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Gesellschaftspolitik

"Sozıaler Zusammenhalt" als Ideologie

Anmerkungen zu einem Schlagwort

Es klebt zusammen, was zusammengehört

Der Begriff hat mittlerweile den Status der Selbstverständlichkeit erlangt. Ob es um die Grundrente, Migration oder Wohnungspolitik geht, stets wird, vor allem im Linksliberalen Milieu, der „soziale Zusammenhalt“ beschworen. In ihm schwingt vermutlich etwas Anheimelndes mit, die Assoziation von nachbarschaftlichen Grillfesten, der Solidarität kleiner Leute, bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber Zugewanderten. Diese und ähnliche  Konnotationen mögen mitschwingen. Das englische Pendant des Begriffes lässt solche Stimmung gar nicht erst aufkommen:

Social Cohesion, zu deutsch: soziale Kohäsion verbirgt die Herkunft aus technischen Kontexten nicht. Wenn starke Bindungskräfte wirken, ein Stoff daher gut „zusammenhält“, spricht man von hoher Kohäsion.

Hauptsache stabil

Dies gilt übrigens auch, aller menschelnden Assoziationen zum Trotz, für die deutsche Variante. Wie es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung heißt, bezieht sich der Begriff Zusammenhalt in der Sicht der meisten Forschenden nicht auf Individuen, sondern stellt ein „Merkmal von Gemeinwesen“ dar, die um so „kohäsiver“ sind, je mehr ihre Mitglieder zu ihnen und zueinander halten. Gesellschaftliche Stabilität wäre also ein passendes Synonym. Der Fokus des Begriffs liegt weniger auf persönlichen Bindungen, sondern auf der Frage, ob durch die vielen Individuen und ihr wechselseitiges Verhältnis hindurch ein stabiles Gemeinwesen sich formiert. Das Individuum und seine Gefühle oder Gedanken, seine „Lebenszufriedenheit“ sind dafür nicht Zweck, vielmehr Index gelungener Kohäsion, also Mittel.

Einigkeit als Daueraufgabe

Die Notwendigkeit, Einigkeit als Daueraufgabe zu beschwören, besteht nur dort, wo diese systematisch gefährdet ist. Daraus macht übrigens auch die Bertelsmann-Stiftung keinen Hehl: Die Sorge um sozialen Zusammenhalt sei angesichts der „wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, dem technologischen Wandel und dem Umbau des Sozialstaates“  nur zu berechtigt.

Als ob die genannten Phänomene nicht politisch oder ökonomisch hergestellt wurden - Hartz IV fiel nicht vom Himmel, ebensowenig wie die steigenden Einkommensunterschiede. In der Sicht von Bertelsmann handelt es sich offenbar um unveränderliche Sachzwänge, worauf die Betroffenen nur sozialfriedlich reagieren können. Sollen Angehörige ärmere Schichten die Welt so 'framen', dass sie weiterhin mit den Reichen - die sowieso in anderen Stadtvierteln leben –„zusammenhalten“ können? Der Makler, welcher Wohnraum in Luxusappartements umwandelt, und die berühmten Kassiererin, die sich keine Wohnung mehr leisten kann - soll man sie zur Eintracht ermuntern? Ware das eine wünschenswerte Tugend oder überhaupt eine realistische Erwartung?

Sozialpolitik = Ordnungspolitik

Greift man einige dieser Stichworte heraus und konkretisiert daran das Schlagwort vom sozialen Zusammenhalt, so wird es geständig. Nehmen wir die „Kluft zwischen Arm und Reich“ - sie kommt nicht als Problem an sich ins Spiel, relevant ist sie als einer von mehreren Faktoren, die auf den Kohäsionsgrad der Gesellschaft wirken: Arme Leute werden vielleicht unberechenbar; eventuell verwahrlosen sie und lungern mit billigem Discounter-Bier auf öffentlichen Plätzen herum; oder werden anfällig für „politischen Radikalismus“. Das alles könnte das Funktionieren der Gesellschaft beeinträchtigen. Jedenfalls dürfte es kein Zufall sein, dass das Konzept der „Social Cohesion“ in Tony Blairs Drittem Weg, also seiner Abkehr vom Sozialismus traditioneller Prägung, einschlägig war; Sozialtechnologie statt Klassenkampf. Keineswegs die Gesellschaft muss sich daran messen lassen, ob sie dem Einzelnen Lebensperspektiven bietet, der Einzelne hat sich bindungskräftig in sie einzufügen, und um dieser Einfügung willen muss er irgendwie „zufriedengestellt“ werden. Die Perspektive ist eine „von oben“, Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen werden als Bruchlinien gesehen, gesellschaftlicher Zusammenhalt ist der Klebstoff dagegen. Kein Wunder, wenn bei Blairs soziologischem Stichwortgeber, Anthony Giddens, das Zauberwort der Köhäsion häufig auftaucht.

Befriedung = Befriedigung?

