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Zu wenig Geld und kein Plan

Nach den Protesten zum Schuljahresende haben die Finanzsenatorin und die Spitzen von Partei und Fraktion der Grünen in einem Brief an die Mitglieder Stellung genommen. Sie verzeichnen „viel Verwirrendes und Anstrengendes“, betonen ihre „hohen Ansprüche gerade an die Schulpolitik“, verteidigen den Sparkurs des Senats und argumentieren, an der Versorgung der Schulen werde nicht gekürzt. Vielmehr seien die Personalausgaben gestiegen und „auf der anderen Seite ist die Zahl der SchülerInnen an öffentlichen Schulen von 53390 im Jahr 2006/07 auf 47575 im Jahr 2012/13 gesunken, also um 10%!

Diese sogenannte demographische Rendite (rechnerisch 265 Stellen) kommt in Bremen, anders als in anderen Bundesländern, ganz der Verbesserung der Qualität in den Schulen zugute.“
Warum wurde also trotzdem an den Schulen protestiert? Wollen die Protestierenden nur nicht einsehen, dass das Bundesland Bremen in einer Haushaltsnotlage ist? Was hat es mit den Kürzungen auf sich?

Warum sich der Rückgang der SchülerInnenzahl nur unwesentlich auf den Bedarf auswirkt

Hierzu muss man sich die Zahlen, die die Grünen präsentieren, etwas genauer ansehen. Zunächst einmal sind diese Zahlen ungenau. Nach der amtlichen Statistik hatten wir im Schuljahr 2006/07 an den allgemeinbildenden öffentlichen Schulen 52545 SchülerInnen. Die Berufsschulen sind in der Rechnung der Grünen ausgeklammert. Im Schuljahr 2011/12 waren es noch 48026 SchülerInnen (die neue Zahl wird erst im November 2012 veröffentlicht). Der Rückgang beträgt also nicht 10%, sondern „nur“ 8,5%. Des Weiteren stimmt es nicht, dass nicht gekürzt wurde. 2007 standen den allgemeinbildenden Schulen 87081 Lehrerstunden (3278,9 Stellen) zur Verfügung, für das neue Schuljahr sind 85488 Stunden (3218,7 Stellen) vorgesehen. Diese Kürzung von 1,8% eingerechnet, vermindert sich die „demographische Rendite“ auf 6,7% statt 10%.
Doch auch 6,7% scheinen ein beeindruckender Wert zu sein. Er wird weiter vermindert, wenn man sich den Rückgang der SchülerInnenzahl differenziert ansieht. Er trat in erster Linie in der Primarstufe ein (von 18088 auf 15449). Doch auch hier brach nicht das Schlaraffenland aus, da die Zahl der zugewiesenen Primarstufenlehrkräfte ebenfalls um 46,7 Stellen gekürzt wurde. Eine weitere Kürzung erwies sich für die Bürokratie als schwierig, da die meisten Primarstufenlehrkräfte KlassenlehrerInnen sind und daher auch bei verminderter SchülerInnenzahl zur Verfügung stehen müssen - es sei denn, man legt Klassen zu übergroßen Lerngruppen zusammen, was jeglicher Aussage von der „Priorität des frühen Lernens“ wiedersprechen würde. Zudem ist dieser Rückgang zeitlich begrenzt, im ersten Schuljahr hat die Jahrgangsbreite bereits wieder zugenommen. Ein noch wichtigerer Faktor für die Berechnung des Lehrkräftebedarfs ist, dass die SchülerInnenzahl in der Sekundarstufe I nur leicht gesunken und in der Sekundarstufe II gestiegen ist. (Beides ist zu einem erheblichen Teil Ergebnis der Schulzeitverkürzung, da der 10. Gymnasialjahrgang nicht mehr zur Sek. I, sondern zur Sek. II gerechnet wird). In der Sekundarstufe I und II erfordert die Erfüllung der Stundentafel jedoch erheblich mehr LehrerInnenstunden als in der Primarstufe.
Somit lässt sich folgendes Zwischenfazit ziehen: Trotz global gesunkener SchülerInnenzahl ist der Grundbedarf der Schulen (Klassenleitungen und Erfüllung der Stundentafel) kaum gesunken.

