Zum Inhalt springen

Schwerpunkt

Senso-motorische Integration ist gesundheitsfördernd

Die Gefahren der Künstlichen Intelligenz

Pixabay, CC0

Jedes Arbeitsblatt und jedes Bild vom Monitor ist schon eine Abstraktion. Die Welt für die Kinder und Jugendlichen ist aber real und sie lernen zuerst vom Konkreten und können später abstrahieren. Was sollte geschehen in den Schulen? Wir sollten die Ergebnisse der Entwicklungsbiologie wirklich ernst nehmen, zumal wir das in unseren Schulen und Kindergärten jederzeit beobachten und bestätigen können: Kinder bis etwa zum 12. Lebensjahr brauchen realweltliche Erfahrungen, sie sollten tanzen, malen, springen, basteln oder Fußball spielen. Und das verbunden mit reichhaltigen Sinneseindrücken: Riechen, Schmecken, Tasten, Hören, Sehen. Das nennt die Wissenschaft senso-motorische Integration – und erst dieses intensive Zusammenspiel aus Bewegung und Sinneswahrnehmung kurbelt die Gehirnentwicklung an. Alles wissenschaftliche Erkenntnisse aus reicher, jahrzehntelanger Forschungsaktivität.

Diese Grundlagen lassen sich heranziehen, wenn wieder über ein tolles Digital-Projekt im Kindergarten berichtet wird. Wer mit Kindern arbeitet, kennt deren Entwicklungsschritte. Ein Deutschlehrer gibt einem Sechstklässler keinen „Faust“ zur Lektüre, und gute Grundschullehrer wissen um die Wirkung eines realweltlich orientierten Unterrichts. Sie verzichten gerne auf „Power Point“ in der dritten Klasse, weil ein Besuch beim Imker viel eindrucksvoller sein kann.

Die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI)

Kann KI die Pädagogik ersetzen? Beim Einsatz solcher IT-Systeme in der Bildung droht wirklich eine Katastrophe, weil dabei langfristig die Autonomie der Menschen bedroht ist. Ich halte gerade Lernprogramme für eine passive Variante der Nutzung, völlig anders zu bewerten als wirklich interaktive Videokonferenzen, in denen Menschen direkt kommunizieren.

Ein Beispiel aus einer US-Universität illustriert gut meine Kritik: An der „Purdue University“ wurde das „Course Signals System“ eingerichtet, das u. a. mit demografischen Daten, akademischen Leistungen der Vergangenheit und Informationen aus der Lernplattform arbeitet. Ein Ampelsystem warnt Studierende vor einem drohenden Misserfolg: Rot steht für ein hohes Risiko; Gelb für ein eventuelles Risiko, und Grün signalisiert eine hohe Wahrscheinlichkeit, Prüfungen zu bestehen. Das System war erfolgreich, es gab weniger Studienabbrüche und bessere Leistungen. Das klingt doch nach einer sehr nützlichen Anwendung im Uni-Alltag.

Eine freiwillige Selbstentmündigung

Ende gut, alles gut? Nein. Stellen wir uns vor, was in einem Menschen vorgeht, der diesem Ampelsystem ausgesetzt ist: Scheinbar objektive Informationen nisten sich im Bewusstsein ein, das eigene Urteil tritt in den Hintergrund. Entscheidungen lassen sich leichter treffen, im Vertrauen auf die exakte Mathematik, die in der Ampel steckt. Die Auseinandersetzung mit eigenen Stärken und Schwächen wird ausgelagert, die Verantwortung für das eigene Leben relativiert der Algorithmus. Auf der Strecke bleibt die Freiheit des einzelnen Menschen, der jetzt endgültig zu dem Schluss kommt: Computer können viel besser entscheiden, als es dem Einzelnen mit seiner begrenzten Rationalität möglich ist. Eine freiwillige Selbstentmündigung.

Die Menschen haben keine Chance mehr, angesichts eines perfekten Systems: Der stochastische Algorithmus arbeitet ohne Emotionen. Seine Ergebnisse sind mathematisch fundiert, sie lassen sich rational nicht mehr anzweifeln. Wer trotz guter Prognose „versagt“, hat seine Chancen nicht genutzt. Diese Einschätzung entspricht derselben neoliberalen Denkhaltung, die Scheitern ausschließlich als persönliches Fehlverhalten deutet. Weil die Objektivität des IT-Systems im Raum steht, wird das Verdammungsurteil noch härter ausfallen.

Ein weiterer kritischer Punkt: Als Benchmark droht der stochastische Erfolgsmensch, eine standardisierte Blaupause, an der sich künftig Bildungsbiografien zu orientieren haben. Da bleibt kein Platz für Zufälle, persönliche Begegnungen oder überraschende Erkenntnisse. Alles, was das Leben in seiner Vielfalt ausmacht, gerät ins Räderwerk von einer scheinbar perfekten KI. Die Stochastik ist der natürliche Feind von kreativer Spontanität. Dazu gehört auch die Chance des Scheiterns, das Recht, Umwege zu gehen; sowie die Möglichkeit, aus eigenen Erfahrungen sein Leben zu gestalten. Das alles ist bedroht, die menschliche Freiheit könnte das Räderwerk der Algorithmen zerreiben.

Besser Däumchen gedreht

Ein digitales Paradies: Holland ist weltweit führend, wenn es um Breitbandanschlüsse fürs Internet geht. Auf den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 reagierten die Behörden vorbildlich, sie statteten sofort die Schüler mit geeigneter Technologie aus, zum Beispiel mit Laptops. So schien ein erfolgreicher Fernunterricht programmiert zu sein … bis Wissenschaftler aus Oxford begannen, ihre Daten auszuwerten. Sie hatten die Leistungen untersucht, die 350.000 Grundschüler im Lockdown erbrachten. Dabei hatten sie in Holland optimale Bedingungen: „Der Schlüssel zu unserem Studien-Design“, so die Bildungsforscher, „war der Umstand, dass in Holland zweimal nationale Prüfungen erfolgen.“ Die Termine: Januar/Februar und Mai/Juni, also genau vor und nach den Schulschließungen, die acht Wochen anhielten und am 16. März begannen. Zum Vergleich zogen die Wissenschaftler die Prüfungsergebnisse der Jahre 2017-2019 heran.

Das Resultat: Lernverluste

„Der durchschnittliche Lernverlust entspricht einem Fünftel des Schuljahres, also fast genau dem Zeitraum, in dem die Schulen geschlossen blieben“, schreiben Per Engzell und seine Kollegen. Im Klartext: Die Kinder hätten auch acht Wochen Däumchen drehen können! „Diese Ergebnisse bedeuten“, so die Wissenschaftler, „dass die Schüler beim ‚Homeschooling‘ nur geringe oder gar keine Fortschritte gemacht haben.“ Es kommt aber noch schlimmer: Bis zu 55 Prozent betrugen die Verluste, die sich bei Schülern aus bildungsfernen Haushalten einstellten. Zur Studie äußerte sich auch der deutsche Bildungsökonom Ludger Wößmann. Er sagte der „Frankfurter Rundschau“: „Ich fürchte, dass aufgrund der längeren Schulschließungen bei uns die Lernverluste noch deutlich größer sein dürften.“

Diplom-Volkswirt Ingo Leipner ist seit 2005 VWL-Dozent an der "Dualen Hochschule baden-Württemberg in Mannheim