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Erwiderung auf Leserbrief

Toleranz für "homophobe" Erziehung?

Eine Antwort auf den Leserbrief zur Frage der evangelikalen Kindergärten - sowie weiterführende Überlegungen

1.

In der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift haben wir einen Text des Forums Säkulares Bremen abgedruckt, worin pädagogische Einrichtungen aus dem evangelikalen Spektrum angegriffen werden. Hintergrund ist der Vorstoß des Bundesgesundheitsministers, „Therapieangebote“ für eine sog. „Homo-Heilung“ zu verbieten. Keine sich wissenschaftlich verstehende Medizin kann Homosexualität heute noch als Krankheit definieren, und wo die stigmatisierende Zuschreibung fällt, entfällt auch jegliche Notwendigkeit zur Therapie. Das hätte man schon früher wissen können – Magnus Hirschfeld hat seine Arbeit um 1900 herum begonnen -, die Einsicht kommt reichlich spät, ist aber mittlerweile sogar in der politischen Mitte angekommen. Ohnehin ist die Durchführung solcher „Behandlungen“, die eher Misshandlungen darstellen, zum Randphänomen geworden. Die dafür nötige Geisteshaltung brütet noch in gesellschaftlichen Nischen, wo brauner und klerikaler Ungeist überdauerten. Andererseits mahnt die Entwicklung in anderen Weltgegenden dazu, das Thema nicht zu verharmlosen:
Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien hätten ihren Aufstieg ohne Unterstützung fundamentalistischer Gruppen nicht geschafft. Und kürzlich erst sprach sich der israelische Erziehungsminister Bafi Peretz für die „Therapierung“ Homosexueller aus.
Der protestantische Mainstream in Deutschland gibt sich hingegen modern, nur die Evangelikalen und verwandte Strömungen halten an ihrer biblisch verbürgten Verdammung aller jener Formen von Sexualität fest, die dem Maßstab patriarchaler Monogamie nicht entsprechen. Das Forum Säkulares Bremen hatte nun in besagtem Text auf die Präsenz evangelikaler Kindergärten in Bremen hingewiesen und anhand einiger Belege zu zeigen versucht, dass diese gemäß ihrem Recht als Tendenzbetriebe von den Beschäftigten eine zustimmende Einstellung zum konservativen Weltbild des Arbeitgebers verlangen. Bei Institutionen, die pädagogisch tätig sind, stellt sich darüber hinaus die Frage, inwieweit deren ideologische Position, in dem Fall zur Homosexualität, in die Praxis einfließt. Ob nun der Staat, der die Stigmatisierung Homosexueller - nach langen Kämpfen der Betroffenen - endlich ansatzweise einschränkt, ausgerechnet pädagogische Einrichtungen finanziell unterstützen muss, die eventuell an reaktionärem Gedankengut festhalten, das war die vom Text gestellte Frage bzw. Forderung.

2.

„Entsetzt“ ist, wie er schreibt, von dieser Forderung der Kollege Karker in einem Leserbrief. Verfasst von einem langjährigen GEW-Mitglied und in seiner Kritik an uns sehr heftig, hat der Brief eine ernsthafte Antwort verdient, die den Dissens in der Sache austrägt und nicht etwa hinter versöhnlerischen Formulierungen zu kaschieren versucht. Kollege Karker ist sich bewusst, dass wir den inkriminierten Beitrag nicht als redaktionelle Meinungsäußerung veröffentlicht habe. Trotzdem hätten wir ihn, nach seiner Ansicht, nicht abdrucken dürfen.

3.

„Sie unterstellen den angeführten Einrichtungen homophob zu sein. Bedeutet nicht Demokratie die Akzeptanz und Toleranz Andersdenkender, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen?“

Ob der Vorwurf der „Homophobie“ zutrifft, dazu äußert sich der Leserbrief nicht explizit, unterstellt es indes stillschweigend, denn im Namen welcher  „Andersdenkenden“ sollte er sprechen, wenn nicht im Namen derer, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als krankhaft ansehen? Für diese wird nun Akzeptanz und Toleranz eingeklagt. Solche Klage setzt sich mehreren Einwänden aus. Zum Ersten zielte die Kritik nicht auf das Feld öffentlicher Meinungsäußerung, sondern auf erzieherische Praxis. Nicht wird das Recht religiös-fundamentalistisch denkender Privatpersonen bestritten, ihre Ansichten etwa in Form von Leserbriefen zu äußern; ob die betreffenden Inhalte jedoch in die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einfließen dürfen, ist eine andere Frage, deren Grenzen enger gezogen sind: Nicht alles, was formal durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein mag, entspricht  den Maßstäben von Aufklärung und menschenwürdigem Umgang; nicht alles gehört daher in die Bildungs- oder Erziehungspläne der Gesellschaft.

4.

