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Bildung und Gesellschaft

Wie relevant ist der Rechtsstaat?

Von den kirchlichen Missbrauchsskandalen zum Fall Latzel

Die Verquickung von Staat und Kirche auf der einen Seite und der Umgang mit Religiosität in der Gesellschaft auf der anderen Seite zeigen, wie sehr die bestehenden Strukturen Änderungen verhindern und eine rechtsstaatliche Haltung aushebeln. Dies soll an zwei aktuellen Ereignissen bzw. Nachrichten der letzten Wochen verdeutlicht werden.

Im Mai wurde der Bremer Pastor Olaf Latzel vom Landgericht Bremen in zweiter Instanz vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen mit der Begründung, seine homosexuellenfeindlichen Äußerungen seien durch die Religionsfreiheit gedeckt. Soweit so bekannt…

Recherchen des ARD-Magazins report München haben kürzlich eine neue Dimension im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche aufgedeckt. Demnach haben Verantwortliche in der katholischen Kirche des Missbrauchs verdächtige Priester vor Strafverfolgung geschützt, indem sie sie in lateinamerikanische Länder versetzten. Der Vorgang erinnert stark an die sogenannten Rattenlinien nach 1945. Dabei handelte es sich um Fluchtrouten für Nazi-Verbrecher nach Südamerika, an deren Organisation hochrangige Vertreter der katholischen Kirche maßgeblich beteiligt waren.

Beiden aktuellen Meldungen ist gemeinsam, dass sie zeigen, wie wenig sich Vertreter kirchlicher Institutionen an Recht und Gesetz gebunden fühlen. Diese werden nur akzeptiert, wenn sie dem eigenen „Gesetz“, der Bibel, nicht widersprechen. Strafverfolgung wird vereitelt, wenn es sich um die eigenen Leute handelt.

Wie handelt der Staat?

Im Fall von Olaf Latzel wurden im Revisionsprozess zwei Gutachter:innen eingesetzt, die die Frage beantworten sollten, ob Latzels Äußerungen von der Bibel gedeckt seien. Das Geld für die Gutachten hätte man sparen können. Einigermaßen Bibelkundige wissen, dass in der Bibel Homosexualität verdammt wird. Mit der Beauftragung von Gutachten hat sich das Gericht schon vor Urteilsverkündung auf die Argumentation der Religionsvertreter eigelassen. Hat sich das BGB der Bibel unterzuordnen? Gilt der Gleichheitsgrundsatz nicht mehr, sobald Religion im Spiel ist?

Das staatliche Versagen in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche hat in den letzten Jahren immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Statt sofortiger staatsanwaltlicher Ermittlungen mit Beschlagnahmung von Akten wurden runde Tische eingerichtet und die Aufarbeitung der Kirche selbst überlassen. Eine Verhöhnung der Opfer.

Welche Reaktionen gibt es in der veröffentlichten Meinung?

Die Reaktionen in den Medien zeigen ein sich wiederholendes Muster. Nach der einhelligen Verurteilung der menschenfeindlichen Äußerungen Latzels sowie der ungenügenden Aufarbeitung des Missbrauchsskandals durch die katholische Kirche wird in verschiedenen Artikeln und Reportagen das Bild der guten Basis gezeichnet, das uns nahelegen soll, dass es sich hier um Auswüchse und Einzeltäter handelt, die mit der guten Sache nichts zu tun haben. Um diese Haltung zu verdeutlichen, soll hier stellvertretend auf einen buten & binnen Beitrag vom 20.03.22 eingegangen werden.