Das Erbe der Großen Koalition

Weiterhin wird in den Brief argumentiert, „anders als in den anderen Bundesländern“ würde in Bremen die „demographische Rendite“ den Schulen zugutekommen. Die Autoren sollten beim Verweis auf andere Bundesländer genauer hinsehen. Der Benchmarking-Bericht der Finanzsenatorin weist aus, dass die Schüler/Lehrer-Relation in Bremen 16,9, in Hamburg 15,7 und in Berlin 15,0 beträgt. Mit anderen Worten: Um die Lehrkräfteversorgung von Berlin – ebenfalls Haushaltsnotlage-Land - zu erreichen, müsste Bremen ca. 529 Lehrkräfte mehr einstellen!
Die magere Schüler/Lehrer-Relation Bremens ist Ergebnis der Politik der Großen Koalition, die bei damals leicht steigender SchülerInnenzahl die Zahl der Lehrerstellen von 5100 auf unter 4500 zusammengekürzt hat. Dieses schwere Erbe darf nicht vergessen werden, wenn jetzt über den Bedarf der Schulen gesprochen wird.

Neue Maßnahmen ohne personelle Absicherung

Bisher war hier nur vom Grundbedarf der Schulen die Rede. Was ist aber mit dem zusätzlichen Bedarf, der durch die – teils sinnvollen, teils kontraproduktiven – Großprojekte der Senatorin für Bildung hervorgerufen werden? Die Koalitionsvereinbarung von 2007 sah eine behutsame Weiterentwicklung des Bremer Schulsystems vor. Investitionen in die frühe Bildung und die Sprachförderung sollten im Mittelpunkt stehen, außerdem sollten die Ganztagsschulen ausgebaut werden. Schon die Weiterentwicklung des bis 2008 bestehenden Systems – die sukzessive Integration der Schulzentren der Sekundarstufe I zu Gesamtschulen bzw. Integrierten Stadtteilschulen (oder auch zu Oberschulen – der Name ist in diesem Zusammenhang zweitrangig) hätte Kosten für Planung und Erprobung verursacht.
Aber weder die Senatorin für Bildung noch die Grünen haben sich an die Koalitionsvereinbarung von 2007 gehalten. Die Senatorin für Bildung hat – ausgehend von ihrem niedersächsischen Erfahrungshintergrund und der bundesweiten Diskussion in der SPD – von Beginn an die Etablierung eines Zwei-Säulen-Modells von der 5. bis zur 13. Klasse angestrebt. Bestandteil ihres Konzepts war die Zerschlagung der Oberstufenzentren – ohne zu fragen, welche materiellen und ideellen Folgekosten das haben würde. Gleichzeitig haben insbesondere die Grünen auf eine schnelle Umsetzung der Forderung nach Inklusion gedrängt – ebenfalls ohne die Frage nach den Folgekosten. Eine im Schulentwicklungsausschuss vorgelegte Machbarkeitsstudie (Klemm/Preuß-Lausitz), die sich nicht am pädagogischen Bedarf der aufnehmenden Schulen orientierte, sondern lediglich ein Modell lieferte, wie die in Bremen vorhandenen sonderpädagogischen Kapazitäten auf die Regelschulen zu verteilen seien, reichte aus, um den Stein ins Rollen zu bringen. Die Bremer Oberschulleitungen haben kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung auf den Spagat zwischen den in der Konkurrenz zu den Gymnasien steigenden Leistungsansprüchen und den neuen Herausforderungen der Inklusion hingewiesen.
Grundlegende Veränderungen im Schulsystem erfordern zusätzliche Investitionen – wer das nicht wusste, hätte sich bei den Initiatoren der Bremer Schulreform von 1975 erkundigen können. Riesige Summen – sowohl für Neueinstellungen, als auch für die LehrerInnenausbildung, als auch für Baumaßnahmen, Lehr- und Lernmittel – wurden damals, als Bremen noch kein Haushaltsnotlage-Land war, für die Etablierung eines Stufenschulsystems nach internationalem Vorbild ausgegeben. Dabei dienten die zusätzlichen Personalmittel nicht nur der Ausstattung neuer Maßnahmen (z.B. mit Planungs-, Fortbildungs- und Kooperationsstunden), sondern auch der Abfederung von Reibungsverlusten, die bei jeder großen Umorganisation auftreten (Pendelstunden, zeitweilige Überhänge usw.). Wer jetzt eine modernisierte Form des deutschen, international isolierten, gegliederten Schulsystems (das Zwei-Säulen-Modell) durchsetzen will, sollte nicht meinen, dass dies nichts kostet, weil es ja nur eine Rückkehr zu altbekanntem ist.
Die Kosten der Integration der Sekundarstufe I und der Ganztagsschulen werden vermehrt und überlagert durch die Kosten der Zerschlagung der Oberstufenzentren und der Inklusion. Verschieden Maßnahmen treten gleichzeitig als Verursacher von Kosten auf – das macht die Lage äußerst verworren:

