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Schwerpunkt

Vergessene Bildungsprovokationen

Lehramtsstudierende schreiben Johannes Beck. Eine Brief-Collage.

Ich danke Tim Engelke, Simon Gutsch, Julia Mindermann, Burcu Orakoglu, Marlon Reyher, Aaron Thatje, Hanna Weber, Leonie Zumbach und allen weiteren Beteiligten am Seminar.

Die Ausschnitte aus den fünf- bis siebenseitigen Briefen wurden für diese Collage z. T. bearbeitet und gekürzt.

Master of Education. Wintersemester 20/21. Der 50. Geburtstag der Uni Bremen naht. Ein Versuch: Was geschieht, wenn heutige Lehramtsstudierende auf die Schriften des 2013 verstorbenen Johannes Beck treffen und was möchten sie ihm anschließend in fiktiven Briefen mitteilen? Aus der Seminarankündigung: Johannes Beck war von 1974 bis 2003 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni Bremen. Was sind Grundideen und Grundthesen seiner Arbeit? Und wie wirken diese (Bildungs-)Gedanken und Initiativen auf uns, die wir heute an der Uni als Lehrende und Lehramtsstudierende tätig sind? Ist das, was Beck repräsentiert, Teil einer vergangenen ideologisch-kämpferischen Zeit (und gehört zu Recht in die Mottenkiste) oder spielt sein Denken heute zu Unrecht keine Rolle im erziehungswissenschaftlichen Bildungsdiskurs und in der Bremer Lehrer:innenbildung? Im Mittelpunkt des Seminars steht der Austausch über diese Fragen. Neben gemeinsamer Lektüre besteht die Möglichkeit des Gesprächs mit ehemaligen Studierenden von Beck. Außerdem haben Sie die Freiheit und die Zeit, Ihren eigenen Vertiefungsinteressen nachzugehen und sie vorzustellen.

Beck? Noch nie gehört.

Hallo, Herr Professor Dr. Beck, Lieber Johannes Beck, Sehr geehrter Herr Beck, Sehr geehrter Professor Beck... Im Rahmen dieses Seminars ist es für ein erfolgreiches Abschließen Pflicht Ihnen diesen Brief zu schreiben. Allerdings ist dies bei weitem nicht die einzige Motivation, aus der ich dies nun auch tue. Ich möchte dieses Schreiben nutzen, um das Seminar in angemessener Weise zu reflektieren. Ich weiß, dass sich früher in Ihren Veranstaltungen geduzt wurde. Da ich Sie jedoch nicht persönlich kennengelernt habe, möchte ich dies nicht einfach ohne Ihre Erlaubnis tun, ich hoffe Sie können darüber hinwegsehen. Zugegeben, vorher hatte ich nichts über Sie gehört und habe dieses Seminar nur gewählt, da es sich am besten mit meinem Stundenplan und dem Unterrichtsplan meiner Schule vereinbaren ließ. Meine Motivation bei der Wahl des Seminars war also keine recht intrinsische. Ich muss jedoch gestehen, dass ich eines anderen belehrt worden bin. Die Auseinandersetzung mit Ihren Arbeiten, Herr Beck, hat meine Ansichten verändert. Sie führte bei mir dazu, dass ich die bestehenden Strukturen nicht mehr als ‚So ist es und so muss es wohl auch sein‘ ansehe, sondern Dinge hinterfrage.

Ich muss zugeben: Erst mal war ich doch etwas skeptisch! Irgendein Typ von der Uni weiß mal wieder alles besser als alle Erziehungswissenschaftler*innen und ‚die Politik‘ zusammen. Vor allem beim Thema Bildung wissen es doch eh immer alle besser. Warum sollte es diesmal also anders sein? Aber meine anfängliche Skepsis hat sich beim Lesen dann schnell verflüchtigt. Mir gefiel der bissige und (zugegeben manchmal auch etwas anstrengende) sarkastische Schreibstil.

Frustrierend. Besonders frustrierend.

