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Kernfragen der GEW Teil 13

Wie geht es eigentlich dem „einen Drittel“?

Die Armut in einem reichen Land – konstant und wirksam

Schon in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Begriff der Zweidrittelgesellschaft geprägt. Verbunden ist dieser mit Ausführungen u.a. zum Absinken eines erheblichen Teils unserer Gesellschaft unter die Armutsgrenze und der Konsequenz, ausgegrenzt und von der Teilhabe an sozialen und kulturellen Aktivitäten ausgeschlossen zu werden. Wenn sich in unserem Bundesland ein ausgewiesenes Expertentum verfestigt hat, dann bei dieser Problematik. Armut spielt sich hier quasi vor der Haustür ab, wenn auch nicht vor jeder.

Zur Anschauung: Einige wenige Daten

Legt man die übliche Definition von Armut zu Grunde, stehen Bedarfsgemeinschaften weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zur Verfügung. Für die Bundesrepublik gilt: 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren befinden sich in einer dauerhaften oder wiederkehrenden Armutslage – bei konstant hohem Niveau über die vergangenen Jahre. Das sind im Übrigen mehr als 2,8 Millionen Menschen (vergl. Funcke, Menne 2020).

Das Bundesland Bremen seinerseits erzielt mit 31,6 Prozent den höchsten Wert aller Bundesländer beim Anteil der unter 18-Jährigen in Familien im SGB II-Bezug. Zur Einordnung: In Berlin wurden 27,0 Prozent ermittelt, in Hamburg 19,7 Prozent, in Gesamtdeutschland 13,8 Prozent. Bremen weist dabei die zweithöchste Steigerungsrate der Länder in Relation zu 2014 auf. Im Städte- und Kreisvergleich überrascht die Geographie der Rangliste wenig: Nach Gelsenkirchen (41,5 Prozent) kommt Bremerhaven (35,2 Prozent), in Reichweite mehrerer Städte des Ruhrgebiets mit über 30 Prozent liegt Wilhelmshaven (33,8 Prozent) und im Unterallgäu ist auch die Armutsquote niedrig (2,2 Prozent) (vergl. ebenda).

Die Konsequenzen dieser Basisdaten finden sich in verschiedenen Sozialstatistiken. Ein Exempel: In der Tabelle zu den überschuldeten Privatpersonen steht Bremerhaven deutschlandweit mit 21,78 Prozent an der Spitze, einzelne Stadtteile erzielen eine Quote von fast 40 Prozent.

Die faktorisierte Aufstiegschance liegt bei 5,7

Wer im allerersten PISA-Report bis auf Seite 356 gekommen ist, kennt die Bedeutung dieser Zahl. Sie ist beispielhaft ausgewählt und besagt, dass die Chancen eines Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus einer Familie der oberen Dienstklasse 5,7-mal höher ist als für einen Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt (vergl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Nun sind seit dieser Studie zwanzig Jahre vergangen, wir haben mittlerweile Oberschulen und einen eingegrenzten Zugang zum Gymnasium. Der Zorn allerdings schwillt an, wenn jede neue Untersuchung belegt, dass der starke Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg weiterhin uneingeschränkt besteht.

Das deutsche Schulsystem reproduziert also unverändert herkunftsbedingte Ungleichheiten. Dies ist keine ausschließliche Frage der Struktur, sondern „ein kumulativer Prozess ..., der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird“ (ebenda, S. 372). Als Risikofaktoren ausgemacht sind eine „niedrige Sozialschicht, niedriges Bildungsniveau ..., Migrationshintergrund der Herkunftsfamilie sowie männliches Geschlecht“ (ebenda, S. 401). Früh hat Schleicher darauf verwiesen, dass der unterschiedliche „Zugang zu Ressourcen im ökonomischen, sozialen und kulturellen Sinne“ (Schleicher 2004, S. 2) eine entscheidende Rolle spielt. Diplomatisch formuliert, schätzt er ein, dass „die Verbindung von einem hohen Bildungsniveau zusammen mit einer hohen Chancengleichheit ... in Deutschland eine Herausforderung (bleibt)“ (ebenda, S. 3). Dies allerdings stimmt seit zwei Jahrzehnten.

Wachsende Ungleichheit in einem tief zerrissenen Land

Wenn die These vom „Aufstieg durch Bildung“ (überhaupt) stimmen soll, die Abhängigkeit des Bildungserfolges jedoch von der sozialen Herkunft in Deutschland so eindeutig ist wie nirgendwo sonst und man um diesen Zusammenhang seit zwanzig Jahren weiß, dann führt die Aufzählung auch nur einiger der daraus resultierenden Wirkungen zur Anklage – und dies ist in aller Deutlichkeit so gemeint.

