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Was hat PISA bewirkt?

In den Jahren nach der Veröffentlichung von PISA 2001 kehrte in der deutschen Bildungspolitik der „PISA-Schock“ ein. Die Ergebnisse wurden von Politikern und Presse einhellig als skandalös eingestuft und alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte – einschließlich der GEW – nahmen sie zum Anlass, Forderungen zur Veränderung des deutschen Bildungssystems vorzubringen.

Jetzt, nach der Veröffentlichung von PISA 2012, war die öffentliche Reaktion ganz anders: „Die Ergebnisse sind erfreulich… Zwölf Jahre nach dem PISA-Schock zeige das deutsche Abschneiden, dass sich die Anstrengungen, die alle Bundesländer zur Verbesserung der Bedingungen an den Schulen unternommen haben, gelohnt haben… Das zeige, dass man in Deutschland auf dem richtigen Weg sei“, heißt es in der Pressemitteilung unserer Bildungssenatorin. Damit liegt sie ganz auf der Linie der Kultusministerkonferenz, die am 3. Dezember erklärte: „Die vielfältigen Anstrengungen von Bund und Ländern zahlen sich aus.“

Mehr Punkte, mehr Lernerfolg?

Die KMK zieht aus der Tatsache, dass die Punktzahlen in den Tests seit 2001 deutlich angestiegen sind, weitreichende Schlüsse: „Insbesondere der Ausbau der frühkindlichen Bildung und der Ganztagsschulen sowie die Einführung und Überprüfung von Bildungsstandards zeigen im Verbund mit der Weiterentwicklung von Schule und Unterricht deutliche Wirkung.“ Zur Erinnerung: Die KMK hatte 2002 genau diese Maßnahmen zu Schwerpunkten erklärt, um sich nicht mit dem Grundübel des deutschen Schulsystems – der frühen Aussonderung nach Schularten – auseinandersetzen zu müssen. Viele BildungswissenschaftlerInnen und die GEW hatten demgegenüber diese frühe Aufteilung und die Herausbildung von „Restschulen“ als eine Ursache für den hohen Anteil von SchülerInnen ausgemacht, deren Testergebnisse unter dem von der OECD definierten Mindeststandard lagen.

Empirische Befunde

Zu etwas anderen Ergebnissen als die KMK kommt das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Schon vor der Veröffentlichung von PISA 2012 war das Institut anhand von PISA 2009 der Frage nachgegangen, warum die deutschen SchülerInnen im Laufe der verschiedenen PISA-Studien höhere Punktzahlen erreicht hatten. Folgende Faktoren wurden von den AutorInnen genannt:

  • Die 15-Jährigen des Jahres 2009 sind in ihrer Schulkarriere durchschnittlich zwei Monate weiter als ihre Altersgenossen des Jahres 2000. Der Anteil der Achtklässler unter ihnen ist gesunken, hingegen besucht ein größerer Teil von ihnen schon die zehnte Klasse. Erreicht wurde das dadurch, dass die Kinder in mehreren Bundesländern früher eingeschult wurden und seltener sitzen geblieben sind.
  • Im Jahr 2009 besuchten mehr 15-Jährige das Gymnasium als im Jahr 2000, ihr Anteil ist von 28 auf 34 Prozent gestiegen, während der Anteil der Hauptschüler abgenommen hat – und Gymnasiasten sind im Durchschnitt leistungsfähiger als andere Schüler.
  • Die Einwandererkinder setzen sich im Jahr 2009 anders zusammen als 2000. Sie leben im Durchschnitt länger in Deutschland und sprechen zu Hause häufiger Deutsch als ihre Vorgänger.

Der Großteil der Leistungssteigerung – 80 Prozent – lässt sich auf diese drei Gründe zurückführen. So das Ergebnis ihrer Studie.

