Gesellschaftspolitik
Sind wir in guter Verfassung?
Kritische Gedanken zur Lage und Krisenstimmung in Deutschland
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer („Fast jeder dritte Bremer lebt in Armut“ (Weser-Kurier 27. März), und der Mittelstand bröckelt. Mehr als neun Millionen Vollzeitbeschäftigten droht Altersarmut (bei 40 Beitragsjahren eine Rente von unter 1300 Euro). Die Umweltkatastrophen (Überschwemmungen) nehmen zu, und in vielen Regionen der Welt toben kriegerische Auseinandersetzungen. Es herrscht Krisenstimmung, die Menschen sind mit der politischen Führung nicht einverstanden, und wie noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte äußert sich die Wahrnehmung dieser Realität bei vielen Menschen in Protest und einem politischen Schwenk nach rechts. Andere Möglichkeiten sehen sie nicht. Da in diese gesellschaftliche Krisensituation die Feiern zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes (GG) fallen, lohnen sich ein geschichtlicher Rückblick und eine kritische Analyse der Entwicklung. Sind wir in guter Verfassung?
Vorgeschichte
Nach herrschender Lehre begann die Geschichte des GG nicht am 23. Mai 1949, sondern 1871, als aus kleineren Fürstentümern und einigen „Freien Städten“ (darunter auch Bremen) das Deutsche Reich mit seinem Kaiser Wilhelm I. an der Spitze als Nationalstaat gegründet wurde. Das war das Resultat der sich ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelnden industriellen Revolution. Danach entwickelte sich das kapitalistische Wirtschaftssystem, insbesondere in Deutschland, England und Frankreich, von einem System der freien Konkurrenz in ein System der großen Konzerne, der Aktiengesellschaften, die dann schon damals über die nationalen Grenzen hinaus nach Rohstoffen, Absatzmärkten und billigen Arbeitskräften (sprich Kolonien) gierten. Deutschland war als mächtiger Nationalstaat zu spät und deshalb in Afrika auch bei der Eroberung von Kolonien zu „kurz“ gekommen und strebte deshalb eine Neuaufteilung der Welt an, was mit massiver ideologischer Unterstützung zum 1. Weltkrieg führte. Da dieser Versuch scheiterte, unternahm die „Wirtschaft“ (voran die Schwerindustrie, dann auch die Elektro- und chemische Industrie mitsamt den Großbanken) mit Hilfe des deutschen Nazifaschismus einen 2.Versuch zur Welteroberung (2. Weltkrieg). Das schien am 8. Mai 1945 ein für alle Mal gestoppt.
Ideologische Aufrüstung
Aus den Nachkriegsjahren vor der Währungsreform (1948), die das kapitalistische Wirtschaftssystem im Westen wieder reanimierte, blieben im Grundgesetz (1949) aber noch Vorstellungen einer gesellschaftlich-politischen Neuordnung erhalten, und zwar an zentraler Stelle: Artikel 20 (1) (Sozialstaatsgebot) lässt in Kombination mit den Artikeln 14 (Eigentum-Erbrecht-Enteignung) und 15 (Vergesellschaftung) durchaus eine andere Wirtschaftsordnung zu: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem GG mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche“ (so das Bundesverfassungsgericht mehrfach noch in den 60er-Jahren). Aktuell war das aber bald nicht mehr. Stattdessen wurde in Anlehnung an die nazifaschistische Ideologie der Bedrohung aus dem „Osten“ (siehe Plakat) wieder aufgerüstet und das GG den Erfordernissen der Systemauseinandersetzung angepasst, einschließlich einer Wehr- und einer Notstandsverfassung (1956/1968). Da aber Adenauers Konfrontationskurs („Politik der Stärke“) nicht zum Erfolg führte, wurden die Bestrebungen zur Herstellung eines gesamtdeutschen Staates mit anderen Mitteln unter Hinnahme von Gebietsverlusten verfolgt (Brandt/Bahr). Der Zusammenbruch des „Ostens“ führte dann letztendlich 1989/1991 zum Erfolg.
