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Rassismus und Kolonialismus als Unterrichtsthema

Wissenschaftlicher Kämpfer gegen die Biologisierung der Kultur

Franz Boas und die Entstehung der Cultural Anthropology - ungekürzter Artikel

Ab Herbst 1925 verbrachte die junge, zu dem Zeitpunkt noch kaum bekannte Ethnologin Margaret Mead einen längeren Forschungsaufenthalt auf Samoa. Sie erkundete die Vorstellungen indigener Frauen von Heirat und Sexualität und entwickelte daraus u.a. die folgenreiche These, dass jener enervierende Zustand, der in europäischer Tradition 'Pubertät' genannt wird, bei den Jugendlichen Samoas unbekannt war. Es handelte sich mithin nicht um eine anthropologische Konstante, son- dern um etwas historisch bzw. kulturell Produziertes. Ihre Forschungen sowie die ihrer Freundin und Kollegin Ruth Benedict sollten in den Folgejahren noch diverse andere Bastionen konservativer Moral wenn nicht schleifen, dann doch wenigstens mit sichtbaren Rissen zurück lassen. In ihrem kleinen Zimmer mit Veranda und Blick auf den Ozean hatte Mead ein Bild von einem älteren Herren mit markanten Zügen aufgehängt, den sie 'Papa Franz' nannte: Das war ihr wissenschaftlicher Mentor, ein deutsch-jüdischer Einwanderer, Professor für Anthropologie, der sich im Unterschied zu anderen Männern nicht zu schade war, Vorlesungen am Barnard College für Frauen in New York zu halten.

Wende in der Anthropologie

Als Gründerfigur der modernen Ethnologie in den USA kämpfte Franz Boas während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gegen die dominierende kolonialrassistische Ausrichtung des Fachs an. Die Gesellschaften Europas bildeten nach offizieller Sichtweise den Höhepunkt aller bisherigen Entwicklung und alle anderen Weltgegenden, nicht zuletzt sogenannte primitive Völker, waren in der Entwicklung zurückgeblieben, was in nicht wenigen Theorien 'rassischer' Minderwertigkeit zugeschrieben wurde. Boas setzte die kulturelle Prägung des Individuums an die Stelle sozialdarwinistischer Modelle von der Konkurrenz der Rassen und dem Recht des Stärkeren. Die angebliche Determination aller gesellschaftlichen Entwicklung aufs selbe Endziel hin verwarf er mithilfe empirischer Belege. So erschienen einerseits vormoderne Kulturen nicht mehr automatisch als defizitär, die Normen der europäischen Kolonialmächte andererseits nicht als naturgegeben, sondern Produkt kollektiver menschlicher Praxis. Damit ebnete Boas den Weg für eine wissenschaftliche Revolution, in deren Sog auch Kategorien wie Geschlecht und Sexualität als kulturell geformte entzifferbar wurden. Mit der für ihn charakteristischen Unvoreingenommenheit und einem offensichtlichen pädagogischen Talent wurde er zum Förderer einer ganzen Generation von Forschenden, darunter auffallend viele Frauen: Nicht nur Mead und Benedict, auch die afroamerikanische Schriftstellerin Zora Neale Hurston wurde in seiner 'Schule' der Cultural Anthropology wissenschaftlich sozialisiert. Boas seinerseits resümiert in seinen späteren Jahren: „Meine besten Studenten sind Frauen.“

