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Schwerpunkt

Von passenden Wandfarben und dem Sinn für Realität

Ein Waldorfschüler berichtet

Foto: privat

Ab der vierten Klasse habe ich an einer Waldorfschule gelernt. Die Besonderheiten der Waldorfschule sehe ich in großen Schulhöfen (mit Fußballverbot), langen Klassenfahrten, Handarbeits- Gartenbau- und Holzwerkunterricht, Präsentation von eigenständigen „8.- und 12.-Klassprojekten“ und Lehrkräften, die über ihre Bezahlung klagen. Das für Außenstehende vermutlich markanteste Merkmal: eine Architektur fast ohne rechte Winkel. Ach, und wie konnte ich das vergessen: Eurythmie: Der Grund dafür, dass ich aufgefordert werde, meinen Namen zu tanzen, wenn ich sage, dass ich von einer Waldorfschule komme. Und die ausschließliche Zeugnisausgabe in Textform anstatt als Note in den Klassen 2 bis 9. Naja, und was es sonst halt noch so gibt.

 

Klassenlehrer für acht Jahre

Für den, der es nicht weiß: das Schulprinzip „Waldorfschule“ wurde von Rudolf Steiner erfunden und entwickelt: Ein Mann, der schon in jungem Alter aus Langeweile in den Wald gegangen ist und sich mit den dort hausenden Geistern unterhalten hat. Als er dann in seinem Leben neben seinen vielen Vorträgen und anderen Projekten dazu kam, überlegte er sich ein fast allumfassendes Konzept, das viele seiner Lehren beinhaltete. Wie eben die Architektur oder eine passende Wandfarbe für jede Klassenstufe, die die Schüler in der ersten Klasse mit warmem Rot aufnimmt und mit zunehmend kälteren Farben in den höheren Stufen auf den Abschied vorbereitet. Es gibt zahlreiche Besonderheiten, die mir ganz normal vorkommen, wie zum Beispiel der Klassenlehrer, der einen in den ersten acht Jahren begleitet. Er unterrichtet von der ersten bis in die achte Klasse jeden Tag die ersten zwei Stunden, deren Thema im Rhythmus von etwa 3–4 Wochen wechselt.

 

Das tanzende Alphabet

Es gibt Eurythmie, einen Unterricht, in dem man etwas tanzt, das man Ausdruckstanz nennen könnte, wo man die Wichtigkeit des Fünfsterns mit den Füßen abläuft und meist in Begleitung eines Live-Pianisten bestimmte Formen tanzt, die unter anderem ein zu tanzendes Alphabet beinhalten – aber auch passende Formen für unsere Planeten, Oktaven und Elemente. Später kann man diese Formen dann zunehmend frei interpretieren oder abändern, um eigene Formen für Gedichte oder Musikstücke zu entwickeln, die man dann traditionell in einem Seidengewand auf der Monatsfeier aufführen kann. Die Monatsfeier oder (nicht mehr monatlich) Matinee findet am Freitag und Samstag statt, um alle wichtigen Projekte einer Klasse erst vor den Schülern der Schule und dann den Eltern vorführen zu können. Tatsächlich ist das Vorführen von Dingen und das Erleben von Projekten das, was die Waldorfschule neben meinen guten Lehrern für mich ausgemacht hat.

 

Lebenshilfe Präsentationen

Es gibt normale Referate, aber eben zusätzlich Matinee-Aufführungen und die tollen Klassenspiele, die in der 8. und 12. Klasse stattfinden, wenn von der jeweiligen Klasse ein vollwertiges Theaterstück aufgeführt wird, mit jedem Schüler in mindestens einer kleinen Rolle. Auch gibt es die „8.- und 12.-Klassarbeiten“ über ein selbst ausgesuchtes, recherchiertes und umgesetztes Thema. Die Arbeit muss sowohl einen praktischen als auch einen theoretischen Teil haben und wird wieder einmal vor Eltern und Schülern präsentiert. All diese Vorstellungen haben zu diesen Zeiten das Beste aus mir rausgeholt und mir sicher in meinem Leben danach geholfen. Dann gibt es noch die Klassenfahrten, die ab der sechsten Klasse fast jährlich stattfinden und durchschnittlich etwa zwei Wochen lang sind. Dass ist genug Zeit um einen Ort erlebt zu haben und nicht nur besucht. Und eben die handwerklichen Fächer, wie Gartenbau, Werken und Handarbeit, in denen man Sachen lernt, die wenige für ihre Arbeit brauchen, aber einen grundlegenden Sinn für Realität schaffen, der einem nicht mehr so leicht abhandenkommt.

 

Warum kein Fußball?

Aber natürlich könnten sich noch Sachen verbessern und als erstes fällt mir da ein, dass manche der Lehren über die letzten 80 Jahre zu wenig diskutiert und dadurch auch zu wenig verändert werden. Die Eurythmie zum Beispiel hat sich seit ihrer Erfindung anscheinend kaum weiterentwickelt. Dass ist schade, denn es ist wichtig, Raum bewusst mit seinem Körper begehen zu können. Aber ohne moderne Einflüsse wird der Unterricht schnell fade. Auch ist das Fußballspielen aus einem seltsamen Grund nicht gewollt. Schüler auf dem Hockeyplatz und Sportlehrer setzen sich darüber hinweg, aber seltsam bleibt es.

 

Hassliebe Russischunterricht

Vieles ist auch sinnvoll. Wie zum Beispiel der damals obligatorische und gehasste Russisch-Unterricht. Er ist für mich einer der wichtigsten Unterrichte geworden, weil es immer noch zu wenig gute Kommunikation zwischen den Ländern gibt, um Panzerrollen zu verhindern. Das in Wirklichkeit veraltete Relikt ist das traditionelle Schulsystem, das nicht seit 80, sondern seit zirka 200 Jahren ein im Groben völlig undiskutiertes Konzept ist, bei dem man „lernt“, in dem man stillsitzt, anstatt Dinge umzusetzen. Also: Würde ich meine Kinder zu einer Waldorfschule schicken? Nicht ohne mir anzusehen, welche Waldorfschule es genau ist. Aber würde ich sie mir ansehen? Auf jeden Fall.