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Denunziationsplattformen

Nur Tote sind neutral

Zur aktuellen Debatte über politische Neutralität im Unterricht

„Wir können dem Wissenschaftler nicht seine Parteilichkeit rauben, ohne ihm auch seine Menschlichkeit zu rauben. Ganz ähnlich können wir nicht seine Wertungen verbieten oder zerstören, ohne ihn als Menschen und als Wissenschaftler zu zerstören.“

Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, 1961

Ein fragwürdiger Konter

Die Vorstöße der AfD mit dem Ziel, Jugendliche und Eltern nach bewährter deutscher Tradition als Spitzel ihrer Lehrkräfte zu mobilisieren, haben das Thema der Neutralität politischer Bildung wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Allseitige Empörung kam auf, auch konservativere Zeitungen wie die FAZ fielen ein in den Chor der Kritik. Nach einiger Zeit kristallisierte sich ein zentraler Konter gegen die rechten Denunziationsplattformen heraus: Politische Bildung unterliege zwar in ihren Sachdarstellungen, nicht aber in ihren Wertungen der Neutralität. Bewertende Äußerungen seien durch das Grundgesetz, oder – nach einem ebenfalls altbekannten Begriff, durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgegeben. Nun mag man inhaltlich an diverse verteidigenswerte Festlegungen des Grundgesetzes denken, in wissenschaftlicher Hinsicht ist diese Vorstellung fragwürdig: Denn sie kommt dem von rechts erhobenen Neutralitätsanspruch schon viel zu weit entgegen. Sie präjudiziert einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen der wissenschaftlicher Erkenntnis eines Gegenstandes und seiner Bewertung; die These wurde vom Begründer der Soziologie in Deutschland, Max Weber, um 1906 im Rahmen des sogenannten Werturteilsstreits aufgebracht. Eine kleine Reise in die Vergangenheit kann helfen, die Kontroverse in Erinnerung bringen.

Gegen moralisch gefärbte Gesellschaftsanalyse

Demnach habe sozialwissenschaftliche Analyse sich mit Beschreibungen ihres Gegenstandes zu bescheiden, dessen Bewertung hingegen sei Sache der Politik (oder der Öffentlichkeit) und speise sich in letzter Instanz aus nicht-wissenschaftlichen Quellen – weltanschaulichen und religiösen Setzungen, die durch Sozialisation und Herkunft beeinflusst sein mögen. Werturteile führten laut Weber auf "axiomatische", nicht mehr rational entscheidbare Festlegungen zurück, etwas Subjektives haftet ihnen daher unauflöslich an. Schon diese Gleichsetzung von Weltanschauungen mit Axiomen irritiert: In der Mathematik sind axiomatische Setzungen nämlich unmittelbar einleuchtend, was von weltanschaulichen gerade nicht gelten soll. Aus verständlicher Motivation - Weber ging das Moralisieren der Kathedersozialisten unter seinen professoralen Kollegen auf die Nerven - wandte er sich dagegen, dass moralische Haltungen den Inhalt von soziologischer Analyse verfälschen. Allerdings geht seine Entzweiung von Urteil und Sache über diesen berechtigten Ärger hinaus.

Sollen und Sein

Die flankierende philosophische Denkfigur hatte der Philosoph David Hume im 18. Jahrhundert geliefert: Aus der Untersuchung der Wirklichkeit lasse sich immer nur ableiten, was und wie etwas ist, nie wie es sein 'soll'. Urteile des Sollens sind umgekehrt nur aus vorab gesetzten Standpunkten – etwa dem Glauben an Gott – zu begründen. Das war im Geist der Aufklärung gedacht und gerichtet gegen das metaphysische Bestreben, wie es seit Platon oder Aristoteles einschlägig war, in der Beschaffenheit der Welt moralische Maximen auffinden zu wollen. Ein Musterbeispiel findet sich bei Platon, laut dem jedes Ding auf der Welt die Verwirklichung einer Idee darstellt. Diese Ideen, die an einem eigenen Ort lokalisiert werden, bilden als "Blueprints" den Bewertungsmaßstab für die jeweils einzelnen Dinge. Gegen derlei spekulative Szenarien setzt Hume die Empirie als einzige Quelle der Erkenntnis.

