Aufständischen, bei der diese durch Kanonenschüsse zerfetzt wurden, fand unter seiner Aufsicht statt.

Tragik einer erfolgreichen Befreiung

So bleibt das Erbe des schwarzen Spartakus umstritten. Seine Herrschaft endet mit der Entführung nach Frankreich und kläglichem Tod in napoleonischem Hausarrest. Die Abschaffung der Sklaverei hat den Befreiten, wenn auch nicht das Ende entfremdeter Arbeit, so doch zumindest einen privaten Raum der Entfaltung verschafft. Für selbsternannte Postkoloniale, wie sie gerade lautstark die Öffentlichkeit bevölkern, muss der überzeugte Katholik und französische Patriot, der seine Söhne nach Paris zum Studieren schickte, eigentlich ein verkappter 'Weißer' gewesen sein. Diese Leute glauben ja auch, 'weiße' und 'schwarze' Kultur seien wie zwei Schubladen, die nebeneinander, nach dem nationalistischen Kulturbegriff der europäischen Romantik, im Schrank der Weltkultur stecken. Stuart Hall, ein wirklich postkolonialer Denker,  wusste, dass die 'Hybridisierung' der Motor kulturellen Austauschs ist. Und der Gedanke besitzt, nach einem Ausspruch Brechts, keinen Reisepass.