Eine Jugend im Kaiserreich

Der deutsche Naturforscher, der ab 1886 in New York lebte, muss seinen amerikanischen Bekannten einigermaßen teutonisch vorgekommen sein – mit dem von Mensurnarben übersäten Gesicht, regelmäßig ausbrechendem Jähzorn und einem charakteristisch 'germanischen' Akzent. Ironischerweise entstammte Franz Boas, 1858 geboren, einer jüdischen Familie, die sich im liberalen Milieu seiner Heimatstadt Minden ans deutsche Bürgertum assimiliert hatte. Die traditionellen religiösen Regeln wurden mit aufgeklärter Nonchalance praktiziert, politisch orientierten sich die Eltern an der Revolution von 1848. Zu den wenigen preußischen Charakterzügen, die sich der Burschenschafter in seiner Studienzeit angeeignet haben dürfte, gehörte eine skurrile Neigung zum Duell, der er seine erste Narbe zu verdanken hatte: Da sich ein Nachbar seinerzeit ob des von Boas und einem Kommilitonen produzierten Klavierspiels beschwert hatte, verlangte dieser die obligatorische 'Satisfaktion', was Spuren in beider Gesichter hinterließ. Das mag als Fußnote in einer Biografie angesehen werden, der ansonsten alles Standesdenken ein Gräuel war. Seine Auswanderung über den Atlantik fand der Liebe wegen statt, vielleicht spielten ebenso die günstigeren amerikanischen Forschungsmöglichkeiten in die Entscheidung hinein.

Feldforschung in der Arktis

Einen wesentlichen, womöglich den entscheidenden Impuls für seine späteren Einsichten empfing Boas auf jener ersten großen Expedition, die ihn in die nördlichen Gewässer Kanadas nach Baffin Island führte und dort über ein Jahr als Gast bei einem Stamm der Inuit verbringen ließ. Um deren kulturelle Artefakte für die Forschung fixieren zu können, erlernte er ihre Sprache. In Unmengen von Notizen protokollierte er Märchen, notierte Melodien und versuchte, typische Verhaltensweisen zu beschreiben, mit denen er konfrontiert war. War es ihm ursprünglich um sozialgeographische Aspekte des stammestypischen Jagdverhaltens gegangen, so verschob sich sein Interesse auf signifikante Weise: Zunehmend rücken die Inuit selbst ins Zentrum, und er versucht, aus deren fremdartigen Sitten die kulturgeschichtliche Entwicklung des Stammes herauszulesen. An seine spätere Frau, Marie Krackowizer, schreibt er: „Ich frage mich, welche Vorzüge unsere 'gute Gesellschaft' vor den 'Wilden' hat und finde, je mehr ich von ihren Gebräuchen sehe, dass wir wirklich keinen Anlass haben, verächtlich auf sie herab zu sehen“. Das war im Jahr 1883. Boas war fünfundzwanzig und hatte gerade sein Studium abgeschlossen.

Gegen die Hierarchisierung der menschlichen Entwicklung

Nach mehreren vergeblichen Anläufen gelingt ihm 1886 der Umzug in die Vereinigten Staaten. Noch hindert ihn sein offenbar schleppender Vortragsstil im Englischen an einer akademischen Karriere, doch ergattert er eine Anstellung bei der Zeitschrift 'Science'. Der kaum dreißigjährige Redakteur schreckt nicht davor zurück, sich gleich schon mit den Koryphäen der gerade aufblühenden amerikanischen Anthropologie anzulegen. Die Kontroverse nimmt mit Boas' Kritik an John Wesley Powell ihren Anfang, jener anerkannten wissenschaftlichen Autorität, dessen völkerkundliche Schädelsammlung eine Treppe in der Washingtoner Library of Congress zierte. Sie repräsentierte dort die  vermeintliche Entwicklungsgeschichte der Menschheit, deren Gang je nach Vorliebe durch Gott oder die Evolution vorgezeichnet war. Aufbauend auf den Theorien von Lewis H. Morgan nahm Powell an, menschliche Gesellschaften liefen entlang einer gesetzmäßigen Abfolge, bestehend aus den drei Stadien Wildheit, Barbarei und Zivilisation. Zugrunde lag die gewissermaßen geschichtsphilosophisch grundierte Idee eines Wirkens darwinistischer Prinzipien auf dem Feld menschlicher Gesellschaft. Keine Frage, an welcher Stelle die europäischen Weltmächte samt den aufstrebenden USA eingeordnet werden konnten: Sie waren schon ziemlich nah am Zielpunkt. Allen anderen Ethnien wurde entlang der hierarchischen Achse ihr subalternes Plätzchen zugewiesen. Boas formuliert erste kritische Gedanken dazu in seiner Zeitschrift und muss zurück rudern, nachdem er Gegenwind von Seiten der Kritisierten bekommt.