Lieber Johannes, ich hoffe, es ist in Ordnung, dich zu duzen – ich möchte natürlich nicht unhöflich sein, aber im Seminar hatten wir uns aufs Du geeinigt, weil du das mit deinen Studierenden auch so gehandhabt hast. Und es käme mir jetzt seltsam vor, das ausgerechnet bei dir anders zu halten. Das Seminar war eine interessante Erfahrung, mal bereichernd, mal frustrierend. Besonders frustrierend, ehrlich gesagt. So vieles, was du vor bald 30 Jahren in deinem Buch „Der Bildungswahn“ (1994) niedergeschrieben hast, trifft immer noch zu! Versteh mich nicht falsch, es ist gut, dass du diese Probleme angesprochen hast. Es ist nur deprimierend, wie wenig sich seitdem getan hat. Die Universität entwickelt sich immer mehr zu einer Institution, in der die zahlenden Studierenden abgespeist werden. Ich darf 13 Semesterwochen an eilig abgehaltenen 90-minütigen Vorlesungen teilnehmen. Auf der letzten Vorlesungsfolie sind die ‚klausurrelevanten Fragen‘ aufgelistet und in der abschließenden 60-minütigen Klausur wird mein Wissen anhand von Multiple-Choice-Fragen ermittelt.

Anpassen und Durchkommen

Bildungseinrichtungen bezeichnest du als ‚Sortieranlagen‘ und ‚Lernfabriken‘ mit den Lernzielen ‚Anpassen‘ und ‚Durchkommen‘. Diese Thesen empfinde ich aktueller denn je. Kaum jemand studiert etwas, was nicht Pflicht ist. Ich selbst habe sehr geradlinig studiert und hatte bisher immer nur den erfolgreichen Abschluss vor Augen. Ich habe keine einzige Veranstaltung außerhalb des Plans besucht und bin regelrecht mit Scheuklappen durch das Studium gegangen. Ich bin demnach ein typisches Opfer des Bildungssystems, welches nur auf Leistung ausgelegt ist.

Aus meiner persönlichen Erfahrung stimme ich dir zu, dass in Bildungsinstitutionen nicht genügend Freiräume existieren. Die vermeintliche Wahlfreiheit wird immer wieder durch Aussagen wie ‚die Module bauen aufeinander auf und müssen in der vorgegebenen Reihenfolge besucht werden‘, desillusioniert. So stehen bei vermeintlicher Freiheit die administrativen Aspekte des Studierens immer wieder im Vordergrund, was zu einer curricularen Bevormundung der Studierenden führt (vgl. S. 163).

Mal raus aus dem Karussell

Die Beschäftigung mit Ihrem Buch bot mir eine Möglichkeit, aus dem pädagogischen Karussell auszusteigen und von außen auf das scheinbar immer schneller werdende Karussell zu schauen, welches mich während meiner Fahrt schon beinahe schwindelig werden ließ, obwohl ich noch nicht lange mitgefahren bin. Dieser Anblick war für mich zunächst ein Schock, besonders als ich in Ihrem Buch las: "Wir wollen alles und können nichts!" Aber es war auch eine Erleichterung, da ich es schwarz auf weiß hatte, dass nicht ich das Problem und damit vielleicht sogar ungeeignet für den Lehrerberuf bin, wenn ich die ganzen aufgezeigten Probleme durch die ausgewiesenen Wege nicht lösen kann. Sie sind vielmehr Anzeichen des Bildungswahns in unserer Gesellschaft: „Bildungswahn: die total und totalitär gewordene Pädagogisierung sämtlicher Lebensverhältnisse“ (S. 8). Ich habe durch die Auseinandersetzung mit Ihrem Buch gelernt, dass das Sitzen auf den Karussellpferden nicht nur Probleme löst, sondern zum Teil Probleme schafft.

Geheime und offizielle Lehrpläne

Vor allem deine These, dass Menschen auch bzw. vor allem außerhalb geplanter Lernsituationen lernen, hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Will man den geheimen Lehrplan ändern, muss man doch die Verhältnisse ändern und nicht versuchen, aus der Schule gegen sie ‚anzulernen‘ bzw. den Schüler*innen eine alternative Bildung aufzudrücken. Darüber nachzudenken, wie der von dir beschriebene geheime Lehrplan und die offiziellen Lehrpläne an den Schulen zusammenwirken und sich dabei häufig widersprechen, kann tiefe Einblicke zu meiner Rolle als Lehrkraft geben.

