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Schwerpunkt

„Unzureichende Mittel führen zum Kollaps im System“

Kann der Ganztag auch unter ungünstigen Rahmenbedingungen funktionieren? Vier Fachkräfte nehmen Stellung.

Ein Gespräch über Ganztagsschulen mit Angelika Wunsch (Serviceagentur „ganztägig lernen“ am Landesinstitut für Schule), Silke Zimmermann (Schulleiterin an der Grundschule Sodenmatt), Tillmann Schneider (Stellvertretender Schulleiter und ZuP-Leiter an der Oberschule im Park) und Corinna Genzmer (Sonderpädagogin und GEW-Stadtverbandssprecherin)

Akute Personal- und Raumprobleme belasten viele Schulen. Einige Schulen haben den Ganztag – auch deshalb – verkürzt oder ausgesetzt. Was sind denn die Gelingensbedingungen, damit Ganztagsschulen überhaupt gut funktionieren können?

Angelika Wunsch: Ich antworte aus der Perspektive des Unterstützungssystems. Wir beraten und begleiten Ganztagsschulen in ihren Schulentwicklungsprozessen. Dabei richten sich die Veranstaltungen an alle Professionen im Ganztag, also an das gesamte Kollegium. Denn alle können dazu beitragen, die Schule zum Gelingen zu bringen: der Erzieher, die Assistentin, der Schulsozialarbeiter, die Mathelehrerin aber auch Hausmeister und Küchenkräfte. Schulen lernen immer am besten voneinander zum Beispiel in Netzwerken, die wir moderieren oder bei Hospitationsreisen.

Silke Zimmermann: Für ein Gelingen im Ganztag müssen die Schulen dafür sorgen, dass Teamarbeit möglich ist. Es braucht fest im Stundenplan verankerte Zeiten, in denen sich Teams austauschen können. Man braucht diese Regelmäßigkeit.

Tillmann Schneider: Natürlich braucht man gut ausgestattete Räume, gut ausgebildetes Personal. Und man braucht eine klare Haltung zum Ganztag. Wir müssen den Ganztag wollen, ihn leben und gestalten wollen. Das ist entscheidend, um eine gute Schule zu entwickeln. Wir können nicht warten, bis Personal und Räume da sind und dann anfangen, eine gute Ganztagsschule zu sein. Wir haben die Kinder jetzt in der Schule, wir jetzt die Verantwortung.

Corinna Genzmer: Die strukturellen Bedingungen und politischen Weichenstellungen sind in Bremen in Sachen Ganztag prinzipiell gut, aber im Realitätscheck zeigt sich ein anderes Bild. Unsere Mitglieder in den Schulen berichten oft von einem hohen Personalmangel. Selbst im gebundenen Ganztag findet oft die Rhythmisierung nicht statt, die Absprachen in den Teams sind nicht so verankert, dass alle daran teilnehmen können. Eine klare Gelingensbedingung für mich.

In der Realität gibt es also noch viel zu optimieren. Ein bildungsmaza!n-Autor schreibt in dieser Ausgabe, dass oft nur noch betreut wird und dass pädagogische Arbeit so nicht möglich ist.

Angelika Wunsch: Das ist eine Realität. Die sehen wir auch. Es gibt in Bremen hervorragende Ganztagsschulen; das zeigt auch die hohe Konzentration an Schulpreisschulen in einem kleinen Bundesland wie Bremen. Aber unzureichende Mittel führen zum Kollaps im System Ganztagsschule. Bei dem gegenwärtigen Krankenstand kommen viele Schulen an ihre Existenzgrenzen. Grenzen an denen sich Schulen überlegen müssen, wie sie ihren Betrieb aufrechterhalten.

Wir in der Redaktion haben Kenntnis von vielen Schulen mit akuten Ganztagsproblemen. Frau Zimmermann an ihrer Schule läuft es auch nicht wunschgemäß.

Silke Zimmermann: Wir haben unter einem extrem hohen Personalmangel zu leiden gehabt. Den Kopf in den Sand stecken war und ist für uns keine Option. Wir haben im Ortsbeirat vorgesprochen, Behördenvertreter einbezogen und eine Supervision wahrgenommen. Inzwischen hatten Neueinstellungen mit Studierenden und Lehrkräften. Das hat dazu geführt, dass wir wieder in den gebundenen Ganztag gehen konnten. Die Zeit als Halbtagsschule – das haben wir in unserer Grundschule alle gemerkt - war ein totaler Rückschritt.

