Früher dominierten in der kinder -und jugendpsychotherapeutischen Praxis eher enger umrissene Symptombilder wie Stottern, Einnässen und Einkoten. Jetzt kommen immer öfter junge Menschen mit komplexen sozialen und emotionalen Verhaltensstörung. Und eine weitere, zentrale Veränderung hat der Psychoanalythiker festgestellt. "Es gibt heute eine klare Dominanz von Jungen in meiner Praxis zumindest bis zur Pubertät, danach heranwachsene junge Frauen, die vor allem mit körperbezogenen Symtomen und Essstörungen wie Magersucht oder Bulemie vorstellig werden." Eltern, Kinderärzte, Lehrer seien im Verlauf der Jahre zwar immer sensibler in bezug auf psychotherapeutische Fragen geworden, aber die Kehrseite ist die nicht seltene und schnelle Stigmatisierung der Kinder zu Problemfällen, wenn es sich oft auch um altersentsprechende Verhaltensauffälligkeiten hande.
"Was mit Spaß gelernt wird, behalten wir"
"Ich bin neidisch", bekennt Christian Warrlich, Facharzt für pychotherapeutisch Medizin mit Blick auf seine eigene Jugendzeit. "Die Kinder und Jugendlichen heute sind offener, freier, selbstbewusster, kommunikativer." Aber die Heranwachsenen von heute tun ihm auch leid. "Die Überforderungen nehmen stetig zu. Mädchen und Jungen müssen im Vergleich zu den früheren Jahrzehnten komplexere Aufgaben in unterschiedlichsten Bereichen lösen, leben oft unter vehementem Druck, müssen mit Beschleunigungen auf vielfältiger Art zurechtkommen und das häufig bei Wegfall von äußeren Strukturen, an denen sie sich orientieren könnten."
Für Warrlich, der auch Vorsitzender der Bremer Arbeitsgruppe für Psychoanalyse und Psychotherapie (BAPP) ist, werden kindliche Bedürfnisse und Rechte heute stärker betont, aber gleichzeitig werden Heranwachsende vor gesellschaftliche Herausforderungen gestellt, die im Widerspruch zu ihren Bedürfnissen stehen. Es ensteht für Mädchen und Jungen überall Optimierungsdruck: in der Familie, in der Freizeit, im Kindergarten, in der Schule. In einer Vortragsreihe, die noch bis April 2015 im Haus der Wissenschaft (Sandstraße 4/5) läuft, stellt die BAPP deshalb auch die Frage "Haben Kinder Zukunft?" in den Mittelpunkt (Nähere Informationen unter: www.psychoanalyse-bremen.de). Dass Kinder in Zukunft vor großen Herausforderungen stehen, ist für die Arbeitsgruppe keine Frage. Als Ankündigung zur Vortragsreihe heißt es: "Die moderne, erregte, flexibilisierte, beschleunigte und erschöpfte Gesellschaft pflügt sich um wie keine zuvor. Sie prägt Familie, Elternschaft kindliche Entwicklung und Erziehung."
Gesellschaftliche Veränderungen sieht der Facharzt auch im pädagogischen Bereich. "Immer mehr Eltern und Lehrer erziehen und unterrichten mit einer Art von Verhandlungspädagogik, die aber Kinder und Jugendlichen nicht selten überfordert. Wichtig, aber auch schwierig umzusetzen, wäre das Setzen und Halten von klaren Grenzen." Auch Rituale und Gewohnheiten im Umgang mit jungen Menschen seien wichtig, meint Warrlich. In diesem Zusammenhang wünscht er sich von den Lehrkräften vor allem, dass sie so unterrichten, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst oft Spaß am Lernen haben. "Denn alles was mit Affekten verbunden ist, behalten wir. Seien sie weiter mit Leib und Seele dabei, sorgen sie für eine haltgebende Umgebung. Bildung braucht Persönlichkeit und Identifikationsfiguren, gerade wenn sich komplexe gesellschaftliche Veränderungen vollziehen oder anstehen."
Warrlich hält deshalb gerade Investionen im Grundschulbereich für dringend erforderlich nach dem Motto "je früher im Lebensalter investiert wird umso effektiver" und stellt die Frage: "Warum verdienen eigentlich Grundschullehrinnen und -lehrer - wie in Skandinavien - nicht ebenso viel wie ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Schulformen?" Zudem müssten pädagogische Fragen mehr Gewicht bekommen – auch im Vergleich zur Fachlichkeit. Kontraproduktiv seien die zu häufigen Schulreformen. "Wir brauchen Zeit, Verlässichkeit, Ruhe im System", so Warrlich.
28195 Bremen