  • Die Integration der Schulzentren der Sek. I: produktiv und überfällig;
  • Die Ganztagsschule: nur solide mit mehr Personal;
  • die Inklusion: anstrebenswert, aber nicht zu Ende durchdacht, insbesondere in Bezug auf die Finanzierung;
  • die Zerschlagung der Oberstufenzentren: konservativ und kontraproduktiv.

Der Crash

Die Senatorin für Bildung hat sich diese Projekte in den Jahren 2008 bis 2010 von den Koalitionsparteien und vom Senat absegnen lassen, ohne eine fundierte Folgekostenabschätzung zu liefern. Kritiken der GEW wurden als immer gleiche Melodie des Klageliedes der Lehrkräfte abgetan. Dann begannen die Prozesse, ihre Dynamik zu entfalten.
Im Schuljahr 2009/10 war zunächst eine Erblast der Großen Koalition zu bewältigen, die Aufblähung der Sekundarstufe II durch den Doppeljahrgang als Folge der Schulzeitverkürzung im Gymnasium. Gleichzeitig fing der Umbau der Oberstufe an. Versetzungen und Planungsprobleme begannen.
Ebenfalls begann die Integration der Schulzentren im 5. Jahrgang. Dieser Beginn war erfolgreich, er wurde von den Lehrkräften getragen und war nicht üppig, aber ausreichend ausgestattet. Zum Ende des Schuljahres wurde zunächst von der Behörde angekündigt, dass die Ausstattung für den nächsten 5. Jahrgang halbiert wird. Die Senatorin nahm diese Ankündigung nach Protesten zurück, um den angelaufenen Prozess nicht zu gefährden.
Im Schuljahr 2010/11 begann die Arbeit der Inklusionsklassen. Schon vorher gab es heftige Auseinandersetzungen um die Einrichtung der ZUP’s und ReBuZ’s sowie um die Klassenfrequenzen und die Ausstattung der 5. Oberschuljahrgänge mit SonderpädagogInnen. Die Ausstattung erwies sich in der Praxis als ungenügend. Aber selbst um diese ungenügende Ausstattung abzusichern, sah sich die Senatorin für Bildung gezwungen, an anderer Stelle zu streichen. Sie verordnete den gymnasialen Oberstufen, während diese damit ausgelastet waren, mit erhöhten Kursfrequenzen den Doppeljahrgang zum Abitur zu bringen, eine erhebliche Stundenkürzung – und das wenige Tage vor den Sommerferien. Diese Maßnahme war Auslöser der ersten Protestwelle zu Beginn des Schuljahres 2011/2012, deren Träger insbesondere die OberstufenschülerInnen waren.
Zum Ende des Schuljahres 2011/2012 hat sich die Lage zugespitzt: Um die begonnenen Maßnahmen notdürftig abzusichern, hatte die Bildungsbehörde nach Auffassung der Finanzbehörde das zugebilligte Stellenvolumen überschritten. Das Ausmaß der nach den bisherigen Zuweisungskriterien notwendigen und den Schulleitungen für das Schuljahr 2012/13 in Aussicht gestellten Neueinstellungen wurde in der Koalitionsrunde nicht vollständig offengelegt. Die zugesagten Zuweisungen wurden nicht eingehalten, die Schulleitungen wurden gnadenlos überfordert, kurzfristige Versetzungen wurden angeordnet, BewerberInnen mit Einstellungszusagen nicht eingestellt, Referendarsstellen vorläufig gestrichen.
Die eingetretene Situation hat vier Ursachen:

