Ein untragbarer Zustand
Auf Druck der Hochschulen haben die Länder die Hochschulzulassung in den letzten Jahren mehr und mehr dezentralisiert. Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) wurde per Länder-Staatsvertrag in die „Stiftung für Hochschulzulassung“ umgewandelt. Diese verwaltet aber nur noch wenige Studiengänge zentral: Pharmazie, Medizin, Zahnmedizin und Tiermedizin. Für alle anderen Studiengänge müssen sich die Studienberechtigten nicht bei der Zulassungsstiftung in Dortmund bewerben, sondern direkt bei der jeweiligen Hochschule – auch dann, wenn ein sehr starker Bewerberüberhang besteht. Zur Sicherheit bewerben sich viele Studierwillige gleich bei mehreren Hochschulen – wer wollte es ihnen verdenken? Erhalten sie auch einen mehrfachen Zuschlag, können die Hochschulen die am Ende nicht angenommenen Studienplätze häufig nicht mehr nachbesetzen.
Für die Bildungsgewerkschaft GEW ist das ein untragbarer Zustand. Nicht nur in bildungspolitischer Hinsicht: Deutschland braucht in Zukunft nicht weniger, sondern deutlich mehr Akademikerinnen und Akademiker. Sondern auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht: In seinem richtungsweisenden Numerus-Clausus-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 1971 unmissverständlich klar gemacht, dass das Grundrecht der Berufswahlfreiheit (Artikel 12 des Grundgesetzes) auch ein Recht auf Hochschulzulassung einschließt. Das bedeutet: Die Hochschulen dürfen Studienbewerber erst dann abweisen, wenn ihre Ausbildungskapazitäten nachweislich ausgeschöpft sind. Diese Rechtsprechung hat auch noch heute Bestand. Das derzeitige Zulassungs-Chaos an den Hochschulen nimmt also nicht nur Semester für Semester tausenden jungen Menschen ihre Zukunftschancen. Es stellt darüber hinaus die handfeste Verletzung eines Grundrechts daher. Jetzt muss endlich die Politik eingreifen.
Zum einen muss sie schleunigst die Weichen für einen Ausbau der Hochschulen stellen, damit in den kommenden Jahren für die geburtenstarken und doppelten Abitur-Jahrgänge ausreichend Studienplätze zur Verfügung stehen. Auf dem „Bildungsgipfel“ 2008 in Dresden haben die Regierungschefs von Bund und Ländern erklärt, bis 2015 zusätzlich 275.000 Studienplätze schaffen zu wollen, im Juni 2009 wurde die entsprechende Bund-Länder-Vereinbarung unterzeichnet. Der Haken: Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) hat einen Fehlbedarf von 437.000 Studienplätzen ermittelt, andere gehen von einer Lücke von 500.000 zusätzlichen Studienplätzen aus.
Die unterschiedlichen Zahlen sind mit unterschiedlichen Antworten auf die Frage zu erklären, wie viele der Studienberechtigte tatsächlich ein Studium aufnehmen werden. Die KMK hat sehr konservativ gerechnet, während das FiBS von einer höheren Übergangsquote ausging. Egal, welche Prognose vor dem Hintergrund des Zulassungschaos, der Debatte um Studiengebühren und nur schleppender BAföG-Erhöhungen zutreffend ist: Völlig unumstritten ist inzwischen, dass Deutschland nicht etwa zu viel, sondern in Zukunft deutlich mehr gut ausgebildete Akademikerinnen und Akademiker braucht. In den Mitgliedsstaaten der OECD nimmt inzwischen im Durchschnitt weit mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium auf, in Ländern wie Finnland, Island oder Schweden sogar 70 Prozent und mehr, in Deutschland liegt diese Quote immer noch unter 40 Prozent. In einigen Fachrichtungen hält der Zugang neu ausgebildeter Fachkräfte nicht einmal mit dem Ausscheiden der Älteren Schritt: Neben den Ingenieurwissenschaften sind die Bildungswissenschaften von dieser Entwicklung betroffen. Ein dramatischer Mangel an qualifizierten Fachkräften droht – wenn die Politik nicht endlich gegengesteuert und die Hochschulen für deutlich mehr junge Menschen öffnet.