Überhaupt liegt in der Kategorie der Zufriedenheit etwas Doppelbödiges. Ob eine Packerin bei Amazon Grund zur Zufriedenheit mit ihrer Arbeit hat, oder ob sie sich nur zufrieden fühlt, weil sie die ihr von Bertelsmann und anderen eingetrichterte Parole „Hauptsache Arbeit“ verinnerlicht hat - das ist ein Unterschied, von dem gerade gewerkschaftlich engagierte Menschen ein Arbeiterliedchen singen können. Das Gefühl der Zufriedenheit lässt ja, wie bittere historische Erfahrung lehrt, auch durch ideologische Offensiven sich herstellen, durch nationale Feindbilder, von denen man sich abgrenzt - dann legt man sein Einverständnis mit der Welt in die Identität des Deutschseins; oder durch die Verachtung der „Asozialen“ - wie sie etwa als Begleitmusik zur Einführung von Hartz-IV aufgelegt wurde.
Wer erinnert sich noch an jenen „Florida-Rolf“, der durch die Medien gezerrt wurde, weil er angeblich seine Rente am fernen Strand verpulvert, was der bezahlte Denunziant der BILD-Zeitung seinerzeit erschnüffelt haben wollte.
Tony Blair kombinierte seinen „Dritten Weg“ in den Neunzigern denn auch mit einer Kampagne gegen „antisocial Behaviour“ -im öffentlichen Alkoholgenuss lag der wahre Feind der Arbeiterklasse. Zufriedenheit, die durch Aggression erkauft ist, mag keine „echte“ sein - aber wenn sie zum reibungslosen Funktionieren der Gesellschaft beiträgt? Überhaupt dürfte, im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres, sagen wir 1937, die soziale Kohäsion einigermaßen hoch gewesen sein.

Objektiver Fortschrittsbegriff

Der Begriff des sozialen Zusammenhalts hat ältere politische Konzepte im Hinblick auf Armut und Reichtum weitgehend ersetzt. Für marxistisches Denken lag die Lösung in der objektiven Veränderung der Gesellschaft. Im Linkssozialismus war nicht gleich Revolution, wohl aber Umverteilung des Reichtums zwischen Arbeit und Kapital angesagt.
Selbst die sozialfriedlichen deutschen Gewerkschaften verfochten beizeiten ein Ideal von gesellschaftlichem Fortschritt, demgemäß der wachsende volkswirtschaftlich produzierte Reichtum im Verhältnis zur gestiegenen Produktivität auch den Arbeitenden zugutekommen musste.
In all diesen Ansätzen, so kontrovers sie untereinander waren, kam das Individuum als eines vor, dass sich Teilhabe an der Gesellschaft kapitalistischer Prägung erkämpfen muss.
Und der Erfolg dieses Kampfes ließ sich messen, zum Beispiel in gestiegenen Löhnen, besserer rechtlicher Absicherung und ähnlichem. Mit subjektiver Befindlichkeit gab man sich nicht zufrieden. Die Gesellschaft war es nur dann wert, nicht zugrunde zu gehen, sofern sie solchen sozialen Fortschritt ermöglichte. In Flugblättern wurde auf die arbeitende Menschheit eingeredet, damit sie keinen falschen Frieden mit den Verhältnissen macht.

Eine fragwürdige Retourkutsche

Trotzdem erfreut sich die Parole vom Zusammenhalt gerade unter sozialpolitisch Engagierten reger Beliebtheit. Bei ihnen wird sie nämlich umgekehrt gelesen: Damit die von Armut oder prekären Arbeitsverhältnissen und dergleichen Geplagten die gesellschaftliche Stabilität nicht gefährden, müssen sie in irgendeiner Weise „Lebenszufriedenheit“ empfinden, und in deren Namen werden dann durchaus materielle Forderungen erhoben, etwa solche nach höheren Löhnen. Ebenso lässt sich Inklusion aus der sozialen Kohäsion ableiten. Der Wunsch der Herrschenden nach Stabilität wird sozusagen gegen sie gewendet: Wenn ihr Zusammenhalt wollt, dann gebt dem Fußvolk auch die Mittel dazu. Die Retourkutsche mag gut gemeint sein, gleichwohl lässt sie sich auf die Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation, die im Begriff der sozialen Kohäsion steckt, ein.

Lob des sozialen Konfliktes

Wollte die Generation von 1968 den »sozialen Zusammenhalt« stärken?
Subjektiv lag es ihr fern, im Gegenteil ging es ihr um eine Erschütterung der sozialen Bindekräfte; gegenüber einer Gesellschaft, die ab den Fünfziger ]ahren in Geschichtsverleugnung und Antikommunismus erstarrt war, schienen provokative und polemische Methoden - also „spalterische“ - das Mittel der Wahl zu sein. Spaltung war der Weg, um einen faulen Konsens aufzubrechen. Auch dazu steht der Kohäsionsbegriff quer.
Dass Krisen in einer Gesellschaft etwas Heilsames, Fortschrittsbringendes sein können, liegt jenseits seines Horizontes. Insofern fällt er sogar hinter das kritisch-liberale Gesellschaftsbild eines Ralf Dahrendorf zurück, der den sozialen Konflikt und nicht dessen Vermeidung als Fundament einer freien Gesellschaft postulierte. Wo hingegen das Wunschbild des sozialen Zusammenhalts inhaltlich konkretisiert wird, kommen (zum Beispiel bei Bertelsmann) Begriffe wie Akzeptanz, Vertrauen, Gemeinwohlorientierung zum Tragen, schwammig-pastorale Floskeln, die so allgemein gehalten sind, dass auch ein Markus Söder oder der Arbeitgeberpräsident sich geschmeidig anschließen können.

Der Klebstoff ist ein Alleskleber.

Wirkliche Solidarität hingegen wird nicht wahllos vergeben, sie fußt auf gemeinsamen Interessen oder begründeter Anteilnahme am Schicksal der anderen. Sie geht daher zwingend mit der Abgrenzung von jenen Kräften einher, denen man eben jene Misere zu verdanken hat, aufgrund derer Solidarität nötig ist.