„Man weiß es nicht – man muss es glauben“

Darüber hinaus stellte Prof. Hans Brügelmann in einem ZEIT-Kommentar die Frage nach der Aussagefähigkeit der in den PISA-Studien präsentierten Punktzahlen:
„Nachdenklich stimmt auch, dass im Lesetest des US-amerikanischen National Assessment of Educational Performance die Leistungen über 40 Jahre fast konstant geblieben sind; gleichzeitig wurden für die USA in internationalen Leistungsvergleichen ganz unterschiedliche Rangplätze für Schüler, die zu verschiedenen Zeitpunkten in dieser Phase eingeschult wurden, ausgewiesen: nur Platz 7 von 8 in der Erwachsenenstudie Ials, dagegen ein guter Platz 2 unter 16 in der Iea-Lesestudie von 1991, während bei PISA ein durchschnittlicher Platz 15 unter 31 Staaten zu Buche schlug. Sind solche starken Schwankungen plausibel – oder doch eher durch unterschiedliche Aufgabentypen, Altersgruppen, Stichproben bedingt?“ Abschließend empfahl er die Worte seine fünfjährigen Enkels: „Man weiß es nicht – man muss es glauben.“

„In den Schulen wird inzwischen das unterrichtet, was PISA misst“

Eine noch weitergehende Kritik äußerte Prof. Volker Ladenthin in einem Interview von Jens Wernicke in der „Wirtschaftswoche“. Hier einige Kostproben:
„Zum einen misst PISA die deutschen Schulen nicht an den Kriterien, die in Verfassung, Schulgesetzgebung und Lehrplänen als Ziele derselben ausgegeben sind… Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt… PISA ist kein Messinstrument, sondern dient vielmehr der Implementierung vorab gesetzter Ziele…Um das zu realisieren, … verordnen die nationalen Verwaltungen im Auftrag der EU den Kitas, Schulen und Unis immer mehr und immer häufiger internationale Tests, durch welche die nicht gefügigen Teilbereiche blamiert und somit zur Anpassung gedrängt werden. „Blaming and naming“ heißt das in der Verwaltungssprache. Und um derlei Bloßstellungen etwa mittels der PISA-Rankings zu vermeiden, passen sich die Kitas und Schulen den fremdgesetzten Kriterien an – auch gegen eigene Überzeugungen. … Kein Lehrer wusste damals, dass es vor allem auf diese PISA-Maßstäbe ankam, als man die Tester in die Klassen ließ. Nach dem ersten wohlinszenierten PISA-Schock haben sich Schulverwaltungen und Schulen dann jedoch angestrengt, schnell das als Lehrstoff verbindlich zu machen, was PISA testet. Aus den Messverfahren sind so schließlich Lehrpläne abgeleitet worden. Und inzwischen wird in den Schulen das unterrichtet, was PISA misst. Also werden die Messergebisse besser, weil man nun misst, was auch gelehrt worden ist.“

Die Frage nach dem Sinn

Während die Kultusminister die Entwicklung seit 2001 als Erfolg sehen, wird die Kritik aus den Schulen und aus der Bildungswissenschaft seit einiger Zeit lauter. „Unser Bildungssystem muss besser werden, aber es wird nicht besser durch Messungen“, formulierte Prof. Thomas Jahnke von der Uni Potsdam. Und zum tieferen Sinn der Tests meinte Volker Ladenthin: „Es geht um Anpassung… Die Ziele von Bildung heißen inzwischen ‚Bildungsstandards‘. Das verdeutlicht vor allem eines: Dass nämlich die OECD überall auf der Welt gleich qualifizierte Arbeitskräfte haben möchte. Warum? Meine Antwort: Damit die Produktion jederzeit problemlos dahin ziehen kann, wo die Lohnstückkosten bei gleichem Ausbildungsstandard der Arbeitskräfte am niedrigsten sind. Siehe Nokia. Um das zu erreichen, müssen Menschen überall gleich qualifiziert sein… Die Folge für das Bildungssystem ist der Verlust an Kultur, also der Verlust von bedeutsamen Inhalten: Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Natur oder humaner Lebenssinn werden zur Privatangelegenheit – oder eben zum Geschäft. Und am Menschen zählt nur noch das, was er auf dem Arbeitsmarkt wert ist: Seine Beschäftigungsfähigkeit, seine Ausbeutbarkeit.“