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Schwerpunkt

Prüfungswahn in der Pandemie?

Randbemerkungen zu einem Reizthema

Das heilige Abitur

Noch mehr als unter Covid-19 schienen manche im Frühjahr 2021 unter der Vorstellung zu leiden, zentrale Abschlussprüfungen müssten ausfallen. Einerseits war klar, dass in den Monaten davor kein regulärer Unterricht stattgefunden hatte, andererseits würde eine Absage der Prüfungen soziale Kontakte, zum Beispiel in Straßenbahnen, reduzieren. Bei den Abschlussprüfungen am Ende der Mittelstufe behalf sich die Behörde, indem sie eine Art Fassade aufbaute, wie Christian Dirbach in dieser Ausgabe mit unvermeidlicher und sachgemäßer Ironie beschreibt: Sie finden zwar statt, sind in ihrer Wirkung aber so weit zurecht gestutzt, dass hässliche Ergebnisse nicht zu erwarten sind oder dem erfolgreichen Abschluss am Ende nicht wirklich im Wege stehen. Ohnehin zeigt die Öffentlichkeit am MSA kein allzu großes Interesse. Anders steht es mit dem Abitur. Eine Bemerkung der scheidenden GEW-Bundesvorsitzenden reichte aus, um einen Sturm der Entrüstung zu entfachen, in und außerhalb ihrer Gewerkschaft. Marlies Tepe wagte anzumerken, dass, bei entsprechend hohen Inzidenzen, eine Absage der Abiturprüfungen angebracht sein könnte.

Eine Prüfung als Ritual?

Schnell war vom vermeintlichen Menetekel eines 'Notabiturs' die Rede, von der Misere der PISA-Tests, einer verlorenen Generation, die für immer mit dem Makel eines quasi wertlosen Abiturs leben müsste. Rein quantitativ betrachtet wäre die Aufregung nicht zu verstehen. Schließlich haben die schriftlichen Prüfungen einen Umfang von etwa fünfzehn Stunden – je nach Fach -, was im Verhältnis zu zwölf bis dreizehn Jahren Schule eine verschwindende Größe ausmacht. Ganz zu schweigen von der mündlichen mit ihren fünfundzwanzig Minuten. Offenbar wird ihnen eine besondere und überbordende Qualität zugeschrieben. Schon im Begriff der 'Reifeprüfung' finden sich Anklänge an Initiationsriten, wie sie u.a. aus vormodernen Gesellschaften bekannt sind. Vielleicht schwingt im Hintergrund die mittelalterliche Romantik eines Gesellenstücks mit, in dem sich alles Gelernte gleichsam in einem Gegenstand verdichtet, oder eine Reminiszenz an die scholastische Universitätstradition. Etwas schnöder ließe sich mit dem Soziologen Pierre Bourdieu vermuten, das mühsam aufgehäufte Bildungskapital des 'Zöglings' werde im abschließenden Examensritual samt gestempeltem Dokument gesellschaftlich sichtbar zertifiziert.

Bildung ist nicht zu erzwingen

Viele Lehrkräfte machen sich schon länger zu Recht Gedanken um den Stand der Allgemeinbildung. Verwiesen wird auf messbar sinkende Fähigkeiten etwa im bildungssprachlichen Ausdruck. Gewiß gibt es derlei Klagen über den Verfall der Jugend schon seit Platon und es geht auch nicht um Bildungselemente als Prestigeobjekte. Die Fähigkeit, komplexe Texte oder ansatzweise naturwissenschaftliche Experimente zu verstehen, wäre allerdings auch Voraussetzung für kritisches Bewusstsein jeglicher Art. Die Empörung über ausfallende Abiturprüfungen kommt nicht selten von Leuten, denen es begreiflicherweise darum geht. Sie vergessen dabei aber, dass gerade eine Bildung im Sinne von vernunftgemäßer Autonomie nicht durch Prüfungen erzwungen werden kann, sofern sie nicht schon in den Jahren davor eingeübt und verinnerlicht wurde. Umgekehrt könnte es schon eher funktionieren, und dann wäre die Prüfung tatsächlich etwas, was das Gefühl eines Abschlusses bei Prüflingen und Lehrenden hinterließe und wo das Wort Reife vielleicht nicht lächerlich klänge. Ach ja, und was das Notabitur betrifft: Bertolt Brecht absolvierte so eines im Jahre 1917. Wer weiß, was mit einem richtigen Abitur aus ihm hätte werden können – Deutschlehrer vielleicht! So musste er als bekannter deutscher Autor des zwanzigsten Jahrhunderts sein Dasein fristen.