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Bildung und Gesellschaft

Wie der Stückeschreiber am Antisemitismus scheiterte

Lektionen aus Brechts Stück „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“

Zum aktuellen kleinen Brecht-Jubiläum tritt im Feuilleton wieder das altbekannte Scherbengericht über den Dichter zusammen. Statt des Werks wird gewissermaßen die Biografie rezensiert. Ein Zeitgeist, dem die Idee des literarischen Kanons als überholt gilt, stürzt sich umso mehr auf die Person des Künstlers, um ihr mit Begeisterung die Reifeprüfung fürs Pantheon abzunehmen. Wie das Votum ausfällt, obliegt letztlich dem moralischen Geschmack der Rezensierenden. Brecht hat ein reichhaltiges und brillantes Werk hinterlassen, dem, wie allem, zugleich zeitbedingte Schwächen eignen. Seinen gesellschaftskritischen Anspruch ernst nehmen, hieße, gerade die programmatischen Lehrstücke auf ihre Stichhaltigkeit hin zu befragen. „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ gehört zu den schwächsten unter ihnen: Es dokumentiert das Scheitern des Autors im Versuch, den Antisemitismus des NS-Regimes auf den Begriff zu bringen.

1. Schon Anfang der dreißiger Jahre beginnt Brecht mit der Bearbeitung des Stoffs, den ihm Shakespeares „Maß für Maß„ liefert; am Ende hat er sich davon freilich weit entfernt. Das Publikum wird in die Ferne eines nach- oder halbkolonialen Agrarstaates versetzt, der in frühen Fassungen noch mit dem realen Peru betitelt, später zum fiktiven Jahoo verballhornt wird. Ein wenig lateinamerikanisches Flair liegt in der Luft, die Figuren tragen hispanisierende Namen, was ohnehin nur für die Handlungsebene der Parabel von Belang ist. Heraufbeschworen wird der ökonomische Typus eines durch Großgrundbesitz gekennzeichneten Landes, dementsprechend bilden die Herren des Bodens die herrschende Klasse. Politische Macht üben sie quasi direkt aus, der „Vizekönig“ ist einer der Ihren. Staatstheoretisch ist das Stück also von bezeichnender Schlichtheit, die sich schwerlich mit der unvermeidlichen dramaturgischen Reduktion verteidigen lässt. Die bäuerliche Bevölkerung muss auf gepachtetem Grund fronen. Aufgrund von Wirtschaftskrise und Pauperisierung ist sie in Aufruhr begriffen, große Teile organisieren sich im Kampfbund der „Sichel“ und führen Bürgerkrieg gegen Regierung und Grundbesitz. So weit die Ausgangssituation.

2. In der ersten Szene nun diskutiert der Vizekönig diese für den Staat bedrohliche Lage mit seinem Berater Eskahler. Der Dialog gerät zur politökonomischen Vorlesung: Krise, so lernen wir, resultiert aus Überproduktion, abwenden ließe sie sich durch einen Krieg um neue Absatzmärkte. Doch dafür müsste die „Sichel“ besiegt und das niedere Volk ideologisch wieder auf Opferbereitschaft gestimmt sein. Eine neue herrschaftliche Identifikationsfigur müsste her, nicht aus der Schicht der Grundherrn stammend, die gerade alles Vertrauen verspielt hat, wohl aber in ihrem Interesse regierend. Eskahler, seines Zeichens gewiefter Machiavellist, findet die Lösung in Gestalt des populären, „beim Mittelstand„ beliebten Demagogen Angelo Iberin. Dieser mimt den Sozialkritiker, jedoch führt er Armut und Krise auf seine spezielle „Rassenlehre“ zurück.