Tillmann Schneider: Wir sind weit von einer guten Situation an den Ganztagsschulen in Bremen entfernt. Aber wir haben gute Strukturen, gute Schulen. Aber derzeit haben wir zu kämpfen, auch an meiner Schule. Wir sind in einer schwierigen Phase, das hat auch mit Corona zu tun, als die Schülerinnen und Schüler nicht in den Ganztag kommen konnten. Wir müssen die Strukturen wieder neu aufbauen, wieder verstärkt mit Kooperationspartnern agieren. Hilfreich wäre natürlich, wenn wir da mehr Personal hätten.

Corinna Genzmer: Das ist ja gerade so eine Problemlage, die ausschlaggebend für die Ganztagsqualität ist. Gerade im Ganztag brauchen die Pädagogen Zeit für die Beziehung zu ihren Schüler:innen. Das zweite Problem ist die ansteigende Dequalifizierung. Kollegen sind als kostenfreie Mentor:innen gefragt, um nicht Ausgebildete oder Beschäftigte mit Vorerfahrungen im sozialen Bereich an die Arbeit im System Schule heranzuführen. Das ist meist unbezahlte Mehrarbeit. Dazu kommt, dass die Bezahlung von Erzieher:innen an Schulen schlechter ist als bei Kita-Erzieher:innen. Die schlechtere Bezahlung und zu wenige Ausbildungsplätze im Anerkennungsjahr verhindern den kontinuierlichen Personalausbau. Zudem hören wir, dass die Erzieher:innen am Nachmittag oft mehrere Klassen mit bis zu 60 Kindern gleichzeitig betreuen müssen. So entstehen vermehrt Konflikte und Krisenlagen. Die Folge ist, dass viele Kinder die Schule nicht mehr als sicheren Ort erleben. Die Kolleg:innen sind dann im Dauerstress und können ihren pädagogischen Auftrag nicht erfüllen. Eltern sehen sich vermehrt mit Kindern konfrontiert, die Schulangst entwickeln..

Das hört sich frustrierend an.

Tillmann Schneider: Frustrierend hier in Bremen ist für uns, dass wir unserem Anspruch, jedem Kind die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen, so weit hinterherlaufen. Deswegen ist es für uns keine Option zu sagen, wir machen mittags Schluss und warten auf das Personal und die schönen Gebäude. Deshalb machen wir weiter einen möglichst guten Ganztag mit anregenden und vielfältigen Angeboten. Ich weiß nicht, ob die Kinder, die in prekären Verhältnissen leben, nachmittags zu Hause besser aufgehoben sind. Für viele von ihnen ist die Schule der bessere und sichere Ort.

Angelika Wunsch: Diese Rahmenbedingungen gibt es seit Jahren. Mit den politischen Fehlern bezogen auf die Ausbildungssituation, die vor zehn, 15 Jahren gemacht wurden, haben wir jetzt zu kämpfen. Wir brauchen jetzt Lösungen: Generell sind an Ganztagsschulen Menschen gesucht, die sich glücklich schätzen, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Das ist auch eine Grundvoraussetzung, um im Arbeitsfeld Schule nicht zu scheitern. Wir brauchen Persönlichkeiten an Schulen. Das können Lehrkräfte, Sozialpädagog:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Erzieher:innen oder Studierende sein, unterstützen kann aber auch eine Großmutter in der Schulbibliothek oder als Lesepatin. Sie lächeln ...

Corinna Genzmer: … Ja, weil wir als Gewerkschaft da eine andere Haltung haben. Es ist problematisch, wenn mehr Menschen, die keine pädagogische Grundausbildung haben, in die Schulen kommen. Diese müssen von pädagogisch voll ausgebildeten Kollegen begleitet werden. Das ist zusätzlich belastend, wenn das nebenher gemacht werden muss. Sie können dann oft nicht mehr ihrem pädagogischen Anspruch nachkommen. Das ist traurig zu sehen.