Die in der Zwischenüberschrift zitierte Aussage von Ulrich Schneider (vergl. Rattenhuber 2020), dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, bündelt die Indizien: Wenn die Erwerbstätigkeit der Eltern nicht zur Existenzsicherung reicht, der Mindestlohn erbärmlich ist, die Tariftreue unterlaufen wird, wo es nur geht, die Allgemeinverbindlichkeit dieser Verträge auch von kirchlichen Arbeitgebern mit Elan verhindert wird, dann kommt das bei den Kindern an: Sie haben keinen ruhigen eigenen Ort zu Hause, kein Taschengeld, das ihnen gemeinsame Aktivitäten mit Gleichalterigen ermöglicht, müssen auch in der Schule für alles Anträge ausfüllen, werden beschämt und gedemütigt.

In diesen Zeiten der Seuche mit Schließung öffentlicher Einrichtungen geht es mittlerweile um die Zuverlässigkeit des Mittagessens in der Schule, um psychische Stabilität durch den Rahmen der (Klassen-) Gemeinschaft und die Segnungen einer Tagesstruktur sowie Ermutigungen durch die Pädagog*innen. Lethargie droht, ebenso Konzentrationsmangel, wenn Aufmerksamkeit wieder gefordert ist. Beschrieben ist damit die Gefahr, den Anschluss so richtig zu verlieren, in mehrfacher Hinsicht.

Armut grenzt aus, macht krank und vererbt sich, vermerkt die Arbeitnehmerkammer Bremen. Auch das ist eine Quelle aus dem Jahre 2002 (vergl. Arbeitnehmerkammer Bremen 2002). Der Sachverhalt ist bekannt, aber nicht behoben. Wie lange wird noch ermittelt, bis sich endlich grundlegend etwas ändert?

Eine Initiative für Kinder und Jugendliche

Angefangen hat es 1999 mit einer von der GEW initiierten Erhebung zur Armut in Bremerhaven. Allein die Aufbereitung und Veröffentlichung frei zugänglicher Daten war ein Politikum, führte aber zu einer bis dahin unerreichten Aufmerksamkeit für dieses Thema. Damit waren Voraussetzungen für politische Aktivitäten geschaffen.

Gegründet wurde daraufhin eine Initiative aus – in besten Zeiten – einem guten Dutzend Organisationen, Einrichtungen und Ämtern, die ein Interesse an „Jugend“ hatten. Aus den Beratungen der über die Jahre abgehaltenen 144 Sitzungen lassen sich einige Handlungsweisen ableiten, mit denen man der Armutsbekämpfung Nachdruck verleiht:

  • Die Formulierung griffiger politischer Forderungen aus Anlass von Kommunalwahlen mit Hilfe eines „Sofortprogramms“, welches u.a. kostenloses Schlittschuhlaufen oder auch die direkte Beteiligung von Kindern an der Innenstadtgestaltung einforderte (vergl. Initiative 1999, auch 2011). Diese Vorstellungen konnte man unmittelbar in den politischen Raum einbringen und jede*r verstand sie;
  • das Zusammenwirken von Kolleg*innen aus verschiedenen Bereichen der Jugend- und Bildungsarbeit, mit denen wir als Gewerkschaft ohne diese konkreten Anliegen nie zur gemeinsamen Tat gekommen wären – ein tragfähiges Bündnis also, ohne den Begriff jemals verwendet zu haben;
  • die Einbindung von Kindern und Jugendlichen („Zukunftswerkstatt Leherheide“), um zu beweisen, dass man praktisch etwas machen kann, sowie jährliche Veranstaltungen zum Weltkindertag, die sich damit befassen, wie man materiellen und ideellen „Reichtum“ für Kinder in vielfältiger Hinsicht bewirkt.

Im Endeffekt war die Initiative „BremerhavenerInnen für Kinder und Jugendliche“ auch auf institutioneller Ebene erfolgreich. Es gelang, einige Impulse für das städtische Handeln zur Umsetzung der Kinderrechte zu geben, insbesondere über den zuständigen Unterausschuss des Jugendhilfeausschusses. Mit ihr haben wir an den lokalen Bedürfnissen angesetzt. Aber man soll die pädagogischen Professionen und die Stärke der eigenen Organisation auch nicht überschätzen. Wir bewegen uns schließlich in einem gesellschaftspolitischen Desaster.

Armut und Bildung

Nun ist individuelle Unterstützung tatsächlich hilfreich. Gleichfalls hat der gerade geschilderte Zusammenschluss seine Sache gut gemacht. Zu konstatieren ist allerdings ebenso, dass Bildung „kein Wundermittel (ist), um die materielle Unterpriviligierung auszugleichen“ (Butterwegge 2020, S. 169), mithin „kein(en) Ersatz für eine gerechte Reichtumsverteilung“ (Klundt 2019, S. 63) darstellt. Armut ziehe, so Butterwegge, dagegen „fast zwangsläufig mangelnde bzw. mangelhafte Bildung nach sich“ (Butterwegge 2020, S. 167).