3. Die Bevölkerung zerfällt nämlich in zwei historisch verblasste ethnische Gruppen.

Das bedeutungslos gewordene Faktum wird von Iberin mit neuem politischen Inhalt gefüllt: Der „tschichische“ Teil der Gesellschaft, vage erkennbar an der Kopfform, sei eine vor Urzeiten zugewanderte, darum fremde Rasse. Die „Tschuchen“ wiederum – Rundköpfe – figurieren als produktiver Menschenschlag mit Eigenschaften wie Fleiß und Anstand. Der spitzere Kopf, vor Iberins Aufstieg lediglich Rudiment vergangener Stammeszugehörigkeit, wird nun zur Verkörperung eines eigenen, destruktiven Charakters. Attribute wie Gier und Verschlagenheit werden ihm zugeschrieben. Alles Elend geht aufs Konto der tschichischen Spitzköpfe und ihres verderblichen Einflusses auf die tschuchischen Rundköpfe. Eskahler wittert in Iberins Propaganda eine Chance, die rebellierende Bauernschaft entlang fiktiver Identitäten zu spalten. Er überredet den Vizekönig, Iberin die Regierungsgeschäfte zu übergeben.

4. Natürlich ist im Rückgriff aufs theatralische Motiv der höfischen Kabale Brechts Ironie spürbar: Die Mächtigen beraten im Geheimen und verschwören sich zu einem Plan, dessen Ausführung den roten Faden der Handlung bilden wird. Zum Teil mag sich diese Plattheit als spielerische Reminszenz ans klassische Drama verstehen oder aus dem Formgesetz der Groteske herleiten lassen. Irritiert wird jedoch, wer die Szene auf die Lehrabsicht des Stückes bezieht. Es fällt schwer, im charismatischen Populisten Iberin nicht die Züge von Hitler und Mussolini wiederzufinden. Gemäß der dramaturgischen Konstruktion wird er von der Grundbesitzerschicht als Marionette hervorgezogen, um durch symbolträchtige Inszenierungen die bäuerliche Klasse einzulullen. Was heißt das für die Bedeutungsebene? Ist die Machtübertragung an Hitler durch Hindenburg gar kein Umsturz, vielmehr nur Schachzug einer herrschenden Klasse im Krisenmodus? Ist es einerlei, ob mit Weimar die erste Republik auf deutschem Boden in den Konzentrationslagern zu Tode geprügelt wird, da sowieso nur die immergleichen Mächtigen im Hintergrund die Fäden ziehen und ihre Spielfiguren austauschen?

5. Für die sowjetmarxistische Staatsdoktrin, zu der Marx’ Werk in den Dreißiger Jahren verflacht war, konnten Rassismus oder Antisemitismus nur ideologische Ablenkungsmanöver sein: Die Energie der nach Revolution schmachtenden Massen, an der zu zweifeln Häresie gleichkam, musste auf ein Ersatzobjekt umgelenkt werden. Das Handeln der herrschenden Klasse wiederum wurde als rational im Sinne ihrer materiellen Interessen aufgefasst. Kaum vorstellbar, dass sie ihre eigenen Lügen nicht durchschaute: Ein solcher Standpunkt fällt hinter Marx„ Theorie vom falschen Bewusstsein zurück, derzufolge auch die Akteure des Kapitals nicht gegen die Täuschungen der gesellschaftlichen Oberfläche gefeit sind. Stets hat Brecht für sich beansprucht, ja geradezu damit kokettiert, seine marxistischen Studien auf dem Niveau seines Freundes, des innerhalb der KPD dissidierenden Theoretikers Karl Korsch betrieben zu haben. Damit bewahrte er sich zwar in mancher Hinsicht vorm stumpfen Dogmatismus stalinistischer Prägung. Indessen kam er über Horizont des Parteikommunismus nicht hinaus, wie der weitere Verlauf des Dramas demonstriert.

6. Die neue Regierung Iberins betont ihren klassenübergreifenden Charakter, gibt der tschichischen Rasse die Schuld an Krise und Armut, lässt Schlägertrupps auf Leute los, die man für Spitzköpfe hält und dadurch im Grunde erst zu solchen macht. Es gelingt Brecht, das Willkürliche faschistischer Schädelvermessungen in Szene zu setzen. Repressalien gegen einen tschichischen Ladenbesitzer – unschwer auf die Boykottmaßnahmen ab 1933 zu beziehen – lassen dessen Nachbarschaft kalt: Die Menschen sehen sich als Konkurrierende. Es kommt nun zum Schauprozess gegen einen der Oberschicht angehörigen Spitzkopf, den wohlhabenden Grundbesitzer de Guzman. Er soll ein rundköpfiges Mädchen der Unterschicht verführt haben. Hier scheint der Antisemitismus durch, Assoziationen an die Nürnberger Gesetze und die Infamie der „Rassenschande„ werden abgerufen. Das Spektakel soll die arbeitende Bevölkerung entzweien, indem es Spitz- und Rundköpfe gegeneinander aufbringt und letzteren als Surrogat sozialer Reformen den Kopf eines reichen Grundherrn auf dem Silbertablett serviert. Freilich lässt sich bezweifeln, ob revolutionär Gesinnte, die im System des Profits das Erzübel erkannt haben, sich durch einen reichen Sündenbock beeindrucken ließen.

