Schwerpunkt
Nicht alles hygge – aber etwas zum Abgucken
Die Organisation der Lehrkräfte-Arbeitszeit in Dänemark
Man wundert sich immer wieder, dass die Deutschen und ihre Politiker zwar sehr gern in dänischen Ferienhäusern das Hygge-Lebensgefühl übernehmen möchten, aber die sonstige gesellschaftliche Organisation dort eher ignorieren. Dabei unterscheiden sich nicht nur die dänischen Sozialsysteme von den deutschen erheblich (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sind grundlegend steuerfinanziert), sondern auch das Schulsystem. Und ein Blick darauf könnte sich lohnen.
90 Prozent in der Gewerkschaft
Was die dänische Schule angeht, so muss man zunächst auf ihre Basis, die durchgängige integrierte Gesamtschule hinweisen. Diese zehnjährigen „Folkeskolen“ werden von den 98 Kommunen verantwortet. Das folgende dreijährige Gymnasium untersteht in seinen verschiedenen Facetten dem Kopenhagener Bildungsministerium. Es erlässt aber im Wesentlichen nur die Lehrpläne und die zentralen Abschlussprüfungen. Föderale Bildungsbehörden und Schulaufsichten wie bei uns gibt es nicht. Alle wesentlichen Entscheidungen werden von den Schulleitungen, lokalen Schulvorständen und den Gewerkschaften verantwortet. Etwa 90 Prozent der dänischen KollegInnen sind in den beiden Bildungsgewerkschaften organisiert, die DLF (Denmarks Laerer Forening) und GL (Gymnasieskolernes Laererforening), die nicht nur Tarifverträge aushandeln, sondern im Schulalltag Personalratsaufgaben übernehmen. SchulleiterInnen sind eher Manager, die meistens nicht unterrichten. Sie verfügen nicht nur über ein umfangreiches Budget, sondern stellen das Personal ein und können Kündigungen aussprechen - unter Einbeziehung des Schulvorstands und der Gewerkschaftsvertretungen. Den Beamtenstatus gibt es in Dänemark schon lange nicht mehr. Hierarchische Differenzierungen („Oberstudienrat“) sind obsolet.
37-Stunden-Woche als Leitlinie
Dänemark - wie die meisten OECD-Länder - orientiert sich schon lange nicht mehr an dem Deputatsmodell, also an den pauschal festgelegten Unterrichtsstunden pro Woche. Stattdessen vereinbart die Schulleitung nun mit jeder Lehrkraft einen individuellen Arbeitsplan, in dem die Aufgaben und das dafür notwendige Zeitbudget festgelegt werden. Alle Arbeiten der Lehrkraft sollen darin angemessen berücksichtigt werden, ausgehend davon, dass weniger als die Hälfte der Arbeitszeit für den Unterricht aufgewendet wird. Einbezogen werden also weitere Tätigkeitscluster wie Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Korrekturen, Teamsitzungen, pädagogische Gespräche, Fortbildungen, Klassenfahrten, Schulveranstaltungen. So kann etwa ein Klassenreise-Tag mit bis zu 13 Stunden angerechnet werden. Es gibt keinen Faktor, um den unterschiedlichen Arbeitsaufwand von Lehrkräften je nach Fach zu berücksichtigen - wie etwa in Hamburg. Für besondere Funktionen (Berufs- und Studienberatung, Stundenplanung, Fachleitung, Klassenleitung, Mentor/Tutor etc.) gibt es spezielle Entlastungs- und Entgeltregelungen. Die Lehrkräfte registrieren alle ihre Arbeitszeiten; zwei Mal im Jahr wird der veranschlagte Arbeitsplan im Gespräch mit der Schulleitung evaluiert.
Arbeitspläne bestimmen Arbeitszeit
Berechnungsgrundlage für die Arbeitspläne sind die 37-Stunden-Woche und eine jährliche Arbeitszeit von 1694,6 Stunden (2021), so wie es bei allen anderen dänischen Arbeitnehmern auch praktiziert wird. Zwar unterscheiden sich logischerweise die Arbeitspläne der einzelnen Lehrkräfte erheblich, aber Folkeskole-Lehrkräfte können seit 2013 durchaus auf bis zu 25 Wochenstunden kommen - bezogen auf 200 Jahresarbeitstage. Gymnasiallehrer unterrichten im Allgemeinen erheblich weniger. Die Berechnungen können auch von Schule zu Schule differieren, weil diese von den Kommunen unterschiedliche Budgets zur Verfügung gestellt bekommen, z.B. wenn an einer Schule weniger SchülerInnen angemeldet werden. Auch kleinere Klassen können dazu führen, dass mehr Unterrichtsstunden einberechnet werden. In dem Arbeitsplan werden auch Präsenzzeiten festgelegt, etwa am Anfang und Ende der Sommerferien oder für Konferenzen und Teamsitzungen. Andererseits gibt es auch flexible Regelungen, etwa frei verfügbare Anrechnungsstunden bzgl. der Unterrichtsvorbereitung. Außerdem: Jede Lehrkraft hat Anspruch auf eine Woche individuellen Urlaubs!
Vierwöchige Aussperrung der Lehrkräfte
Während umfangreiche Schulversuche mit ganztägiger Anwesenheitspflicht für Lehrkräfte wegen mangelnder Praktikabilität oder nicht nachweisbaren Nutzens wieder abgeschafft wurden, führte 2013 die Einführung der Ganztagsbetreuung an den Folkeskolen zu einem der heftigsten Arbeitskämpfe im dänischen Schulwesen, weil sie ohne angemessene Ausstattung der Schulen und Entlastung der Lehrkräfte funktionieren sollte. Die heftigen Proteste gegen diese kostenneutralen „Discountschulen“ mündeten in eine für unvorstellbar gehaltene vierwöchige Aussperrung der Lehrkräfte durch die kommunalen Arbeitgeber und wurden von der sozialdemokratischen Regierung in Kopenhagen schließlich zuungunsten der KollegInnen per Dekret beendet. Faktisch bedeutete das eine Erhöhung des Unterrichtsanteils um zwei Stunden und eine massive Stärkung des Einflusses der Schulleitungen bei der Gestaltung der Arbeitspläne. DLF-Präsident Anders Bondo Christensen: „Das widerspricht völlig unserer nordischen Tradition des Dialogs, wo Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam nach Lösungen suchen.“
Weniger Freiheit, weniger Kreativität
Birgit Kastberg, die nördlich von Kopenhagen unterrichtete und viele Jahre Schüleraustausche mit Bremer Schulen durchführte, bilanziert: „Die individuelle Freiheit der Lehrkräfte ist kleiner geworden und damit auch ihre Kreativität. Viele sind gestresst, nicht zuletzt weil es ja auch noch neue Herausforderungen durch eine veränderte Schülerklientel gibt. Es ist schwieriger, den Lehrplan zu erfüllen. So verzichten Lehrkräfte dann zum Beispiel darauf, Studienfahrten durchzuführen und an Wettbewerben teilzunehmen, oder manche kürzen bei den großen Hausaufgaben“. Also: Bei aller Enttäuschung der dänischen KollegInnen über ihre Arbeitsbedingungen werden sie dennoch nicht auf die transparenten und flexibleren Arbeitszeitregelungen verzichten wollen. Neben vielen anderen positiven schulkulturellen Aspekten bewirkt dies letztlich doch eine relativ hohe Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz.