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Unser Mann in Ankara

Trotz kritischer Worte hält die Bundesregierung an ihrem guten Verhältnis zur Türkei fest: Die EU-Beitrittsverhandlungen, Waffenlieferungen und das Flüchtlingsabkommen stehen nicht wirklich zur Disposition. Dies lässt sich an den diplomatischen Verrenkungen von Außenminister Steinmeier ablesen.

Steinmeier vergisst seine Freunde nicht

„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Es ist an der Zeit, dieser alten Parole eine ernste Rüge auszusprechen: Sozialdemokratische Politik ist keineswegs notorisch illoyal – sie kann ausgesprochen treu sein! Nehmen wir den deutschen Außenminister als Bespiel. Seine eherne Treue zur türkischen Regierung, namentlich zu Präsident Erdogan, hat er stets eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Durch seine Abwesenheit bei Verabschiedung der Armenien-Resolution des Bundestages, die zu verhindern er nicht geschafft hat. Durch seine Empathie für die Empfindlichkeiten der türkischen Regierung. Letztere ist nämlich von den zehntausenden Verhaftungen, die sie orchestrieren muss, so mitgenommen, dass ihr die Aufführung des Theaterstücks „Aghet“ im deutschen Generalkonsulat in Istanbul nicht zuzumuten war: Steinmeier ließ sie absagen. Die Thematik des Völkermordes an den Armeniern war – selbst in bereits abgeschwächter Form – einfach zuviel der Provokation für „unseren“ NATO-Partner.

Doch Steinmeier muss auch mal böse werden

Allerdings, manchmal ist das Maß voll. Seit Erdogan es mit den Massenverhaftungen, der Schließung von 16 Fernsehsendern, der Verfolgung von Journalisten, der Suspendierung tausender Lehrkräfte, vieler Gewerkschaftsmitglieder, der Wiedereinführung der Folter, der Ankündigung der Todesstrafe und ähnlichem doch etwas übertreibt, kann der Außenminister nicht länger schweigen. Sein sozialdemokratisches Gewissen gab ihm Sätze wie den folgenden ein: „Die türkische Regierung sollte diese und jene Maßnahme überdenken.“ Als dann die Parteispitze der HDP verhaftet wurde, ließ das Außenamt den türkischen Geschäftsträger einbestellen. Der nach diplomatischer Logik schwerwiegendere Schritt der Einbestellung des Botschafters schien wohl nicht opportun. Später, bei seinem Besuch in der Türkei sprach Steinmeier die Menschenrechte zwar an, fügte jedoch eilfertig hinzu, es handle sich mehr um ein ernstes Wort unter Freunden. Er besuchte Vertreter der Opposition und bekundete seine Sorge, tat dies alles jedoch nicht, ohne zugleich viel Verständnis für die türkische Seite zu äußern, die nämlich „Krieg und Zerstörung“ in den Nachbarstaaten Syrien und Irak erleben müsse. Kein Wort davon, dass beides durch die Politik Erdogans mit angefacht wurde; durch Unterstützung von IS und Al Nusra Front in Syrien – Can Dündar musste fliehen, weil er das aufgedeckt hat -, ganz abgesehen von den eigenen Militäreinsätzen im Norden des Irak. Steinmeier machte die Türkei zum Opfer und bat seinen Kollegen treuherzig: „Lieber Mevlüt, wir sehen das, und wir vergessen das nicht, wir haben das immer im Blick.“

Manchmal redet Steinmeier jedoch Klartext

In einem Interview mit der Berliner Morgenpost erfährt man, auf welchen imperialen Interessen die Nibelungentreue zur Türkei beruht. „Ob das allen in Deutschland gefällt oder nicht: Die Türkei bleibt das Schlüsselland für den Mittleren Osten. Nicht nur wegen eines Militärflughafens, den wir nutzen. Nicht nur wegen der 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Region, die die Türkei aufgenommen hat.“ Als Ostflanke der Festung Europa hat die Türkei nun einmal den Auftrag bekommen, die Opfer von Armut, Krieg und Terror davon abzuhalten, den Ländern einen Besuch abzustatten, die von ihrem Elend profitieren, und sei es nur durch Waffenhandel.