Der Autor outet sich gleich zu Beginn als überzeugter Christ und verurteilt sowohl Latzels Äußerungen sowie auch das Revisionsurteil des Landgerichts unmissverständlich. Mit Hilfe einiger Zitate aus dem 5. Buch Mose, die Beispiel sind für die menschenverachtende Haltung dieses christlichen Grundlagenwerkes, illustriert er ausführlich, warum es absurd ist, Straftaten mit Religionsfreiheit zu „entschuldigen“. Demnach gäbe es auch Situationen, in denen Mörder straffrei ausgehen könnten. Der Autor lässt es sich allerdings nicht nehmen, aus demselben Buch Mose zu zitieren, um seinen „Glaubensbruder“ Latzel und seine Fans an ein „paar Grundsätze ihrer Religion“ zu erinnern. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ und „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ findet der Autor ganz prima. Klar, die gute Basis pickt sich nur die netten Zitate aus der Bibel, um vom alle-Menschen-liebenden Gott zu erzählen. Es ehrt die moderaten Christ:innen, dass sie sich nur auf Bibelzitate beziehen, die für das gesellschaftliche Miteinander unproblematisch sind. Doch sie müssen sich auch die Frage gefallen lassen, wie sie es schaffen, über die völlig inakzeptablen Kapitel hinwegzulesen. Warum wird die Bibel weiterhin von allen Christ:innen als Wort Gottes betrachtet? Wie man am Beispiel des Artikels sieht, widerspricht die Bibel sich schon auf derselben Seite. Würde man sich eindeutig von den problematischen und demokratiefeindlichen Teilen dieses Buches verabschieden, bliebe wohl nur eine handliche Broschüre übrig. Diese Inkonsequenz ist Teil des Szenarios, das Gerichtsurteile wie im Fall Latzel ermöglicht.

Verdrängung und Verharmlosung  - Fazit

Zurück zur katholischen Kirche. Im Zusammenhang mit dem sogenannten „synodalen Weg“ werden wir überhäuft mit Reportagen und Berichten über die guten Katholik:innen, die für Reformen (z.B. Priesteramt für Frauen und Akzeptanz von Homosexualität) in ihrer Kirche kämpfen. Jedoch auch sie glauben nur an sehr kleine Schritte der Veränderung. Kleine Schritte? Auch hier muss die Frage erlaubt sein, warum man einer Organisation die Treue hält, die schwere Verbrechen besonders an Minderjährigen zugelassen hat und an Aufklärung und Entschädigung kein eindeutiges Interesse zeigt. Jede andere Institution mit dieser Verbrechensliste wäre geschlossen worden und die Mitglieder wären in (noch größeren) Scharen von Bord gegangen.

Wenn weiter die Augen verschlossen werden und strafbares Verhalten mit Religionsfreiheit entschuldigt wird oder als Auswuchs von einigen „da oben“ verharmlost wird, ist dem politischen Treiben derer, die diese Inkonsequenz ausnutzen, kein Ende zu setzen. Latzel ist kein Einzelspinner. Längst sind Evangelikale auf dem Vormarsch, die sich teilweise weniger politisch geben, es teilweise auch weniger sind und die trotzdem einen Resonanzboden für reaktionäre Gesellschaftspolitik bilden können, wie sich an der Abtreibungsdebatte in den USA zeigt.

In der gesellschaftlichen Diskussion wird im Zusammenhang von Religionen oft von spiritueller Bereicherung gesprochen. Sicher ist es wünschenswert, individuellen religiösen Prägungen Akzeptanz entgegenzubringen, aber das entbindet nicht von der Aufgabe, die gesellschaftsfeindlichen Anteile an Religionen auch zu benennen. Nein, nicht alles an Religionen ist eine Bereicherung.

Werden wir endlich eine säkulare Gesellschaft mit Religionen als Privatangelegenheit.

