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Wann darf ich zur Schule?

Vierzig jugendliche Geflüchtete leben in einem Containerdorf an der Berckstraße in Bremen-Horn. Dass zur Integration immer zwei Seiten gehören, zeigt sich hier deutlich.

Acht Monate ist er nun hier. Acht Monate ohne einen einzigen Tag Schule. Dabei ist es nicht so, dass er keine Lust hat zu lernen. Im Gegenteil, er brennt darauf. Doch die deutsche Bürokratie prallt frontal auf seine jugendliche Ungeduld. Hier ein Formular, da eine Meldebescheinigung. Und Warten. Warten auf diesen einen Brief, in dem steht: Amir, du darfst zur Schule gehen

Amir lebt seit seiner Ankunft in Bremen in dem Containerdorf für unbegleitete jugendliche Geflüchtete in der Berckstraße. Er ist 17 Jahre alt und stammt aus der Nähe der syrischen Stadt al-Hasaka. Amir heißt eigentlich anders, aber da sein Asylverfahren noch läuft, möchte er nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden. Andere Jungs, die nach ihm nach Bremen kamen, sprechen schon mehr als ein paar Brocken Deutsch. Warum sie eher einen Schulplatz bekamen, weiß niemand so genau. Bei der Bildungsbehörde heißt es nur, man bemühe sich, die Jugendlichen „sehr schnell“ zu beschulen. Sehr schnell vergehen so auch mal acht Monate. Den Leiterinnen der Wohngruppe an der Berckstraße fällt es schwer, das zu vermitteln: Warum muss Amir acht Monate warten, während ein anderer Junge schon nach einem Monat zur Schule kann?

Brigitte Uhrmacher und Pétronille Ngo Ngok leiten seit zwei Jahren die Wohngruppe, die unter der Schirmherrschaft mehrerer gemeinnütziger Vereine steht. Deutschlandweit mussten damals 11.642 besonders Schutzbedürftige untergebracht werden – fast 77 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das Land Bremen brauchte dringend neue Unterkünfte, und da keine passenden Gebäude zur Verfügung standen, baute man kurzerhand die Containersiedlung an der Berckstraße.

Von ihrem Büro aus, als einziges ein gemauertes Haus, haben Uhrmacher und Ngo Ngok einen Panoramablick auf die waldgrünen Container. Doch sie wollen die Jungs nicht überwachen, sondern helfen und Anlaufpunkt sein für ihre Fragen. Amir kam oft. „Wann darf ich in die Schule?“, fragte er dann. Uhrmacher und Ngo Ngok konnten ihm keine Antwort geben, nur Trost spenden, monatelang. Dieser Stillstand sei unheimlich schwer zu ertragen.

„Immerhin haben die Jungs viele Freizeitangebote. Wir haben ehrenamtliche Mitarbeiter, die mit ihnen Musik machen, Theater spielen, Deutsch lernen – und natürlich lieben die Jungs Fußball.“ Ngo Ngok und Uhrmacher strahlen, ehrenamtliche Angebote gibt es mehr, als sie annehmen können. Dass jemand abrutscht und auf dumme Gedanken kommt, darüber machen sie sich daher keine Sorgen. „Trotzdem nützt irgendwann das ganze Bespaßen auch nichts mehr“, sagt Uhrmacher.

Gerade wenn es mit der Schule so gar nicht läuft, sei es umso wichtiger, dass keine Langeweile aufkomme. Im Sommer unternehmen sie viel, Wattwandern an der Nordsee, Ausflüge in Freizeitparks oder in den Zoo. Hauptsache raus aus den Containern, denn viel Rückzugsraum bieten sie nicht. Wie jeder der 40 Bewohner muss sich Amir sein Zimmer mit einem anderen Jungen teilen.

In den Containern gibt es zwei große Küchen, hier können die Jugendlichen kochen oder sich einfach eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben. Eine Ernährungsberaterin hilft, wo sie kann, bei der Zubereitung am Herd oder beim Einkaufen. Zwar mussten viele auf ihrer Flucht selbst kochen, doch sind ihnen manche Speisen hierzulande noch unbekannt. Kürzlich kam einer der Jungs mit einem Sack Paniermehl nach Hause. Er hatte sich noch gewundert, dass Fleisch so billig ist in Deutschland. Das Foto vom Serviervorschlag auf dem Etikett hatte ihn in die Irre geführt.