Zum Zweiten verkennt der Leserbrief die Bedeutung des Begriffs Toleranz, der ja vom lateinischen Wort tolerare kommt und impliziert, etwas zu ertragen, was den eigenen Vorstellungen widerspricht. Toleranz, von Aufklärern wie Voltaire postuliert, bedeutet den Verzicht auf die Anwendung von Gewalt gegenüber kontrahierenden Ansichten, verbunden mit dem zivilisatorischen Zugeständnis, die Differenzen im öffentlichen Diskurs auszutragen -aber eben auszutragen. Mitnichten bedeutet es den Verzicht auf Kritik.
Voltaires Bekenntnis, er hasse die Meinung des Anderen, würde jedoch sein Leben dafür geben, dass der Andere sie äußern darf, gilt reziprok:
Auch der Andere muss in der Konsequenz Voltaires Kritik ertragen. So lange folglich niemand jeden Morgen Vorhängeschlösser an die Türen besagter Kindergärten hängt oder die Zufahrtsstraße blockiert, gehen Klagen über Intoleranz ins Leere.

Umgekehrt haben die evangelikalen Bildungseinrichtungen mit der Kritik an sexueller Bigotterie und reaktionärer Buchstabengläubigkeit zu leben.

5.

Des Weiteren setzt der Leserbrief Toleranz mit Akzeptanz gleich. Letztere schließt, im Unterschied zur ersteren, eine inhaltliche Annäherung an das ein, was zunächst irritiert oder stört. Bereits Goethe hatte bekanntlich in den „Maximen und Reflexionen“ darüber reflektiert:

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Nicht bei erster Abneigung stehenzubleiben, sich auf das anfangs Verfemte einzulassen, die eigene Abwehr durch Selbstbesinnung aufzuweichen - das sind Momente einer weltoffenen Gesinnung. Irrationale Vorurteile, gegenüber moderner oder populärer Kunst, dem Land- oder Stadtleben, Religiosität oder Atheismus u.ä. geraten auf diese Weise in Fluss. Dies würde sexuelle Orientierungen übrigens einschließen und man möchte den Kollegen Karker nach der Akzeptanz der Evangelikalen in dieser Hinsicht fragen.
Dennoch, Akzeptanz fände sich ihrerseits zum Dogma erhoben, würde sie unterschieds- und kriterienlos verteilt.
Es gibt nicht nur irrationale Vorurteile, es gibt ebenso berechtigte Urteile der Kritik.
Akzeptanz von - einem Geschichtslehrer Höcke, der die Rassenlehre propagiert? Einem Imam, der Dschihadismus predigt? Gefährlicher Irrationalismus ist, wo er verbal auftritt, mit Kritik zu bedenken. Wo er sich in Taten umsetzt, ist er auch praktisch zu verhindern; zu akzeptieren ist er niemals. Und Begriffe wie Toleranz oder Akzeptanz dürfen nicht, nach der Manier des Leserbriefs, als Berufungsinstanzen fürs Kritikverbot instrumentalisiert werden.

6.

Im Fortgang stützt sich Kollege Karker auf das Grundgesetz. Wir danken für den Lektüretipp. Nach seiner Interpretation der Artikel 3 und 4 GG wäre jede Einschränkung der Tätigkeit von kirchlichen Kindertagesstätten ein unmittelbarer Angriff auf die staatlich garantierte Gewissensfreiheit, deren „Unverletzlichkeit offenbar als absoluter pädagogischer Freibrief zu verstehen ist. Wie jede Freiheit hat auch die des Gewissens ihre Grenze an anderen grundrechtlich geschützten Rechtsgütern. Würde etwa ein religiös inspirierter Erzieher bei seinem Zögling wegen dessen vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Neigungen einen Exorzismus oder andere, als Therapie verbrämte Übergriffe vollziehen, so wäre das strafrechtlich relevant. Selbst was wie eine pervertierte Form der Gesprächstherapie auftritt, unter Verzicht auf körperliche Zudringlichkeit, entlarvt sich als psychisch wirkende Repression.

Machen das Opfer und dessen Familie freiwillig mit, kommt der Urheber vielleicht davon, bleibt aber trotzdem ein Täter, der aus religiöser Verdummung heraus seine Zöglinge traktiert und es ist - Kollege Karker möge den unchristlichen Ausdruck verzeihen - scheißegal, ob er dabei auch noch ein gutes Gewissen hat.

7. Wenn nunmehr, nach harten sozialen Auseinandersetzungen, ein wenig Modernität einzieht und Minderheiten, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden, etwas Anerkennung finden; wenn dann rückwärtsgewandte Teile der Gesellschaft sich dagegen verhärten, an ihren lust-und somit menschenfeindlichen Gesinnungen festhalten; wenn diese Gruppen auch noch eigene Schulen und Kindergärten beanspruchen, dann - sind es laut dem Leserbrief nicht Homosexuelle, die hier diskriminiert werden, sondern Lehrkräfte und Erziehende, sofern ihnen die staatliche Unterstützung, die sie für ihr Treiben auch noch beanspruchen, entzogen werden soll.
Mit Verlaub, es ist eine verkehrte Welt, die aus dem Leserbrief spricht.

Anmerkung:

Die Redaktion ist sich bewusst, dass die im Text problematisierte Haltung keineswegs auf alle Beschäftigten der genannten Einrichtungen zutrifft.