Meine Beobachtungen im Unterricht zeigen mir, wie überfordert Schüler:innen mit Freiarbeit sind. Fachwissen impliziert den Anschein von ‚perfektem‘ Wissen, welches nicht hinterfragt wird und das von den Schüler:innen erwartet wird, ohne sich zuvor den Weg zu diesem erarbeitet zu haben. Leider bleibt im Lehrplan kaum Zeit dafür, wie Wissen tatsächlich erlangt wird: durch viele Stunden Forschung, in denen Versuche auch mal nicht zum gewünschten Ergebnis führen.

Lenken um jeden Preis ist Quatsch

Schüler*innen zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen! Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich bisher gedacht, muss in erster Linie mein Unterricht gut sein. Dabei lag mein Fokus vor allem auf der Methodik und der Didaktik. Allerdings ist mein bisheriger Unterricht unter Betrachtung meines Ziels eine echte Vollkatastrophe, da ich aufgrund der Zwänge der Lernfabrik und des geheimen Lehrplans teilweise wirklich das reinste teaching-to-the-test betreibe und insgesamt den Schüler*innen zu wenig Eigenständigkeit eingeräumt habe, da ich befürchtete, dass dies zu keinem produktiven Ergebnis führt. Durch die vertiefte Beschäftigung mit dem Spiel, dessen Befreiung vom ‚tierischen Pädagogenernst‘ von Ihnen gefordert wurde, habe ich jedoch gemerkt, dass dieses Lenken des Lernens um jeden Preis völliger Quatsch ist.

Freiraum, sich selbst zu ‚erfinden‘

„Können und sollen die nachwachsenden Generationen in einer Welt leben, die immer mehr zur fertigprogrammierten Welt wird, in der Spielräume und Gestaltungsräume für Kinder und Jugendliche so selten werden wie Biotope? Geht es wirklich nicht um mehr, als um ‚Bildung zur Sicherung eines Wirtschaftsstandortes‘?“ (S. 7f.) Selbstverständlich werde ich dem Bildungsplan nachkommen und meinen Schüler:innen nach bestem Wissen und Gewissen alles beibringen, was sie benötigen. Dennoch möchte ich ihnen darüber hinaus, soweit es möglich ist, Freiraum zur Verfügung stellen, sich selbst zu ‚erfinden‘.

Machtverhältnisse sind immer da

Norbert Ricken macht mit Foucault eindrücklich darauf aufmerksam, dass das ungleiche Machtverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden nicht aufgelöst werden kann. Dadurch kritisiert er Sie indirekt, da Sie in Ihrer Arbeit mit den Lernenden irgendwie einen machtfreien Raum anstreben. Eine ganz ‚freie‘ Gestaltung des Unterrichts kann aber dazu führen, die Macht der Lehrenden lediglich zu verschleiern. Ohne feste, verpflichtende Lesefristen wäre es in unserem Seminar z.B. nicht zu solch fruchtbaren Diskussionen gekommen. Meistens haben wir es aber gar nicht geschafft ein ganzes Kapitel zu besprechen, sondern haben uns an einzelnen Passagen, Sätzen regelrecht festgebissen. Das hat mir sehr gut gefallen, da wir nicht einem festen Plan gefolgt sind, sondern uns auf interessante Feinheiten konzentrieren konnten.

Eigensinnige Bildung im Austausch miteinander

Grundlegende Aussagen werden mir für mein ganzes Leben erhalten bleiben. In den aktuellen Bildungseinrichtungen werden die Lernenden meinem Empfinden nach als ‚Einzelkämpfer‘ ausgebildet. Aber Bildung lässt sich nicht über institutionelle Einrichtungen definieren. Bildung kommt viel mehr im Austausch zustande, wenn Menschen zusammenkommen. „Eigensinnige Bildung ist möglich im phantasievollen, auch schwejkschen Umgang mit den bürokratischen Zwängen und den hochtrabenden pädagogischen Ansprüchen der Institutionen. Pädagogische Phantasie kann helfen, die notwendigen ‚Freiräume‘ zu entwerfen, um sie vom entfremdenden Treiben kleinkarierter Bevormundung zu entsetzen.“ (S. 177)