Schulpolitik
Zeitgemäß soll sie schon sein
Die neuen Schulpolitischen Positionen der GEW und die Allgemeinbildung
In den Neuen Schulpolitischen Positionen fordert die GEW an prominenter Stelle „eine zeitgemäße Konzeption von Allgemeinbildung“ ein. Sie greift damit den offenen Horizont des Vorgängerpapiers von 2001 gezielt auf, um demokratische Prinzipien als Rahmen eines Bildungsprozesses hervorzuheben. Gerade dies begründet einige vertiefende Überlegungen. Die GEW eröffnet ihre Neuen Schulpolitischen Positionen mit acht Grundsätzen. Schon in der ersten dieser Aussagen legt sie fest: „Die Überzeugungen der GEW beruhen auf einem humanistischen Menschenbild“ (Bensinger-Stolze 2024, S. 3). Schnell ist man dann bei Humboldt, der Forderung nach Bildung als allgemeiner Menschenbildung, die zum Fundament des Menschlichen werde. Die menschlichen Kräfte mögen sich in Wechselwirkung mit der Mannigfaltigkeit der Welt zu einem Ganzen formen. Die allgemeine Bildung entwickelt sich dann in einer fortwährenden Tätigkeit mit dem Ziel, die eigenen menschlichen Möglichkeiten zu realisieren (vergl. Dörpinghaus 2019).
Nun sollten wir bei alledem nicht vergessen, dass die Inanspruchnahme des humanistischen Bildungsbegriffes eine wechselvolle Geschichte aufweist. Über die Jahrhunderte seit Humboldt betrachtet, ist die mit dieser Bildung verbundene Zielsetzung einer „Emanzipation des Menschen“ eine klassenspezifische, die eher selten die „niederen“ Gruppen der Bevölkerung einschloss. Wenn die GEW im zweiten Teil ihres ersten Grundsatzes richtigerweise nun ausdrücklich darauf beharrt, Bildung als Kategorie zur Emanzipation zu verstehen, so bezieht sie sich auf „die aufklärerische Sprengkraft von Bildung“ (Priebe 2019, S. 268). Ihr Anliegen besteht darin, die Menschen zu befähigen, herrschende Verhältnisse zu durchschauen und als veränderbar zu begreifen.
Allgemeinbildung und Inhalte
Einer Klärung bedarf damit der Aspekt, welche Inhalte Gegenstand von Allgemeinbildung sein sollen. Interessen spielen darin, wie geschildert, eine wesentliche Rolle. Bis in die Gegenwart hinein wird diese Debatte u.a. anhand der Ausgestaltung eines kulturell zu vermittelnden sogenannten „Kanons“ geführt, Dörpinghaus hat dessen jeweilige Konkretisierung als „historisch wendungsreich“ eingeschätzt (Dörpinghaus 2019, S. 37). Verstärkt aufgekommen ist diese Auseinandersetzung immer dann, wenn gesellschaftliche Entwicklungen nach Orientierung verlangten. Im Gegensatz zu den als zeitlos gültig verstandenen Inhalten einer weit zurückliegenden Vergangenheit ist der weiterhin artikulierte Wunsch nach einem verbindlichen Wissensbestand als Grundlage einer Allgemeinbildung in einer sich rasch verändernden Welt zwar nachvollziehbar, aber schwer realisierbar. Unbestritten, gerade im Geiste der GEW-Veröffentlichung, ist der Aspekt der Fachlichkeit in der Allgemeinbildung. Folgt man Oelkers, so sind fünf Kriterien maßgebend: die Wahl der Inhalte, der Anspruch der Rationalität, die Festlegung von Niveauforderungen, die Präsentation der Fachlichkeit in Personen und Lehrmitteln und deren freie Zugänglichkeit (vergl. Oelkers 2019, S. 20). Wie gelangen wir aber nun zu Entscheidungen über die tatsächlichen Inhalte?
Aufgreifen neuhumanistischer Allgemeinbildung durch Klafki
Klafki bezieht sich ausdrücklich auf die Überlegungen zur neuhumanistischen Allgemeinbildung, fordert aber deren kritische Reflexion. Auf dieser Grundlage formuliert er seine Leitfrage: „Welche Objektivierungen der bisher erschlossenen Menschheitsgeschichte scheinen am besten geeignet, dem sich Bildenden Möglichkeiten und Aufgaben einer Existenz in Humanität, in Menschlichkeit aufzuschließen …?“ (zitiert von Priebe 2019, S. 271). Allgemeinbildung in diesem Sinne bedeutet dann ein „Bewusstsein von zentralen Problemen der gemeinsamen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft gewonnen zu haben“ (Klafki 1985, S. 20). Sie betont die „Mitverantwortlichkeit aller“ und die Bereitschaft, an deren Bewältigung teilzunehmen (vergl. ebenda). Derartige „Schlüsselprobleme“ sind exemplarisch Gegenstand des Unterrichts.