  • Die von der Großen Koalition herunter gewirtschaftete Personaldecke reicht nicht aus, um größere schulpolitische Maßnahmen zu realisieren.
  • Die strategische Orientierung auf ein durchgängiges Zwei-Säulen-Modell von Klasse 5 bis 13 schafft zusätzliche Reibungsverluste im Oberstufenbereich.
  • Die Amtsführung ist intransparent. Seit 2007 werden in der Bildungsdeputation keine Orientierungsrahmen und keine vollständigen Übersichten über die Stundenzuweisung mehr vorgelegt. Wer keine Informationen herausgibt, kann auch nicht auf Probleme und Fehler hingewiesen werden.
  • Aufgrund der fehlenden politischen Klarheit über die Kosten der angeschobenen Maßnahmen werden die notwendigen Personalentscheidungen zu spät getroffen (Stellenverhandlungen zwischen Finanzen und Bildung, während die endgültige Stundenzuweisung schon überfällig ist).

Welche Konsequenzen werden gezogen?

Im Mitgliederbrief der Grünen heißt es: „Und Transparenz ist auch die entscheidende Konsequenz, die wir aus der Diskussion für uns gezogen haben. Der Koalitionsausschuss hat schon festgehalten, dass die weitere Entwicklung des Bildungshaushaltes künftig regelmäßig eng von der Finanzverwaltung begleitet wird und dass den parlamentarischen Gremien darüber berichtet wird.“ – Mit anderen Worten: Die Bildungssenatorin soll unter Kuratel gestellt werden. Transparenz ist gut und wird von der GEW schon lange – bisher ohne Erfolg – gefordert. Aber Transparenz wird nicht ausreichen. Das Grundproblem bleibt: Die unzureichende Personalausstattung der begonnenen Projekte. Inzwischen hat sich auch der Bürgermeister eingeschaltet und führt Gespräche mit den Betroffenen.

Notwendige Sofortmaßnahmen

  • Notwendig ist eine bessere Personalausstattung der Integration der ehemaligen Schulzentren der Sek. I. Die Planungs- und Kooperationsstunden müssen für die ganze Dauer des Prozesses – also sechs Jahre lang – zur Verfügung stehen und dürfen nicht angetastet werden. Nur gestärkte Oberschulen sind in der Lage die zweite Herausforderung – Aufnahme der SchülerInnen aus den Förderzentren – zu bewältigen. Dabei müssen ausreichende sonderpädagogische Kapazitäten zur Verfügung stehen – mindestens eine ganze und nicht eine halbe Stelle pro Jahrgang und in der Ganztagsschule mit zusätzlichen ausgebildeten Kräften. Ohne eine Stärkung der Oberschulen wird der konservative Ruf nach mehr Gymnasien immer lauter werden.
  • Das Projekt, immer neue kleine Oberstufen zu gründen, muss eingestellt werden. Es hat nicht nur fatale Auswirkungen auf die bestehenden Oberstufen, es leistet auch der sozialen Entmischung in der Sekundarstufe I Vorschub, weil Oberschulen mit Oberstufe besser angewählt werden. Modelle einer sinnvollen Kooperation bestehender Oberstufen mit mehreren Oberschulen liegen vor.
  • In der Primarstufe darf es keine weiteren Kürzungen geben. Sogenannte Überhänge müssen genutzt werden, um die Sprachförderung und interkulturelle Bildung hier voran zu bringen.
  • Und schließlich dürfen die Ausbildungsplätze für ReferendarInnen auf keinen Fall angetastet werden. Diese Maßnahme erinnert an den Bauern, der sein Saatgut isst, weil die Ernte schlecht war. Aufgrund der Nichteinstellungspolitik von 1983 bis 2001 ist die Alterspyramide der Bremer LehrerInnen ausgesprochen „rechtslastig“. 2495 Lehrkräfte (42,5%) sind über 55 Jahre alt. Wer aber soll die Herausforderungen der kommenden Jahre meistern, wenn nicht die jetzigen ReferendarInnen und neu eingestellten Lehrkräfte? Wer das nicht absichert, verspielt ganz sicher die Zukunft. Ob die Haushaltskonsolidierung auf Kosten der Schulen ein Beitrag zur Zukunftssicherung ist, kann mit guten Argumenten bezweifelt werden.