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Schulpolitik

Wir müssen miteinander reden!

Zeiterfassung und Arbeitsinhalte

Illustration: https://www.iwataillustration.com

Im Bildungsmagazin 5/24 wurde erneut deutlich, dass die ausstehende Arbeitszeiterfassung sich auf quantitative Aspekte des Zeitverbrauchs bezieht. Nur am Rande weist Wilfried Meyer auf den Unterschied zwischen Belastung (äußere Einwirkungen) und Beanspruchung (persönliche Belastungsreaktionen) hin. Würde die Arbeitszeit fair gemessen, würden dann glücklichere Lehrkräfte besseren Unterricht machen? Eine potenzielle Überstundenvergütung senkt nicht die Beanspruchung. Der Kampf um die Realisierung der Arbeitszeiterfassung kann daher nur Mittel zum Zweck sein. Aber welchen Zweck verfolgen wir?

Inklusion

Mit dem § 3 (4) BremSchulG besteht seit 2009 die Pflicht zur inklusiven Schulentwicklung. Ein Auftrag, der, wie Bernd Winkelmann im selben Heft berichtet, grundsätzlich von den GEW-Mitgliedern für richtig erachtet, in der Umsetzung jedoch vielfach als schwer leistbar empfunden wird. Das ist nicht verwunderlich. Die 22 Schüler:innen einer inklusiven Klasse haben explizit Anspruch auf einen Unterricht, der ihre individuelle Lernausgangslage berücksichtigt. Eine Sek-I-Lehrkraft muss daher in ihrer Unterrichtsplanung wöchentlich 27 * 22 Kinder und Jugendliche berücksichtigen. Rechnete man nur eine Minute Nachdenken pro Kind und Unterrichtsstunde, sprechen wir von zehn Zeitstunden pro Schulwoche für die Wahrnehmung eines einzelnen Aspekts des gesamten Arbeitsauftrags.

Mittelalterliche Handwerksmeister

Niemand kann allein in der erforderlichen Intensität fortwährend individualisierten Unterricht in angemessener Qualität erarbeiten. Inklusive Schulen sind ohne deutliche Veränderungen der Arbeitsplatzgestaltung nicht nachhaltig zu entwickeln. Noch immer sind die meisten Unterrichtsstunden Unikate, Einzelstücke, die von Lehrkräften wie von mittelalterlichen Handwerksmeistern erarbeitet werden. Der Inklusionsauftrag macht jedoch Verfahren erforderlich, mit denen Unterricht in hoch professioneller Zusammenarbeit spezialisierter Fachleute gemeinsam seriell gefertigt wird. Der Lehrkräfteberuf braucht eine historische Weiterentwicklung von der individualistischen Handwerksarbeit mindestens zur arbeitsteiligen Manufakturarbeit. Dieser Notwendigkeit muss die Arbeitszeitgestaltung gerecht werden. Die Steuerung der Lehrkräftearbeit durch das Konzept der „Lehrerwochenstunde“ erzeugt Knappheit nur bezogen auf diesen einen Bestandteil der Arbeitsinhalte. 

Höhere Unterrichtsverpflichtung

Die 1990er-Jahre kennzeichnete ein Unterbietungswettbewerb der Kultusministerien um die niedrigsten Personalkosten. Das führte zu einem systematischen Mittelentzug im Bildungsbereich. In Bremen versuchten wir als Gegenmodell, ab 1995 mit dem „Kooperationsvertrag“ und einem Moratorium den Boden für neue Lehrerarbeitszeitmodelle zu bereiten. Das Vorhaben scheiterte jedoch mit dem Lehrerarbeitszeitaufteilungsgesetz von 1997. Ohne Aufgabenänderung wurde die Unterrichtsverpflichtung um zwei Stunden erhöht. Bernd Winkelmann stellte später fest, dass es dadurch schwer ist, in der Bremer GEW erfolgreich, fruchtbringend, über diese Themen zu diskutieren1. Eine faire Arbeitszeiterfassung kann letztlich aber nur einem Zweck dienen: die Belastungen im Lehrkräfteberuf so zu gestalten, dass mehr Arbeitszufriedenheit entsteht. Wir müssen daher diesen alten Faden wieder aufnehmen.