Den Lohn dafür gibt es in Form von einigen Milliarden Blutgeld, vor allem jedoch, was noch entscheidender ist, eines enormen politisches Kapitals. Nicht nur den Putsch, ebenso das Flüchtlingsabkommen dürfte Erdogan als Geschenk Allahs aufgefasst haben. Von den Millionen Flüchtlingen im Land leben etwa 200 000 in Vorzeigelagern, der Rest fristet sein Dasein als Subproletariat, zum Beispiel in Sweat Shops der türkischen Textilindustrie. Etliche leben auf der Straße oder werden an den Stadträndern konzentriert.

Wenn Steinmeier und seine Kanzlerin sich in humanitäre Pose werfen und die Festlegung von Obergrenzen in der Flüchtlingspolitik entrüstet von sich weisen, dann deswegen, weil sie eine viel weiter gehende strategische Lösung anstreben: Sind auch die Maghreb-Staaten mit Abkommen nach türkischem Vorbild eingekauft und ist der Festungsring um Europa somit geschlossen, bedarf es ohnehin keiner Obergrenzen mehr. Den Übertritt schaffen nur noch die, die der europäischen Grenzmafia genug zahlen oder geholt werden, weil sie vom BDI dafür vorgesehen sind, Löhne zu drücken und Deutschlands Fachkräftemangel zu beheben. Gegenüber der imperialen Eleganz dieses Konzepts wirkt die Forderung der CSU nach beschränkter Einwanderung geradezu bieder. Aber auch irgendwo ehrlicher.

Steinmeier ist gegen Gewalt, zumindest die der Kurden

Der Außenminister kennt freilich noch weitere Gründe für seine Anhänglichkeit, nämlich „...drei Millionen Menschen türkischer Abstammung“, die in Deutschland leben. Kurden gibt es darunter wohl nicht – handelt es sich um „Bergtürken“, Herr Steinmeier? Indessen, warum sollte das die deutsche Regierung kümmern? Es wäre ja schade, wenn die jährlichen Waffenexporte, 2015 im Wert von 76 Millionen Euro, nicht auch zur „Konfliktlösung“ in Cizre und Diyabakir eingesetzt würden. Kämpft die kurdische Guerilla in der Türkei gegen die Armee oder Polizei, fällt das unters PKK-Verbot. Steinmeier und überhaupt die Bundesregierung lehnen Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung nämlich strikt ab, die kurdische, versteht sich. Es sei denn, dieselben Kämpfer erledigen, unter dem Namen YPG, in Syrien die Drecksarbeit gegen den IS; für letztere ist das Leben europäischer Bodentruppen einfach zu kostbar. Dafür sind die Kurden dann wieder gut genug und bekommen sogar deutsche bzw. amerikanische Ausbilder.

Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, was nach einem Sieg über den IS bzw. Assad passieren wird. Hat der Mohr seine Schuldigkeit getan, wird er wieder als 'Terrorist' eingestuft und den Sondereinheiten der türkischen Armee überlassen. Nachdem die türkische Regierung Städte wie Cizre bombardiert und ganze Stadtviertel fast zerstört hat, warum sollte sie in Nordsyrien rücksichtsvoller zu Werke gehen? Schließlich gilt es dort, die Entstehung eines funktionsfähigen kurdischen Autonomiegebiets zu verhindern. Und wie anno 1915 wird es dann besorgten Briefwechsel unter deutschen Diplomaten geben, vielleicht wird auch von Massakern die Rede sein, die wie aus heiterem Himmel gekommen sind und in die „unser NATO-Partner“ Türkei überraschenderweise verwickelt ist. Dann wird irgendein anderer auf dem Posten des Außenministers sitzen, und er wird die türkische Regierung warnen und vielleicht wird er seinem „lieben“ Kollegen in Ankara sogar sagen, dass das Maß nunmehr endgültig voll sei.