Erweiterter Zugang
Hinzu kommt, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihrem Beschluss vom März 2009 endlich ernst mit dem Anspruch machen möchte, die Hochschulen für beruflich Qualifizierte ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung – Abitur oder Fachhochschulreife – zu öffnen. MeisterInnen, TechnikerInnen und InhaberInnen vergleichbarer Abschlüsse soll der allgemeine Hochschulzugang ermöglicht werden, allen übrigen beruflich Qualifizierten der fachgebundene Hochschulzugang, wenn sie eine dreijährige berufliche Praxis nachweisen. Ein wichtiger Schritt in Richtung der von der GEW geforderten Durchlässigkeit beim Übergang von der beruflichen Bildung in die Hochschulbildung: „Die berufliche Bildung ist als gleichwertig mit der allgemeinen Bildung anzusehen und sollte grundsätzlich zur Studienberechtigung führen“, heißt es im wissenschaftspolitischen Programm, das der Gewerkschaftstag der GEW im April 2009 beschlossen hat. Auch wenn die Umsetzung des KMK-Beschlusses durch die Länder aussteht und auch nicht alle Länder so weit gehen werden: Die Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte wird für weitere Studienberechtigte sorgen, die an die Hochschulen strömen, auf die diese nicht vorbereitet sind.
Ein neues Chaos droht
Zum anderen muss die Politik aber auch sicherstellen, dass jeder einzelne Studienplatz besetzt werden kann, solange der Studienplatzmangel besteht. Bundesbildungsministerin Annette Schavan agiert bislang hilflos. Sie appelliert an die Vernunft der Hochschulen und setzt auf eine freiwillige Lösung. Daraufhin hat die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zum Wintersemester 2009/10 eine Studienplatz-Tauschbörse eingerichtet. Doch nur ein Teil der freien Studienplätze wurde dort angeboten. Etliche Hochschulen versäumten Fristen, andere nutzen die Internetplattform erst gar nicht. Kritiker sprechen bereits despektierlich von einem Studienplatz-eBay.
Die Tauschbörse soll die Wartezeit überbrücken, bis die Telekom-Tochter T-System im Auftrag der HRK mit Mitteln des BMBF eine Software für das von den Hochschulrektoren befürwortete „Dialogorientierte Zulassungsverfahren“ entwickelt hat. Das neue System soll im Wintersemester 2011/12 starten. Insider bezweifeln, dass dieser Termin nur eingehalten werden kann, wenn auf Qualitätskontrollen verzichtet wird – ein neues Chaos droht. Aber selbst wenn das Verfahren irgendwann funktioniert – seine prinzipielle Schwäche bleibt bestehen: Die Beteiligung am Verfahren ist freiwillig, die Vergabeentscheidungen des Systems bleiben für die in Zulassungsfragen autonome Hochschule unverbindlich. Mit der Universität Hamburg hat eine der großen Unis bereits angekündigt, sich am neuen System nicht zu beteiligen, gleich welche Beschlüsse auch immer die HRK treffe.
Es ist zu befürchten, dass nicht alle Hochschulen damit unglücklich sind, dass ihre Studienplätze nicht alle vergeben werden können. Einige RektorInnen und PräsidentInnen der frisch gekürten oder selbst ernannten Exzellenzuniversitäten träumen von einem Status als „Elite-Universität“, die sich ganz auf die Spitzenforschung konzentrieren und die vielen lästigen Studierenden vom Leibe halten können. Die Politik muss jetzt klar stellen: Gerade eine Hochschule, die exzellent sein will, muss sich ihrer Verantwortung für die wissenschaftliche Ausbildung eines wachsenden Anteils junger Menschen stellen.
Es ist daher höchste Zeit für ein Bundeshochschulzulassungsgesetz, dass bundesweit alle Hochschulen zur Teilnahme an einem zentralen Vergabeverfahren verpflichtet. Seit der letzten Föderalismusreform feiert der Bildungsföderalismus fröhliche Urstände – der Gesetzgeber war aber so vorausschauend, dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz für die Hochschulzulassung zu geben.
Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Bund von dieser Kompetenz Gebrauch machen?
Der Autor:
- Dr. Andreas Keller ist Leiter des Vorstandsbereichs Hochschule und Forschung beim GEW-Hauptvorstand