Arbeitsplatzteilung

Wesentliche Teile der Lehrkräftearbeit finden in häuslicher Abgeschiedenheit statt. Die Zweiteilung des Arbeitsplatzes führt dazu, dass Lehrkräfte, deren Arbeitserfolg von gelingender Kommunikation abhängt, in Wahrheit stark isoliert tätig sind. Aus diesem Grund stehen sie oft den unterschiedlichen Beanspruchungen und zeitweilig extremen emotionalen Herausforderungen allein gegenüber. Laut einer Studie zur Kooperation „(…) sind es gerade die Lehrkräfte, die intensiver kooperieren und dabei aufwendigere, arbeitsteilige Formen nutzen, die ein geringeres Belastungserleben äußern“ (S. 162). Die Autor:innen sprechen aber auch davon, dass diese Formen eher weniger realisiert werden (S. 161) und sich intensivere Kooperationsprozesse nicht durch Anweisung erreichen lassen (S. 162)2. Die Aufhebung (selbst)isolierender Bedingungen von Lehrkräftearbeit ist deshalb ein wichtiger Schlüssel zur Arbeitszufriedenheit, aber gleichzeitig auch ein zentraler Beitrag für den inklusiven Schulentwicklungsprozess. Die Schaffung von Arbeitsstrukturen, die eine gelingende Kommunikation wahrscheinlich und intensive kollegiale Zusammenarbeit möglichst unvermeidbar machen, ist somit schon aus gesundem Eigennutz gewerkschaftlicher Kampfauftrag. Lehrkräfte verstärkt in die Schule zu holen, greift jedoch dramatisch in deren bisherige Lebensgestaltung ein und findet somit selten Zuspruch. 

Super- und Intervision

Zusätzlich ist es erforderlich, systematisch Bausteine zum Umgang mit Belastungen und Beanspruchungen verbindlich in den Arbeitsalltag zu implementieren. Im Schulbarometer 2024 nennen Lehrkräfte das Verhalten der Schüler:innen als ihre aktuell größte Herausforderung3. Für manche Berufsgruppen ist beispielsweise regelmäßige Super- und Intervision fester und verpflichtender Bestandteil professioneller Aufgabenwahrnehmung und Teil der Arbeitszeit. Warum nicht im Rahmen einer fairen Zeiterfassung verpflichtend für Lehrkräfte? 

Teamarbeit

Da die Anforderungen nicht als Einzelperson zu bewältigen sind, braucht es Strukturen für eine organisierte Zusammenarbeit. Tatsächlich sind mehr und nicht weniger Präsenzzeiten erforderlich. Aber ein Erfordernis führt nicht notwendigerweise zu erfolgreicher Umsetzung. Die Klagen von Nikolas Schönberg über „Pausenlose Pädagogik“ machen das deutlich. Erfolgreiches gemeinsames arbeitsteiliges Arbeiten wird ohne gut durchdachte Strukturen nicht gelingen. Wie Untersuchungen zu „Social Loafing“ zeigen, ist Teamarbeit nicht trivial. Teamarbeit ist kein Wert an sich. Es ist zu prüfen, ob sich die Aufgaben überhaupt für die Bearbeitung in Gruppen eignen. Erzwungene Teamarbeit mit dafür nicht zweckmäßigen Aufträgen frustriert. Ab einer bestimmten Gruppengröße sind Teams weniger erfolgreich. In immer heterogener werdenden Lebenswelten können Konzepte homogen orientierten Unterrichts nicht mehr funktionieren. Inklusion ist auch deshalb alternativlos. 

Weniger führt zu mehr

Die Überwindung isolierender Arbeitsbedingungen, die Entwicklung von Konzepten zur konstruktiven arbeitsteiligen Gestaltung der Arbeit sind zwei zentrale Bausteine zur Hebung der Arbeitszufriedenheit und damit zentrale Aufträge für die gewerkschaftliche Arbeit. Weniger Unterricht, stattdessen eine zielgerichtete und im Rahmen von Prozessen des Innovationsmanagements gesteuerte Bereitstellung von mehr Zeit für Schülerinnen und Schüler, Eltern sowie Kolleg:innen sind unverzichtbare Forderungen, die parallel zur Messung des Zeitverbrauchs erfolgen müssen. 

„Die meisten erfolgreichen Menschen“, schreibt Andras Schleicher, „hatten in ihrer Schulzeit wenigstens eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat – weil diese ein Vorbild war, sich für ihr Wohlergehen und ihre Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot, wenn sie sie brauchten.“(4) 

Manchmal führt weniger tatsächlich zu mehr. 

Literatur:
1  Bernd Winkelmann: „Kernfragen der GEW. Positionen einer Bildungsgewerkschaft“. Bremen 2022, S. 26.
2  Muckenthaler, Magdalena; Tillmann, Teresa; Weiß, Sabine; Hillert, Andreas; Kiel, Ewald:  Belastet Kooperation Lehrerinnen und Lehrer? Ein Blick auf unterschiedliche Kooperationsgruppen und deren Belastungserleben. In: Journal for educational research online 11 (2019) 2, S. 147-168
3  Robert Bosch Stiftung (2024). Deutsches Schulbarometer: Befragung Lehrkräfte. Ergebnisse zur aktuellen Lage an allgemein- und berufsbildenden Schulen. Robert Bosch Stiftung, S. 14.
4  Andreas Schleicher: „Was macht den Lehrkräfteberuf für junge Menschen attraktiv?“ In: Erziehung und Wissenschaft, Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW. Heft 9/2024, S. 35.