Wo stehen nun die Neuen Schulpolitischen Positionen der GEW in diesem Kontext?
Zeitgemäße Allgemeinbildung
Im Verlaufe des Textes werden an verschiedenen Stellen Bezüge zu unserem Verständnis von Allgemeinbildung hergestellt. Insbesondere folgende Aussagen sollen verdeutlichen, worin das „Zeitgemäße“ dieser Überlegungen zu sehen ist. Wenn wir die Fähigkeiten zu Selbst- und Mitbestimmung sowie zur Solidarität als Rahmen begreifen, Menschen zu bilden, so beziehen wir uns unmittelbar auf Klafki, um die fortschrittlichen Momente des klassischen Bildungsbegriffs aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Die eigentlichen Inhalte müssen sich an ihrem Bildungswert für eine demokratische Gesellschaft messen lassen. Der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ kommt dabei größte Relevanz zu, werden in diesem Abschnitt die Schlüsselprobleme unserer Gesellschaft explizit benannt, u.a. die Demokratie-, Friedens-, Menschenrechts- und Klimabildung. Erstere wird ausdrücklich in einem eigenen Kapitel hervorgehoben, bezogen allerdings auf alle Mitglieder einer Schulgemeinschaft.
Keine verengte Allgemeinbildung
Mit dem Hinweis, einer Verengung von Allgemeinbildung entgegentreten zu müssen, werden instrumentelle Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in ein angemessenes Verhältnis zur Bearbeitung von Schlüsselproblemen gesetzt. Selbstverständlich sollten Kulturtechniken beherrscht werden, wenn es darum geht, sich exemplarisch mit den Schlüsselproblemen auseinanderzusetzen. Sie stehen damit im Dienste der Erschließung der Welt. Gefordert ist dabei der Erwerb weiterer grundlegender Fähigkeiten wie Kritik- und Argumentationsfähigkeit, Empathie oder Denken in Zusammenhängen.
Allgemeinbildung fußt auf Fachlichkeit im Sinne eines curricularen Gesamtangebots, welches sich auf politische Bildung, interkulturelles Lernen, Reproduktions- und Erwerbsarbeit, Medienbildung oder kulturell-ästhetische und körperbezogene Bildung bezieht. Schlüssig sind deshalb die Passagen im Text, die auf früh und breit aufgebaute Interessen bei den Lernenden verweisen, auf die Unterstützung einer lebenslangen Bildungsbereitschaft und die Fähigkeit, eigene Lernprozesse selber zu gestalten. Als ebenso bedeutend angesehen werden sollten die Vorschläge zur Gestaltung schulischen Handelns durch fächerverbindende und fächerübergreifende Formate oder auch durch forschendes, entdeckendes und interdisziplinäres Lernen.
Wir benötigen einen echten Aufbruch
Warum nun betont die GEW die Ausgestaltung von Allgemeinbildung so ausdrücklich? Wenn wir die von uns selbst eingebrachte Feststellung ernst nehmen, Bildung sei das soziale und kulturelle Fundament einer lebendigen Demokratie, dann gehört wirklich das gesamte Schulwesen auf den Prüfstand, wie im achten Grundsatz ausgeführt (vergl. Bensinger-Stolze 2024, S. 4). Die Klärung dessen, was Allgemeinbildung bedeutet, ist somit nicht marginal. Die Pädagog*innen müssen endlich in die Lage versetzt werden, ein inklusives Lernen zu ermöglichen, welches über einzelne Unterrichtsprojekte hinausgeht und in eine sinnvolle Lernprogression überführt werden kann. Entscheidend bleiben das Lernen am gemeinsamen Gegenstand und eine individuelle Förderung, die zu gemeinsamem Lernen befähigt. Das Verständnis von Allgemeinbildung ist entscheidend für die Auswahl der Lerngegenstände. Die Menschen sollen ein echtes Interesse an ihrer Welt aufbauen, ihr mit Neugier begegnen und in Erkenntnisprozesse einsteigen, die sie zum Aufbau von Mündigkeit führen.
Quellen:
- Bensinger-Stolze (2024): Antragsentwurf: Aufbruch! Schulpolitische Positionen der GEW, Frankfurt
Böttcher u.a. (2019): Allgemeinbildung im Diskurs, Hannover, darin:
Dörpinghaus: Die Grammatik der Allgemeinbildung; - Oelkers: Geschichte, Struktur und Entwicklung schulischer Allgemeinbildung;
- Priebe: Allgemeinbildung als schulische Kernaufgabe: ein konstruktiv-kritischer Blick auf die laufenden Diskurse
- Klafki (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim und Basel