"Neutralität“ im Klassenzimmer
Stichwort Neutralitätsgebot: Lehrkräfte müssen nicht neutral sein!
Lehrkräfte am politischen Scheideweg: Ramona Seeger fordert klare Haltung gegen Rechtsextremismus
In einer eindringlichen Rede auf der TPV Lehrkräfte in Bremen am 25. September 2024 hat Ramona Seeger, Landesvorstandssprecherin der GEW Bremen, auf die alarmierenden Ergebnisse der Landtagswahlen in Ostdeutschland reagiert.
"Deutschland steht an einem politischen Scheideweg", betonte Seeger, als sie die beunruhigende Tatsache ansprach, dass eine rechtsextreme Partei erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte.
Seeger kritisierte die wachsende Einflussnahme der AfD auf den schulischen Kontext, insbesondere durch "Meldeportale, Hetzkampagnen und eine umfassende Social-Media-Offensive". In diesem Zusammenhang rief sie die Lehrkräfte auf, nicht nur zu reagieren, sondern aktiv zu handeln:
"Lehrkräfte müssen nicht neutral sein! Und – jetzt gehe ich noch einen Schritt weiter – das sollen wir auch gar nicht."
Demokratiebildung sei ein zentraler Bestandteil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags, erklärte Seeger. Sie verwies auf Artikel 26 der Bremischen Landesverfassung, der zur Achtung der Menschenwürde und zur sozialen Gerechtigkeit aufruft.
"Es gibt keine Neutralität vor den Werten des Grundgesetzes", machte sie klar und stellte die Frage:
"Woher kommt dann der Irrglaube, beim Unterrichten politisch neutral sein zu müssen?"
Ein häufig zitiertes Argument in diesem Kontext ist der „Beutelsbacher Konsens“, der drei Prinzipien politischer Bildung formuliert:
- das Überwältigungsverbot [Ich darf also SuS nicht indoktrinieren],
- das Kontroversitätsgebot [Ich muss kontroverse Themen im Unterricht auch kontrovers darstellen. Anders formuliert: Ich darf meine eigene politische Meinung ausdrücken, diese aber nicht als allgemeingültig darstellen.]
- und das Ziel, Schüler*innen zur politischen Teilhabe zu befähigen.
Völlig unstrittig sei, dass der Beutelsbacher Konsens Lehrkräften keine politische Neutralität vorschriebe.
"Die AfD ist eine Partei mit verfassungsfeindlichen Tendenzen – das dürfen Lehrkräfte im Klassenraum auch so sagen."
In ihrem Appell an die Kolleg*innen forderte sie dazu auf, "rechten Inhalten demokratische Werte entgegenzusetzen" und eine klare Haltung gegen Rassismus, Sexismus und menschenverachtende Aussagen zu zeigen.
"Lasst uns Raum geben zum kontroversen, kriteriengeleiteten Diskutieren. Denn das kommt derzeit leider viel zu kurz!"
Mit diesen Worten schloss Seeger ihre Rede und hinterließ bei den Anwesenden den dringlichen Auftrag, sich aktiv für die demokratischen Werte einzusetzen, die das Fundament unserer Gesellschaft bilden.
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1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.
28195 Bremen