7. Der Parteikommunismus der Zwanziger Jahre setzte Einsicht in die Notwendigkeit der Revolution bei den proletarischen Schichten als determiniert voraus. Was bei Marx zumindest in den frühen und mittleren Phasen seiner Theorie als geschichtsphilosophische Gewissheit formuliert ist, schien durch die Oktoberrevolution glorreich bestätigt, wenngleich am weltgeschichtlich unerwarteten Ort. Die Machtübernahme Mussolinis und Hitlers wurde anfangs als letztes Aufbäumen des Klassenstaates gegenüber dem bevorstehenden Umsturz fatal missinterpretiert. Auch von Brecht. Allerdings widerstand er dem Dogma von der unaufhaltsam revolutionären Kraft des Proletariats. Was seine guten Stücke auszeichnet, ist die demgegenüber realistischere Zeichnung der Figuren, gerade wenn sie Opfer des Systems sind. Mutter Courage etwa verherrlicht den Krieg keineswegs, erliegt jedoch der Illusion, in ihm durch Schläue überleben zu können. Ein Zwang zum politischen Widerstand, gar zur Umwälzung der Gesellschaft, kommt ihr folgerichtig überhaupt nicht in den Sinn. An ihrem Untergang, der sich im Verlust dessen manifestiert, was sie zu schützen suchte: ihrer Kinder, widerlegt Brecht das opportunistische Vertrauen aufs individuelle Sich-Durchschlagen innerhalb menschenfeindlicher Verhältnisse.

8. Eben diese Fixierung auf mehr oder weniger zweckrationale Akteure lässt ihn andererseits an sozialpsychologisch aufgeladenen Phänomenen wie dem Antisemitismus des Dritten Reiches scheitern. Die Parallellfigur zur Courage in den „Spitzköpfen“ ist der Pächter Callas, Vater des durch Guzman sexuell missbrauchten Mädchens. Im Rahmen des öffentlichen Prozesses wird ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil. Er repräsentiert den Typus des Ausgebeuteten mit Anfälligkeit für faschistische Agitation, fängt sogar an, sich abfällig über die Spitzköpfe zu äußern. Das öffentliche Interesse an seiner Person spricht nicht nur seinen Stolz an, er hofft – darin ökonomische Charaktermaske – ihm werde am Ende die Pacht erlassen. Dieses eigenen Vorteils wegen verzichtet er darauf, der Sichel beizutreten. Allerdings setzt hier wiederum die Lehrabsicht des Stückes ein: Nachdem der Aufstand geschlagen ist, taucht der Vizekönig aus der Versenkung auf und pfeift Iberin zurück. Grundbesitzer Guzman wird begnadigt und Callas von seiner Pacht natürlich nicht befreit; desillusioniert erkennt er seinen Fehler. Nichts Schlimmes scheint dem vertriebenen tschichischen Ladenbesitzer geschehen zu sein, er kehrt unbeschadet zu seinem Eigentum zurück. Es war alles nur Theater. So gibt es, wenn der letzte Vorhang fällt, eigentlich niemanden, der Iberins Rassenlehre ernsthaft anhing – allen war sie nur Mittel zum Zweck. Selbst Iberin lässt sich, unerwartet für einen Volkstribunen und literarisch unplausibel, zahm ins zweite Glied zurückstufen.

