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Schwerpunkt

„So will ich nicht arbeiten!“

Ein systemrelevanter Erfahrungsbericht der Kindergruppe Goethchen e.V.

Gestikulieren verstärkt die Wirkung | Foto: Susanne Carstensen

Dieser Bericht entstand nach meinem Besuch im ‚Goethchen‘, einer selbstorganisierten Kindergruppe im Herzen des Bremer Viertels, deren Verein Mitglied im Verbund Bremer Kindergruppen ist. Drei dort beschäftigte Mitarbeiterinnen erwarteten mich. Leider nicht die acht Kinder im Alter von zwölf Monaten bis drei Jahren, die normalerweise von den Räumlichkeiten täglich Besitz ergreifen. Nein, es gab keinen Corona-Fall, sondern der Alltag bringt auch andere Viruserkrankungen mit sich, mit denen (infizierte) Kinder zu Hause besser aufgehoben sind. So hatten wir Zeit für einen Austausch zu unserem Schwerpunktthema. 

 

Eine Elterninitiative

Goethchen wurde bereits Mitte der 1990er Jahre gegründet. Die Einbindung der Eltern/Erziehungsberechtigten in den Tagesablauf der Einrichtung hat folglich einen hohen Stellenwert, der sich in der Klientel deutlich widerspiegelt. Die Kinder stammen aus bildungsnahen Familien, die sich die Beteiligung an einem von Eltern geführten Verein gönnen und das (pädagogische) Konzept finanziell leisten können. Hierzu zählen auf den ersten Blick die Versorgung mit biologischen Lebensmitteln und die Gruppengröße – acht Kinder in einer einzigen Gruppe betreut zu wissen, löst andere Erwartungen aus, als die Unterbringung zu einem schlechteren Betreuungsschlüssel. Mir war diese Entscheidung, die Eltern/Erziehungsberechtigte zu treffen haben, weniger bewusst, als es mir die Kolleginnen vermittelt haben. Gleichzeitig braucht es zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrages und wegen der moralischen Verpflichtung, für alle Kinder einen Betreuungsplatz zu schaffen, solche Initiativen, um im Land nicht noch schlechter bei der Statistik Platzangebot vs. Platznachfrage dazustehen. Das Goethchen fungiert zwischen den großen, städtischen und kirchlichen Trägern als praktische Lösung und beantwortet die Frage nach dem gewachsenen Bedarf, als Familie oder alleinstehende Person mit Kind(ern) beruflich tätig sein zu wollen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Eltern im Goethchen Arbeitgeber:innen sind und gleichzeitig ihren Betreuungsbedarf für den eigenen Nachwuchs dort anmelden. Das führt zu Spannungen, die größere Einrichtungen vielleicht anders zu berücksichtigen haben. Das Austarieren eines gangbaren Weges (Umsetzung Verordnung, Gesundheitsschutz, Betreuungsangebot) für die Beschäftigten und für die Eltern ist eine anhaltend zu bewältigende Aufgabe.  

 

Kindertageseinrichtungen halten den Betrieb aufrecht.