 

Kind und Bad

Dennoch ist Humes Versuch, zwischen Sollen und Sein ein unüberwindbare geistige Mauer zu errichten, später vielfach kritisiert worden: Sie schüttet, gewissermaßen, das Kind mit dem Bade aus, verdammt wissenschaftliche Kritik zum bloßen 'Faktencheck' und untergräbt jenes Projekt der Aufklärung, um das es Hume doch gegangen war.

Dies wurde zum Thema einer zweiten Debatte, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausbrach, des Positivismusstreites in der deutschen Soziologie, deren bekannteste Kontrahenten in der ersten Hälfte der Sechziger Jahre Theodor W. Adorno und Karl Popper waren. Adorno hatte die Trennung von Analyse und Bewertung stets bekämpft: „Die Sache, der Gegenstand gesellschaftlicher Erkenntnis, ist so wenig ein Sollensfreies, bloß Daseiendes, - dazu wird sie erst durch die Schnitte der Abstraktion - , wie die Werte jenseits an einen Ideenhimmel anzunageln sind. Das Urteil über eine Sache, das gewiss der subjektiven Spontaneität bedarf, wird immer zugleich von der Sache vorgezeichnet und erschöpft sich nicht in subjektiv irrationaler Entscheidung wie nach Webers Vorstellung.“ Damit distanziert sich Adorno einerseits von metaphysischen Spekulationen a la Platon („Ideenhimmel“). Andererseits beharrt er auf der Zusammengehörigkeit von wissenschaftlicher Analyse und Beurteilung, darin in der Tradition sowohl Hegels als auch Marx' stehend

Begriff und Realität

Für Hegel führt das Begreifen einer Sache auch zu der Fähigkeit, über ihre 'Vernünftigkeit' zu rechten. Ein einfaches – weil unstrittiges – Beispiel aus der Biologie mag dies illustrieren: Hat Forschung erkannt, wie die menschliche Lunge funktioniert, lassen sich auch krankhafte, dysfunktionale, also „falsche“ Erscheinungsformen derselben identifizieren. Doch ist dies auf Gesellschaft übertragbar? Während Marx die hegelianische Vorstellung einer in Allem waltenden Weltvernunft verwirft, rettet er den aufklärerischen Anspruch kritischer Wissenschaft in seinen materialistischen Ansatz hinüber. Der berühmte Untertitel seines Hauptwerkes – „Kritik der politischen Ökonomie“ - ist Indiz dafür. Gründet sich etwa nach Adam Smith die bürgerliche Gesellschaft auf den Tausch, so liegt in dieser wissenschaftlichen Feststellung zugleich ein Stück positiver Wertung: Im Gegensatz zur Ständeordnung des Feudalismus sind vor dem Tauschprinzip alle Gesellschaftsmitglieder gleich. Dagegen versucht Marx zu zeigen, wie die formale Gleichheit der Tauschenden im speziellen Fall der Lohnarbeit in die Ausbeutungsmacht der Kapitalseite umschlägt. In den Worten Adornos: „Die Behauptung der Äquivalenz des Getauschten, Basis allen Tausches, wird von dessen Konsequenz desavouiert. Indem das Tauschprinzip kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen sich ausdehnt, verkehrt es sich zwangvoll in objektive Ungleichheit, die der Klassen.“ Demonstriert Marx nun die Fragwürdigkeit von Smith' These, unterminiert er zugleich das damit verbundene Werturteil. Folgt man Smith, so erscheint die bürgerliche Gesellschaft im rosigen Licht des Fortschritts, nach Marx formiert sich durch den Tausch die Klassengesellschaft – egal also, welche Seite man zuneigt, stets sind mit gesellschaftlicher Erkenntnis auch Werturteile impliziert. Adornos folgender Satz kann als Resüme gelesen werden: „Wissenschaftliches Bewusstsein von der Gesellschaft, das sich wertfrei aufspielt, versäumt die Sache ebenso wie eines, das sich auf mehr oder minder verordnete und willkürlich statuierte Werte beruft; beugt man sich der Alternative, gerät man in Antinomien.“