9. Wer versucht, den Holocaust mithilfe ökonomischer oder politischer Kalküle zu erklären, fällt auf eine Rationalisierung herein. Mag sein, dass Hitler geglaubt hat, die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg sei „jüdischer“ Ranküne zu verdanken, was wahnhaft genug war. Doch in Auschwitz wurden nicht nur der pazifistische Journalist oder die kommunistische Funktionärin jüdischer Herkunft getötet, sondern auch das zweijährige Kind aus Kroatien, der deutschnationale Kriegsteilnehmer und die Apothekerin aus Galizien, nachdem ihnen allen der gelbe Stern aufgedrückt worden war. Dies entbehrt jeglicher politischer Zweckrationalität, und jene barbarische Ökonomisierung, welche sich noch des Zahngoldes der Opfer und ihrer Haare bediente, war eine nachträgliche Maßnahme, lukrativ zwar, dennoch kompensatorisch. Den entfesselten Rassenwahn konnte Brecht 1933 noch nicht in seinem Ausmaß erahnen, spätestens jedoch nach 1945 hätte ihm sein Irrtum bewusst werden müssen.

10. Die Leichenberge in den Lagern waren echt, sie entstammten nicht der Requisite. In die Gaskammern strömte wirklich Zyklon B, kein Theaterdampf. Im Unterschied zur Figur des Guzman oder des spitzköpfigen Ladenbesitzers kamen die Ermordeten nicht zurück, kein deus ex machina blies die Verfolgung in letzter Sekunde ab, wie es der Vizekönig im Stück mit Bezug auf die tschichischen Grundherren tut. Brechts fester Glaube an die bevorstehende Revolution und den „Hauptwiderspruch“ des Klassenkampfes machte ihn blind gegen die Realität des geplanten, fabrikmäßigen Genozids. Selbst wenn die Denunziation „jüdischen Wuchers“ bereits im Kaiserreich in der Wirtschaftskrise von 1876 als fehlgeleiteter Antikapitalismus erschien – was August Bebel zu der Bemerkung veranlasste, es handele sich um den „Sozialismus der dummen Kerls“ – , hätte im Angesicht des Massenmordes klar sein müssen, dass Ideologien sich fatal verselbständigen können und Staatsgewalt nicht auf die simple Formel zu bringen ist, bloßer Popanz für die ökonomische Interessenvertretung des Kapitals zu sein. Marx' Begriff vom Staat als „ideellem Gesamtkapitalisten“ war deutlich differenzierter, reicht jedoch auch nicht aus, das Element des Psychotischen im Nationalsozialismus zu erfassen.

11. Damit es auch die Begriffsstutzigsten registrieren, lässt Brecht den Vizekönig in der Schlussszene sinngemäß zu Iberin sagen, die „Rassenlehre“ werde nun ad acta gelegt. Sie wird aus dem Verkehr gezogen wie ein billiger Trick, der seinen Zweck erfüllt hat; die lästige Nebenwirkung war, dass auch spitzköpfige Grundbesitzer ins Visier gerieten. Sollte auch hierin eine Parallele zum Antisemitismus intendiert sein, so führte sie in Abgründe, mit denen man Brecht kaum in Verbindung setzen möchte: Zählte er jüdische Geschäftsleute, weil doch irgendwie wohlhabend, zur Bourgeoisie, gegen die selbst ein Hitler nichts haben konnte? Im kalifornischen Exil traf Brecht 1941 auf Adorno und Horkheimer, die zu diesem Zeitpunkt sich der bitteren Realität ungleich ernsthafter gestellt hatten. Im Zerstörungswerk des deutschen Faschismus entzifferten sie neben imperialistischen Berechnungen zugleich machtvolle wahnhafte Potenziale der kapitalistischen Gesellschaft. Ob ihr Rückgriff auf die Psychoanalyse des autoritären Charakters zur Erhellung beitrug, ist diskutabel. Dennoch lag er näher an der Wahrheit als Brechts grandiose Verharmlosung der Rassenlehre zum propagandistischen Schmierentheater, das von seinen Regisseuren, dem Vizekönig und seinem Berater, also einflussreichen Drahtziehern, planvoll konspirativ in Szene gesetzt wurde. Peinlich nähert sich das Lehrstück damit affirmativ jener Verschwörungstheorie an, die es am Faschismus eigentlich zu erklären gehabt hätte.