Der Frage nachgehend, was diese Annahme, insbesondere in den vergangenen zwei Jahren mit den Beschäftigten und ihrer pädagogischen Profession gemacht hat, sind wir in das Gespräch eingestiegen. Folgende Erinnerungen müssen dazu wachgerufen werden: Panik angesichts der nicht vorhersehbaren Krankheitsverläufe und leerer Supermarktregale, Kinder durften im März 2020 keine Spielplätze im Freien betreten oder in Wohnanlagen auf dem Flur mit Nachbarskindern spielen (Quarantäneauflagen gelten für alle Formen des Wohnens), Lockdown für viele Einrichtungen des öffentlichen Lebens, Maskenpflicht, ohne dass es Masken zu kaufen gab, Kohortenregelung (auch für Gruppen mit acht Kindern). Die Kolleginnen des Goethchens haben diese Reihe der Einschränkungen um ihre Erfahrungen ergänzt: Kinder dürfen keine Speisen mehr teilen, die sie von zu Hause mitbringen, Kinder müssen unter coronakonformen Vorgaben die Waschräume aufsuchen, Kinder werden vor der Krippentür von den Eltern/Erziehungsberechtigten abgesetzt usw. Fakt ist, dass mit jeder neuen Coronaverordnung Kindern ritualisierte Abläufe genommen worden sind, ohne dass seitens der Politik auf die Möglichkeiten der jeweiligen Einrichtung Rücksicht genommen wurde. Die Mitarbeiterinnen bestätigen, dass es, auch in Absprache mit den Eltern, früher zu Maßnahmen hätte kommen können, die langfristig für alle Seiten zu einer höheren Planbarkeit geführt hätten. Aber die Formulierung im Konjunktiv offenbart es: Fachkräfte in den Einrichtungen sind bis heute nicht gefragt worden, wie sie die für sie zu verantwortende Lage bewerten. Stattdessen mussten wohl Hygienekonzepte verfasst werden und es gab keine Zeit für das offene Ohr.

 

Der Blick nach vorne

Frustration hat sich breitgemacht, denn ein wesentlicher, erzieherischer Auftrag ist der Einschätzung nach verloren gegangen: Die Befähigung der Kinder zu einem selbstständigen Leben und ihre Persönlichkeitsentwicklung. So woll(t)en die Kolleginnen nicht arbeiten. Die Diskrepanz zwischen der individuellen Intention, einen pädagogischen Beruf ergriffen zu haben, und der derzeitigen Realität, einen pädagogischen Auftrag nicht mehr erfüllen zu können, lassen mich die Gesprächspartnerinnen deutlich spüren. Es wird klar, dass das Goethchen kleinste Kinder auf den Übergang in die Kindergärten anders vorbereitet, als es vor Corona möglich gewesen ist. Als Beispiele werden die Sprachentwicklung und das Erlernen sozialer Handlungskompetenzen erwähnt. Die Organisation des Tagesablaufes hat mehr Zeit eingenommen, als für frühe Bildung zur Verfügung stand. Es ist einfach nicht mehr alles angeboten worden – Erprobungsräume für das gesellschaftliche, freie Miteinander sind verloren gegangen. Das häufig erwähnte ‚Brennglas Corona‘ streitet in dieser Runde niemand ab. Der bisher gezahlte Preis ist hoch und lässt sich kaum in seinen Auswirkungen mit Blick auf die Zukunft beziffern. „Wir kennen die heranwachsende Generation nicht“, so die gemeinschaftliche Aussage der Mitarbeiterinnen.

 

Wertschätzung zu allen Seiten

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es angesichts der beschriebenen Lage keinen Verweis meiner Gesprächspartnerinnen auf die besondere Benachteiligung ihres eigenen Bereichs gibt (Selbstmitleid Fehlanzeige!). Vielmehr verorten sie ihre Situation im Abgleich mit anderen pädagogischen Bereichen und beziehen Stellung zu allgemeingültigen Forderungen: „Klatschen vom Balkon ist eine Klatsche ins Gesicht aller – unterbezahlten – Fachkräfte in Pflege, Erziehung, Schule und Jugendförderung“. Die Mitarbeiterinnen fragen sich, warum jetzt nicht die Chance ergriffen wird, die Gehälter endlich anzupassen, um der nachweislich verschärften Personalsituation endlich entgegen zu wirken. Um es hervorzuheben: Bildung wird im Goethchen als Kette verstanden und die Prägung aus der Kindergruppe heraus wird sich ein Leben lang nachvollziehen lassen. Sei es in der Lebensgestaltung, in der Berufswahl oder in der Entscheidung, welchen Stand in der Gesellschaft ein heranwachsendes Kind einnehmen wird. Und folglich bewerten die Kolleginnen den Auftrag, den pädagogische Fachkräfte gemeinsam erfüllen, als einen unfassbar wertvollen. Für alle.