Ein mächtiger Gegenspieler

Als 1916 das berüchtigte Werk 'Der Untergang der großen Rasse' des selbsternannten Rassentheoretikers Madison Grant erscheint, das die Angst der weißen amerikanischen Eliten vor dem sozialen Aufstieg freigelassener Schwarzer sowie 'minderwertiger' Einwanderergruppen in ein rassistisches Untergangsszenario gießt, tritt Boas als dessen Gegenspieler auf den Plan. Er schlägt die Hirngespinste von weißer Suprematie mit deren 'eigener Waffe' (H.W. Schmuhl), der Vermessung von Körperformen. Während diese bei Grant und Konsorten nur dazu dient, vorab feststehende Wertungen mit willkürlich zusammengesammelten Messergebnissen zu dekorieren, um ihnen wissenschaftliche Weihen zu verleihen, begibt sich Boas ernsthaft in die Niederungen der Empirie. Eine mittlerweile errungene Position als Professor an der Columbia-Universität verschafft ihm die Mittel dafür. In großangelegten anthropometrischen Forschungen – Boas schreckt vor Schädelmessungen nicht zurück – demonstriert er, dass es keine den Hautfarben entsprechenden festen Körpertypen gibt. Schon die Kinder eingewanderter Eltern aus erster Generation verändern sich im Körperbau statistisch messbar in Anpassung an die neuen Gegebenheiten, etwa veränderte Ernährung. Grants ewiger, göttlich-natürlicher Rangordnung setzt Boas die kulturelle Formbarkeit von Körper und Geist entgegen, wenngleich er einen Rest von biologischer Determination nicht ausschließt.

Im Kampf gegen Pseudo-Wissenschaft

Aber die Frage wird nicht nach Plausibilität entschieden – den amerikanischen Eliten passt Grants Suprematismus besser ins Konzept. Seine Warnung vorm Kulturverfall durch Rassenmischung, der nur durch politisch herbeigeführte Segregation und Zuchtwahl abzuwenden sei, findet zudem weltweite Verbreitung. 1925 erscheint eine ins Deutsche übersetzte Ausgabe seines Hauptwerks und inspiriert den aufstrebenden Politiker Adolf Hitler zu Beifallsstürmen. Boas erkennt die politische Brisanz solcher Pseudo-Wissenschaft. Er sieht in seinen Erkenntnissen den Auftrag, sich als Stimme der Aufklärung in politische Debatten einzumischen. In den USA setzt er sich als einer der ersten weißen Professoren schon 1911 mit W. E. B. Du Bois für die Gleichstellung Farbiger ein. Später beobachtet er die Ereignisse in seiner alten Heimat, vor allem den Aufstieg des Nazismus, mit großer Sorge. Ein Protestbrief des über siebzigjährigen Forschers an den damaligen Reichspräsidenten Hindenburg warnt 1933 eindringlich vor dem brauen Ungeist.

Die Situation in den Dreißigern

Grants Machwerke sind nur der ideologische Ausdruck einer politischen Entwicklung, die zwischen 1910 und 1950 zu einwanderungsfeindlichen Gesetzen in den USA führt: Unterschieden wird zwischen angloamerikanisch-protestantisch etikettierten Ethnien, welche weiterhin relativ großzügig Zutritt genießen, und allen anderen, die als potentiell unproduktiv, gefährlich, schädlich kategorisiert werden und daher allenfalls quotiert zuwandern dürfen. Das macht sich auch, aber nicht nur, an Hautfarbe fest und hat prekäre Auswirkungen nach der Machtübernahme Hitlers. Menschen aus slawischen Ländern zählen zu den Benachteiligten der amerikanischen Politik, weshalb jüdischen Ausreisewilligen mit polnischem Pass oft nur Palästina als Ziel bleibt, selbst wenn sie nicht von zionistischen Ideen erfüllt sind. Hinzu kommen die aus Nazideutschland Vertriebenen. 1935 etwa reisen mit 60 000 Personen so viele wie in keinem Jahr zuvor ins britische Mandatsgebiet ein. Der institutionalisierte Rassismus in den USA und der deutsche Antisemitismus - sowie die antijüdische Praxis vieler anderer Länder - greifen also aufs Schändlichste ineinander, wenn es darum geht, jüdisches Leben auf dem Planeten immer schwerer zu machen.

