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NSA & Co.:

2013 geht in die Geschichte ein als ein Jahr, in dem eine bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung bekannt geworden ist, die Hunderte Millionen, ja Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft. Die verdachtsunabhängige Ausforschung, wie sie der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt hat, stellt alle Betroffenen unter Generalverdacht, unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Privatsphäre, stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage.

Nach und nach stellte sich heraus, dass nicht allein US- und britische Geheimdienste in den Massenüberwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch deutsche Geheimdienste – BND, Verfassungsschutz, MAD - an diesem globalen Geheimverbund partizipieren. Sie profitieren von überlieferten Daten und übermitteln selbst Millionen von Telekommunikationsdaten. Snowden spricht bildhaft davon, dass deutsche und US-Geheimdienste „miteinander ins Bett gehen“: Sie tauschen nicht nur Informationen, sondern teilen gar gemeinsame Datenbanken, Spähprogramme sowie Infrastrukturen.
„Wer soll denn diese Massen belangloser Daten auswerten“, fragen sich noch immer viele Menschen, „was kann mir schon passieren?“ Leider zu kurz gedacht, denn die dokumentierbaren Folgen können heftig sein: Am Ende solcher Datenerfassung und -auswertung kann eine verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des Schrift-stellers Ilija Trojanow, der die US-Überwachungsorgie scharf kritisiert hatte, oder im Extremfall ein Drohnenbeschuss auf „Terrorverdächtige“. Dazwischen ist manche Un-annehmlichkeit, Schikane oder Tortur denkbar – von verschärften Grenzverhören, Nachforschungen bei Nachbarn oder Arbeitgebern, über Staatstrojaner im PC, die Auf-nahme in US-No-Fly- oder Terrorlisten bis hin zu Verhaftungen oder Folter in Spezialgefängnissen.

Üble Folgen des Überwachungswahns

Spektakuläre Geschichten? Sicher, aber es gibt auch viele „kleinere“ Beispiele für üble Folgen des Überwachungswahns. So forschen Geheimagenten deutscher und alliierter Dienste über die BND-Tarnbehörde „Hauptstelle für Befragungswesen“ jährlich Hunderte Flüchtlinge aus oder werben sie als Spitzel an – hier werden schutzsuchende Menschen skrupellos für staatliche Zwecke missbraucht.
Was steckt eigentlich hinter diesem Massenüberwachungssystem, wozu das Ganze? Eine These: Es geht um präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung in Zeiten ver-schärfter ökonomischer Krisen, sozialen Niedergangs, drohender Rohstoffknappheit und wachsender „Flüchtlingsströme“. Schließlich gilt es, Staaten nicht nur vor Terror und Gewalt zu schützen, sondern auch gegen soziale Unruhen und militante Aufstände, gegen Ressourcenmangel, unkontrollierte Wanderungsbewegungen vorsorglich zu wappnen. Diese computergestützte Vorsorgestrategie vollzieht sich im Schatten des Rechtsstaats und trägt totalitäre, ja paranoide Züge.
Diese Präventivlogik hat auch in Europa und Deutschland, verstärkt nach 9/11, einen gehörigen Wandel im Staatsverständnis bewirkt: vom demokratischen Rechtsstaat zum entgrenzten Präventionsstaat, in dem die Eingriffschwelle immer mehr herabgesenkt wird, Daten und unkontrollierbare Geheimdienste als Macht(sicherungs)instrumente eine immer größere Rolle spielen. Und der rasante Fortschritt technischer Möglichkeiten gibt diesem Wandel seine technologische Unterfütterung, so dass Massenüberwachung, Datenerhebung, –speicherung und –auswertung im großen Maßstab und mit fatalen Folgen für Betroffene machbar geworden sind.

Überwachte Menschen sind allenfalls noch „frei“ als Konsumenten

Das von der Verfassung garantierte Recht des Einzelnen, unkontrolliert zu kommunizieren, ist unverzichtbare Grundvoraussetzung einer offenen demo-kratischen Gesellschaft. Denn ein Mensch, der unter Überwachung steht, ist niemals frei. Überwachte Menschen sind in ihrem Kommunikationsverhalten, ihrer privaten Lebensgestaltung betroffen, allenfalls noch „frei“ als Konsumenten. Sie sind damit kontrollierbar, werden auf subtile Weise berechenbar, steuerbar, beherrschbar. Schon wer sich nur überwacht und be¬obachtet fühlt, verändert sein Verhalten, wird unsicher, entwickelt Ängste, passt sich an – Effekte, die die Demokratie schädigen, wie das Bundesverfassungsgericht bereits vor dreißig Jahren in seinem Volkszählungsurteil festgestellt hat.
Der digitale NSA-Datenexzess ist Folge einer aggressiven Politik, die „Sicherheit“ zur Kriminalitäts- und Terrorabwehr über alles stellt – frei nach Ex-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der verbriefte Grund- und Freiheitsrechte einem frei erfun-denen „Supergrundrecht Sicherheit“ unterordnet. Diese verfassungswidrige Sicht führt in einen entfesselten Präventions- und Sicherheitsstaat im permanenten Ausnahmezustand, in dem rechts- und kontrollfreie Räume gedeihen, Persönlichkeitsrechte erodieren, Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Dieser Angriff aggressiver Staatssicherheitsinteressen auf Substanz und Selbstverständnis freiheitlicher Demokratien erfolgt nicht etwa von außen, von „extremistischen“ oder terroristischen Kräften, sondern aus dem Inneren des Systems – wie ein Autoimmun-Angriff, eine überschießende Reaktion des Immunsystems, das damit zerstört, was es schützen sollte: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.

Der Autor:

  • Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (www.ilmr.de) ist Miterstatter der Strafanzeige gegen Geheimdienste und Bundesregierung sowie Laudator anlässlich der Verleihung des BigBrotherAward 2014 an das Bundeskanzleramt (www.bigbrotherawards.de/2014).
  • Der Autor kommt auch in Schulen. Kontakt über goessner [at] uni-bremen.de