Schon seit den frühen Leistungsstudien ist bekannt, dass das Bundesland Bremen die höchste Sozialhilfedichte aufweist. Neuere Daten belegen die Konstanz dieses Sachverhaltes: Die Mindestsicherungsquote in Bremen beläuft sich auf das Doppelte im Vergleich zum Bundesdurchschnitt, auf das 3,5-fache in Bezug zu Bayern (Statistisches Bundesamt (Hrsg.) 2019, S. 244). Diese Tatsachen haben natürlich Auswirkungen auf die Ergebnisse der schulischen Vergleichsuntersuchungen.

Armutslagen verfestigen sich – wie erwähnt – über Generationen und angelangt sind wir hinsichtlich der Armutsquote bundesweit beim höchsten seit der Wiedervereinigung gemessenen Wert (vergl. Rattenhuber 2020). Stimmig dazu wächst die Zahl an langfristigen Geringverdienern stetig (vergl. Ott 2020).

Wo müssen wir über die Bemühungen im Bildungsbereich hinaus aber ansetzen, wenn mit dem aktuellen Bildungssystem soziale Ungleichheit reproduziert, Bildungsbiographien in Deutschland „weitgehend den Klassenlagen der Individuen“ (Butterwegge 2020, S. 166) entsprechen und bei drei Viertel der Armen ein unzureichendes Einkommen nicht ursächlich am Bildungsniveau dieser Personen liegt (vergl. ebenda, S. 168)?

Ungleichheit ist reversibel

Wenn man schon Bourdieu bemüht und den zentralen Begriff des „Habitus´“ als „Leitplanken“ (El-Mafaalani 2020, S. 132) einer dauerhaften Grundhaltung beschreibt, die Situation der Armen als „Management des Mangels“ (ebenda, S. 134) kennzeichnet, verbunden mit kurzfristigen Handlungsmustern, Nutzen- und Funktionsorientierung und Risikovermeidung (vergl. ebenda, S. 134), die sich nachteilig auf die Bildungschancen auswirken, dann muss man doch auch diese Herkunftssituation unter die Lupe nehmen!

Neben den „inneren“ Prozessen in den Schulen und im Bildungssystem, insbesondere angemessener Pädagogik und Ausstattung der Einrichtungen, sind die ökonomischen Grundlagen anzugehen. Egal, wie man die Anteile bestimmt: Die wenigen (ganz) Reichen besitzen zu viel an Geld und Gütern. Gewerkschaften haben lange Überlegungen zu mehr Gerechtigkeit vorgelegt: Spitzensteuersätze, Vermögens- und Erbschaftssteuern spielen dabei eine entscheidende Rolle, auch Absicherungen durch Grundeinkommen.

Dabei geht es um strukturelle Änderungen, die persönliche Perspektiven eröffnen, nicht lediglich um eine bessere Ausgangslage in der Konkurrenz um sichere und erträgliche Arbeitsplätze: Gewerkschaften treten weiterhin ein für die Teilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich sowie Bezahlung gesellschaftlich notwendiger Tätigkeit in Erziehung, Pflege, Umweltschutz usw. (vergl. Arbeitnehmerkammer Bremen 2004). Die Menschen brauchen Möglichkeiten, aber auch ein Motiv, sich aus der Armut zu befreien.

Man soll sich nichts vormachen: Armut ist ein Merkmal des Kapitalismus und mit der Forderung nach ihrer Beseitigung greift man ein Herrschaftsinstrument an. Nur: Bildung allein wird sie nicht beseitigen, eine Verbesserung der Situation gerade für das „eine Drittel“ unserer Gesellschaft gelingt nur durch eine tiefgreifende Umverteilung der Ressourcen. Die Leitplanken also müssen versetzt werden!

Quellen:

  • Arbeitnehmerkammer Bremen (2002, 2004): Armut in Bremen, Bericht 2002, Bremen
  • Butterwegge (2020): Ungleichheit in der Klassengesellschaft, Köln
  • Butterwegge (2012): Armut in einem reichen Land, Frankfurt/New York, 3. Auflage
  • Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000, Opladen
  • Funcke, Menne (2020): Kinderarmut in Deutschland, Fact sheet der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
  • Initiative BremerhavenerInnen für Kinder und Jugendliche (1999): 7 Punkte Sofortmaßnahmen zur Kommunalwahl 1999, Bremerhaven
  • Initiative BremerhavenerInnen für Kinder und Jugendliche (2011): 5-Punkte-Programm zur (Kommunal-)Wahl 2011, Bremerhaven
  • Klundt (2019): Gestohlenes Leben, Kinderarmut in Deutschland, Köln
  • Ott (2020): Corona wird Schulden steigen lassen, Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 11.11.2020
  • Rattenhuber (2020): „Gegen Armut hilft Geld“, Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 21./22.11.2020
  • Schleicher (2004): PISA 2003 Draft Briefing Note – Germany, Paris
  • Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2019): Statistisches Jahrbuch, Wiesbaden