Popper schlägt zu

Interessanterweise lehnte auch der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, mittlerweile zur liberalen Galionsfigur erhoben und als Schöpfer des Begriffs der „offenen Gesellschaft“ geschätzt, das Wertfreiheitspostulat Webers ab. Er enthüllte, darin mit seinem Gegenspieler Adorno einig, die logische Selbstwidersprüchlichkeit des Konstruktes: „..da also die Wertfreiheit selbst ein Wert ist, ist die Forderung einer absoluten Wertfreiheit paradox.“ Denn wenn Werturteile nur auf persönlichen, mithin auch irrationalen Prämissen beruhen, und die Verpflichtung der Wissenschaft zur Wertfreiheit ebenfalls ein solches darstellt, hebt sie sich als Norm - „Sollen“ - wissenschaftlicher Arbeit selbst auf. Die Einsicht führt zur Eingangsfrage von oben zurück: Welchen Status hat die Verpflichtung der politischen Bildung auf Wertungen im Sinne des Grundgesetzes? Ohnehin widerspräche es Webers Verständnis von Werturteilen, dass diese nicht persönlich gefällt, sondern quasi durch Verwaltungsakt verfügt würden. Und als individuelle Wertorientierung wäre sie nach seiner Logik genauso gut oder schlecht wie, beispielsweise, die Wertorientierung der AfD, wonach mehr „Patriotismus“ in den Unterricht gehöre. Es darf keine Rolle spielen, welche Position die Mehrheit hinter sich hat –  irgendwann könnte der Wind sich drehen. Versucht man andererseits, die absolute Ausrichtung der Bildung an den Menschenrechten durch historische Erfahrungen o.ä. zu belegen, so begründet man – übrigens ganz zurecht – ein Sollen aus einem Sein.

Mit Adorno und Popper auf der sicheren Seite

Natürlich kann eine Lehrkraft, die im Unterricht auf rechte Sprüche trifft, folgendermaßen reagieren: „Ob deine Äußerung stimmt oder nicht, dazu möchte ich mich nicht äußern. Doch sie widerspricht dem Grundgesetz, und das gilt in meinem Klassenzimmer.“

Einfacher, vor allem aber schlüssiger wäre es, sich auf die inhaltliche Widerlegbarkeit rechter Ideologien zu verlassen. Wird nicht auch in ihrem Falle durch die „Sache“ ein Urteil „vorgezeichnet“? Beruft sich Höcke in seiner rassistischen Rhetorik auf vorgeblich biologische Fortpflanzungstypen, kann die Klasse ganz trocken darüber informiert werden, welchen Unsinn er damit transpiriert. An Gaulands Formulierung vom „Fliegenschiss“ ist der Begriff der Inkommensurabilität zu erläutern – nämlich dass es objektiv unvernünftig ist, Millionen gequälter und getöteter Menschen mit Dingen wie der Erfindung des Buchdrucks aufzurechnen. Im Übrigen besteht ein Zusammenhang zwischen beidem nur im nationalistisch vernebelten Hirn. Das Stichwort der „Umvolkung“ kann zur Verdeutlichung von Verschwörungstheorien und als Beispiel für den Missbrauch der Genetik brillieren. Und so weiter.

Sofern politische Bildung auf wissenschaftlicher Grundlage ruht, darf sie von Poppers und Adornos Kritik nicht ausgenommen sein: Dem in ihr tätigen Menschen kann man seine Wertungen nicht verordnen, und ebensowenig verbieten, ohne ihn menschlich und professionell zu „zerstören“.