„Marktgerechte Demokratie“
Nun war in der Mitte Europas ein ökonomisch starker kapitalistischer deutscher Einheitsstaat entstanden. Der Kompromiss des Grundgesetzes, der die Wirtschaftsordnung nicht auf den Kapitalismus festlegte, wurde immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Anfang der 1980er-Jahre hatten bereits Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA auf eine marktradikale Politik gesetzt und den Abbau des Sozialstaates und gewerkschaftlicher Rechte vorangetrieben. Auch Kohl (CDU) als Kanzler (1982-1998) beschwor bereits die „geistig-moralische“ Wende, ließ aber den Sozialstaat weitgehend intakt. Erst die Regierung Schröder (1998-2005) begann mit einem umfassenden Abbau des Sozialstaates (Hartz-Reformen/ radikale Kürzung der Arbeitslosenhilfe). Das GG blieb zunächst unverändert. Der eigentliche Clou zur alternativlosen Installation der kapitalistischen Marktwirtschaft gelang auf dem Umweg über die Verträge der Europäischen Union, die einer Verfassung gleichkommen. Darin wurde eine marktradikale Wirtschaftsordnung festgeschrieben. Dieser Prozess erstreckte sich vom Maastricht-Vertrag von 1993 bis zum Lissabon-Vertrag von 2009, von Kohl über Schröder bis Merkel. Die Verfassung der EU ist keineswegs – im Gegensatz zum GG – wirtschaftspolitisch neutral. Sie legt nicht nur ein marktwirtschaftliches, d.h. kapitalistisches System fest, sondern verordnet den Mitgliedstaaten gleichzeitig eine neoliberale Wirtschaftspolitik (Privatisierungen, Deregulierungen, Senkung der Unternehmenssteuern, Schuldenbremse u.a.), das, was Merkel als „marktgerechte Demokratie“ bezeichnete.
Kapitalkonzentration
Die von CDU, CSU, FDP, SPD und Teilen der Bündnisgrünen vorgenommenen Neuregelungen fördern die Konzentration des Kapitals, die Kumulation der Vermögen und die soziale Polarisation. In der Bundesrepublik findet eine systematische Reichtumsförderung statt, obwohl eine konsequente Armutsbekämpfung nötig wäre, um das Land sozial zu befrieden. Wie viel Geld dem Staat entgeht, das ihm die Bewältigung sozialer Probleme und der jüngsten Krisen erleichtern würde, offenbaren die Steuerstatistiken des Bundes und der Länder. Bei gleichen Steuern und gleichen Steuersätzen wie in der Kohl-Ära wäre das jährliche Gesamtsteueraufkommen heute um weit mehr als 100 Milliarden Euro höher, die öffentliche Armut sehr viel geringer und die sozialökonomische Ungleichheit deutlich weniger bedrückend (Butterwegge, 2024).
Fazit
Die aktuelle Politik im Interesse des Kapitals will die Aufrüstung und die Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ durch den Abbau staatlicher Sozialleistungen (Gesundheit, Bildung, Wohnen) und durch Zurückfahren der notwendigen Reparaturarbeiten im Bereich der sozialen Reproduktion erreichen. Die Beziehungen zwischen demokratischer Politikgestaltung und den Anforderungen kapitalistischer Systemsteuerung sind – so Adam Tooze (2018) – in Zeiten „multipler Krise“ extrem belastet. In der gegenwärtigen Periode vollzieht sich mit dem Anwachsen der konservativ-liberalen und rechtspopulistischen, antidemokratischen Kräfte, die das Resultat der bisherigen neoliberalen und kriegsorientierten Politik der Regierenden sind, eine weitere Verschiebung zu einem „autoritären“ Kapitalismus (Deppe, 2023), der zugleich die Reste der systemkritischen Linken, aber auch die jungen Kämpferinnen gegen den Klimawandel mit Disziplinierungsmaßnahmen und Verboten bedroht. Die Parteien der Linken und die Gewerkschaften operieren als geschwächte Minderheiten, die es bisher nicht verstanden haben, die wachsende Unzufriedenheit in der lohnarbeitenden Bevölkerung für eine Politik der durch das GG möglichen alternativen gesellschaftlichen Umgestaltung zu gewinnen. Die Aufarbeitung dieser gewaltigen Fehlleistung ist Voraussetzung dafür, dass die Linke sich erneuert und wieder handlungsfähig werden kann.