Kulturrelativismus

Der von Boas initiierten Forschungsrichtung wurde der Stempel Kulturrelativismus aufgedrückt. Mit Recht, insoweit sie die Verschiedenheit von Kulturen aus deren jeweiligem geografischen und historischen Kontext erklären und nicht an vorausgesetzten 'ewigen Gesetzen' bewerten will. Dabei werden 'eigene' kulturelle Gegebenheiten nicht privilegiert, im Gegenteil landen auch sie auf dem Seziertisch nüchterner Analyse. Dies ist nicht in einen Topf zu werfen mit einem Kulturrelativismus postmoderner Machart, der in radikaler Pose auch das Denken selbst als westlichen Spleen verwirft und, etwa im Begriff des Logozentrismus bei Derrida, auf direktem Wege in die Falle der Selbstwiderlegung tappt: Die Gültigkeit der Logik mit logischen Mitteln zu bestreiten, bleibt ein Unding, auch wenn sie im Gestus weltumarmender 'Wertschätzung' sich präsentiert. Bei Boas paart sich die relativierende Nüchternheit gegenüber dem Eigenen wie dem Fremden mit einem Universalismus der Wissenschaft, der es ihm überhaupt nur erlaubt, in den Dreißiger Jahren die Rassenlehre der Nazis als widersinnig zu attackieren. Wird hingegen das Denken zur kulturellen 'Eigenheit' relativiert, so nimmt Kritik sich selbst die Spitze: Tritt sie nicht mehr in einen verbindlichen Streit um Argumente ein, sinkt sie zur beliebigen Meinung neben anderen hinab und beraubt sich so ihres Existenzrechtes. Das war Boas' Sache nicht, er glaubte zeitweilig, darin allerdings einem naiven Aufklärungsoptimismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, auch die Ideologen der NS-Rassenlehre müssten ihre Denkfehler einsehen. Der in Bremen bisweilen immer noch verehrte Kaffeehändler und Nazi Ludwig Roselius versuchte 1935 in einem Brief Boas davon zu überzeugen, dass dank der Machtübernahme Hitlers Ruhe und Ordnung im Land herrsche. Dieser antwortete, bezeichnenderweise auf Englisch: „Ich glaube Ihnen, dass in Deutschland Ruhe herrscht. Ruhe herrscht auch auf einem Friedhof.“ Franz Boas starb 1942, im Jahr der Wannseekonferenz, die Erfahrung von Auschwitz blieb ihm erspart und damit auch die Prüfung, die diese für seinen liberalen Fortschrittsglauben womöglich bedeutet hätte.

(Eine gekürzte Fassung diese Textes findet sich in der Ausgabe 3-21 der blz abgedruckt)

Literaturempfehlungen:

Der amerikanische Politologie Charles King hat in seinem Werk ‚Die Schule der Rebellen“, das 2020 in einer deutschen Übersetzung erschien, Boas und die von ihm begründete Forschungsrichtung wieder ins öffentliche Gedächtnis gerufen. Auch wenn seine Darstellung gelegentlich ins Anekdotische abgleitet, ist sie als Einführung zu gebrauchen. Eine ausführliche und akribisch recherchierte Biografie liegt mittlerweile aus den Händen von Rosemary Levy Zumwalt vor, mit dem Titel:

‚Franz Boas: The Emergence of the Anthropologist‘ (2019). Bislang wurde sie noch nicht ins Deutsche übersetzt.