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Schwerpunkt

Toleranz wird schon in der Schule gelernt

Ein Schulbesuch in der russischen Republik Tatarstan

Die Schule in Kasan ist ein Neubau (Foto: Ulrich Heyden)

Ende 2022 hatte ich die Gelegenheit, auf Einladung des russischen Außenministeriums an einer Reise nach Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan, teilzunehmen. Kasan liegt eineinhalb Flugstunden östlich von Moskau. Die Stadt mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern liegt am linken Ufer der Wolga. Von den vier Millionen Einwohnern Tatarstans sind 53 Prozent Tataren und 39 Prozent Russen. Ich war Teilnehmer einer Gruppe von Auslandskorrespondenten, denen verschiedene Einrichtungen der sozialen Infrastruktur gezeigt wurden. So besuchten wir eine neue Schule mit dem Namen Adymnar. Sie liegt nördlich des Stadtzentrums in einem luftigen Neubau. In der Schule lernen auf 50.000 Quadratmetern 3.000 Schüler. In die erste Klasse eingeschult werden vorwiegend Kinder aus dem Wohnbezirk. Nur wenn noch Plätze frei sind, werden auch noch Kinder aus anderen Stadtbezirken genommen, erzählte uns die Lehrerin Tatjana Dawidowa. Angegliedert ist ein Internat für 300 Schüler aus dem Umland.

Spenden ermöglichen ein breiteres Lehrangebot

Die Schüler trugen eine Schuluniform, weiße Hemden und dunkelblaue Jacken. Die Klassen waren mit Glaswänden vom Korridor getrennt. Die Wände in den Innenräumen waren in einem frischen Grün gestrichen. Es gab eine Ambulanz, einen Zahnarzt, ein Schwimmbad, einen modernen Theater- und einen großen Speisesaal. Die Schule finanziert sich neben staatlichen Zuwendungen auch über Spenden und kann deshalb mehr anbieten als übliche Schulen. Die Adymnar-Schule besteht aus zwei Abteilungen. In einer polylingualen Abteilung wird die tatarische und englische Sprache unterrichtet. Ab der fünften Klasse kommt Arabisch oder Türkisch als zweite Fremdsprache hinzu. Im bilingualen Flügel der Schule ist Englisch die erste Fremdsprache. Ab der fünften Klasse wird Spanisch als zweite Fremdsprache unterrichtet.

Schulen vom Typ „Adymnar“ gibt es in Tatarstan sechs. An den Adymnar-Schulen kann man außer Russisch, Tatarisch und Englisch noch Türkisch, Arabisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch lernen.

Die Schule, die man uns zeigte, war von ihrer Ausstattung und dem vielfältigen Lehrangebot nach meinem Eindruck nicht typisch für Russland. Aber in russischen Großstädten entstehen immer mehr solche Schulen mit besonderer Ausstattung.

Tatarische Sprache jetzt nur noch auf freiwilliger Basis

In Tatarstan gab es seit 1990 zwei offizielle „Staatssprachen“, Russisch und Tatarisch. 1994 wurde zwischen Moskau und Kasan ein Extra-Vertrag vereinbart, mit dem Tatarstan weitere Sonderrechte zugestanden wurden. Diese Sonderrechte - wie eine tatarische Staatsbürgerschaft sowie die Verfügungsgewalt über die Ressourcen in Tatarstan, darunter Öl-Quellen - wurden seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin zum Präsidenten im Jahre 2000 Stück für Stück abgeschafft. Man wollte separatistischen Tendenzen jede Grundlage entziehen. 2018 erließ das russische Parlament auf Drängen von Putin ein Gesetz, nach dem die tatarische Sprache an Schulen in Tatarstan kein Pflichtfach mehr ist. Die Sprache kann aber auf Wunsch der Eltern und Kinder unterrichtet werden. Diese Änderung hat in Tatarstan heftige Diskussionen ausgelöst.

Liebesgeschichte in tatarischem Dorf

Zu unserem Programm gehörte auch ein Besuch im staatlichen Kamal-Theater. In dem Theater werden Stücke in tatarischer Sprache gespielt. Wir sahen das Schauspiel „Senger Schel“ („Das blaue Tuch“) von Karim Tinschurin. Das Stück – eine Mischung aus Komödie und Musical - handelt von der Liebe zwischen zwei jungen Leuten, Bulat und Majsar. Es wurde im Jahre 1926 – also wenige Jahre nach der Oktoberrevolution – geschrieben. Die Handlung war folgende:  In einem tatarischen Dorf kommt es zu einem Streit zwischen zwei jungen Tataren um Majsar, eine junge Frau. Dabei wird einer der Streitenden mit dem Messer getötet. Der Schuldige mit dem Namen Bulat flieht in einen Wald, wo er sich einer Bande von Pferdedieben, Geldfälschern und Revolutionären anschließt. Während Bulat sich im Wald versteckt hält, wird Majsar von einem geschäftstüchtigen Mullah zur fünften Frau genommen. Zum Ende des Stückes wird Majsar von Bulat und seiner Bande befreit.

Tataren und Russen feiern gemeinsam

Während unserer Rundgänge in Kasan befragte ich unsere Begleiterinnen zum Zusammenleben von Russen und Tataren. Jekaterina Tschernjak, eine Journalistin, erzählte, sie sei 1986 geboren worden und „zur Hälfte Russin, zur Hälfte Tatarin. Ich bin ein Kind der Sowjetunion. Man erzog uns so: Wir sind eine Familie. Wir haben keine Unterschiede zwischen den Nationen. Wenn es einen Feiertag der Tataren gibt, gehen wir Russen dorthin. Und Ostern gehen dann alle Tataren zu den Russen. So leben wir schon viele Jahre.“

Lilia, eine Tatarin und Museumsführerin im Alter von etwa 50 Jahren, erklärte, „die wichtigste Idee unserer Republik ist die Toleranz. Nationalisten haben bei uns keine Chance, weil die meisten Familien russisch-tatarisch gemischt sind.“ Seit der russische Zar Iwan der Schreckliche 1552 Kasan eroberte, leben Tataren und Russen friedlich zusammen. In Tatarstan gibt es heute 1.428 Moscheen und 319 Kirchen. Die Republik an der Wolga ist in Russland ein Vorbild für die friedliche Koexistenz von Religionen und Kulturen. Die Tataren wurden nicht einfach nur von Russland erobert. Sie wurden über die Jahrhunderte in den Staat integriert. Auch in hohen staatlichen Ämtern findet man Tataren. Elvira Nabiullina, Vorsitzende der russischen Zentralbank, und Marat Chusnullin, stellvertretender Ministerpräsident Russland, sind tatarischer Abstammung. 

Ulrich Heyden arbeitet seit 1992 für deutschsprachige Medien in Moskau. Seine Artikel veröffentlicht er in den Nachdenkseiten, Junge Welt und Overton Magazin.