Leserbrief von Martin Korol zum Artikel von Friederike Beins „Wie relevant ist der Rechtsstaat?“

„Mit Pastor Latzel reden“ in der Ausgabe 4/22

Pastor Olaf Latzel leitet die evangelische Gemeinde der Kirche St. Martini, gelegen in Bremens Stadtmitte an der Weser. Die Autorin Friederike Beins (FB) malt in ihrem Artikel ein Bild von ihm, als sei er geradezu des Teufels. Der Artikel hat zwei Überschriften. Nr. 1 lautet: „Wie relevant ist der Rechtsstaat?“ Für wen war der Rechtsstaat irrelevant? Bezieht sie sich auf das Landgericht, das Latzel vom Vorwurf der Volksverhetzung freisprach? FB behauptet: „Mit der Beauftragung von Gutachten hat sich das Gericht schon vor Urteilsverkündung auf die Argumentation der Religionsvertreter eingelassen.“ Weiterhin behauptet sie: „Vertreter kirchlicher Institutionen fühlen sich an Recht und Gesetz nur gebunden, wenn sie dem eigenen `Gesetz`, der Bibel, nicht widersprechen.“ Belege für ihre Behauptungen legt sie nicht vor.

Der zweite Satz in der Überschrift lautet: „Von den kirchlichen Missbrauchsskandalen zum Fall Latzel“. Was hat Latzel mit den kirchlichen Missbrauchsskandalen zu tun? Nichts.! Pastor Latzel wird seit Jahren angegriffen – von Vertretern rot-grüner Politik samt AntiFa und von der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) selbst. Denen missfällt, dass er in Predigten und Ansprachen aus dem Alten Testament (AT) Stellen zitiert, die sie für anstößig halten. Das ist erklärlich: Das AT ist, wenn man so will, das Handbuch des Patriarchats. In Bremen indes weht ein antipatriarchalischer Geist.

Ja, der Fall Latzel ist wichtig. Unsere Schülerinnen und Schüler sollten sich damit beschäftigen. Das könnte gemäß dem Bildungsauftrag nach Artikel 32 und 33 der Bremer Landesverfassung von 1947 im Fach „Biblische Geschichte“ erfolgen. Allerdings wird es kaum noch unterrichtet. Religion und die Bibel spielen in Bremen kaum noch eine Rolle. FB könnte die Senatorin für Kinder und Bildung auffordern, das zu ändern. Aber wir wissen alle, das ist politisch nicht gewollt. Vernachlässigt wird bei uns nicht nur die biblische Geschichte, sondern der gründliche Blick in die Geschichte weltweit. Unsere Schülerinnen und Schüler bekommen meines Wissens stattdessen nur einen Einblick in ausgesuchte Kapitel der Weltgeschichte. Dabei hat Schule seit der Antike und seit der Aufklärung die Aufgabe, um es mit Immanuel Kant zu sagen, die Schülerinnen und Schüler zu ermutigen, sich des „eigenen Verstandes zu bedienen. Aude sapere!“ Auch auf die Gefahr hin, bei Mitmenschen damit anzuecken.

Pastor Latzel tut das. Ein Mann mit Ecken und Kanten. Ich meine, es lohnt nicht, ihn zu bekämpfen. Er ist einer der letzten markanten Vertreter eines untergehenden Standes, der nach der Reformation von 1517 fast 500 Jahre lang für Bildung sorgte. Damit ist jetzt Schluss. Wer will heute noch Pastor werden?! 90 Prozent der Kirchen sind sonntags ziemlich leer, gerade mal ein Dutzend alter Leute. Nicht nur die BEK, sondern auch die andere ehemalige Volkskirche ist am Ende, die katholische. Auch deren Kirchengebäude und Gemeindezentren werden in 30 Jahren zu einem Großteil zu KiTas oder Fahrradparkhäusern umgebaut worden sein. Dabei sind die meisten Christen in unseren Breitengraden so modern, friedliebend und tolerant wie nur selten in der Geschichte. Warum geht dennoch das Christentum nach 2.000 Jahren unter? Was kommt danach? Wer weiß das schon. Allemal ist es besser, mit jemandem zu reden als über ihn. Ich rege also an, das Gespräch mit Pastor Latzel zu suchen.

Liebe Leser:innen, die Redaktion weist darauf hin, dass der Inhalt der Leserbriefe die Ansicht der Einsender:innen wiedergibt, die mit der Meinung der Redaktion nicht unbedingt übereinstimmt. Auf diese Zuschrift wird in der nächsten Ausgabe eine Antwort veröffentlicht.