Den Jungs stehen Berater zur Seite, aber im Grunde sind sie für sich selbst verantwortlich. Es gibt einen großen Gemeinschaftsraum, hier essen sie, spielen an der Konsole und tauschen ihre Erfahrungen aus. Überall hängen Fotos von ihren Ausflügen, dazu Tipps für das Leben in Bremen.

Amirs Zimmergenosse kommt ebenfalls aus Syrien, sie sprechen Arabisch miteinander, ohnehin die Sprache, die hier dominiert. Auch viele Jungs aus Somalia und Eritrea sprechen etwas Arabisch. Zusätzlich gibt es einen Sprachmittler: Aras Baban, 47, kam 1994 aus dem Irak. Er spricht Arabisch, Russisch, Türkisch, Englisch, Kurdisch und natürlich Deutsch. Seine Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zu fast jedem der Jungs. Für Amir wurde er eine enge Bezugsperson. Denn das Leben ohne seine Familie in Syrien ist hart.

Amir blickt bedrückt zu Boden, tiefe Falten auf der Stirn. Er hat es aus Syrien rausgeschafft, während seine Eltern und Geschwister noch immer in tödlicher Gefahr sind. Sie telefonieren und schreiben sich täglich, doch die Angst bleibt: Jeder Tag könnte der letzte sein. Dass er seine Familie irgendwann nachholen kann, scheint unmöglich.

Die Betreuer versuchen, sich in die Jungs hineinzuversetzen. Pétronille Ngo Ngok gelingt das besonders gut. Mit 21 Jahren verließ sie Kamerun. Nicht als Flüchtling, sondern um in Deutschland als Au-pair zu arbeiten. Sie studierte schließlich und blieb. „Die eigene Migration hilft mir zu reflektieren. Ich kann ein Stück weit nachfühlen, wie es ist, die Heimat hinter sich zu lassen und es dann woanders zu schaffen.“ So ist sie Hoffnungsträgerin und Vorbild. Sie lebt „ihren Jungs“ vor, wie wichtig die Sprache für deren Integration ist. „Je schneller und besser sie Deutsch sprechen, desto eher werden sie Fuß fassen“, sagt die 39-Jährige.

Derzeit leben rund 2.500 jugendliche Geflüchtete in Bremen, die Hälfte von ihnen geht mittlerweile zur Schule. Knapp 800 besuchen Vorklassen, etwa 450 sind an allgemeinbildenden Schulen. In den Vorklassen werden pro Tag vier Stunden Deutsch gelehrt, im zweiten Jahr fünf Stunden. Außerdem geht es um die deutsche Kultur, die Gesetze und Gleichberechtigung. Dennoch bleiben die Geflüchteten isoliert. Ngo Ngok und Uhrmacher würden sich wünschen, dass mehr Jugendliche allgemeinbildende Klassen besuchen könnten. Von deutschsprachigen Mitschülern könnten sie sich viel abschauen und Kontakte aufbauen.

Neulich kam endlich der Brief von der Behörde. Amir darf zur Schule gehen. Er freut sich, aber dass er acht Monate warten musste, war für ihn reine Zeitverschwendung. Denn schon bald wird er 18, dann gilt für ihn keine Schulpflicht mehr. Um weiter zur Schule gehen zu dürfen, müsste er einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung stellen. Noch mehr Bürokratie also.
Thüringen ermöglicht die Schulpflicht bis zum vollendeten 21. Lebensjahr. So bleibt mehr Zeit für den Spracherwerb. Die Bremer Bildungsbehörde aber weigert sich, die Schulpflicht für junge Flüchtlinge auszudehnen. Annette Kemp, Pressesprecherin der Bildungsbehörde, meint, viele junge Erwachsene seien schulmüde, eine verlängerte Pflicht ergäbe daher keinen Sinn. Brigitte Uhrmacher kann darüber nur den Kopf schütteln: „Natürlich hat nicht jeder einzelne meiner Jungs immer Lust auf Schule, aber das ist doch bei deutschen Jugendlichen genauso.“ Jugendlichen wie Amir Schulmüdigkeit zu unterstellen, grenzt an Hohn. Die Bildungssenatorin sollte sich in der Berckstraße vielleicht mal persönlich einen Eindruck verschaffen.
Dieser Text ist im Bremer Straßenmagazin „Zeitung der Straße“ in der Ausgabe April/2016 (Horner Kirche) erschienen.

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