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Stellungnahme der Schulleitungen der Bremer Oberschulen

Die unterzeichnenden Schulleitungen lehnen den vorliegenden Entwurf der Verordnung für unterstützende Pädagogik ab.

Begründung:

1. Das Schulgesetz von 2009 erteilt allen Bremer Schulen den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln. Tatsächlich gilt dieser Auftrag nur für zwei der acht Gymnasien (Vegesack und Links der Weser) ausschließlich im Förderschwerpunkt „Wahrnehmung und Entwicklung", dagegen uneingeschränkt für alle Grundschulen und alle Oberschulen.

2. Die weitaus größte Zahl sonderpädagogisch förderbedürftiger Kinder hat den Förderschwerpunkt „Lernen, Sprache und Verhalten". Aufgrund der Selektionskriterien für den Zugang zu Gymnasien werden diese Schülerinnen und Schüler nach der Grundschule ausschließlich Oberschulen zugewiesen. Ab der Sekundarstufe I findet also die inklusive Beschulung aller Schülerinnen und Schüler nur in der Oberschule statt. Eine besondere Herausforderung sind in diesem Zusammenhang die Kinder mit einer Störung im Sozialverhalten, die oftmals die angemessene Beschulung eines ganzen Klassenverbandes beeinträchtigen bzw. verhindern. Die Argumentation, auch Gymnasien würden über den Förderschwerpunkt „Wahrnehmung und Entwicklung" an zwei Standorten hinaus inklusiv beschulen, weil dort punktuell auch körperbehinderte Kinder und Jugendliche oder solche mit autistischen Verhaltensweisen in Begleitung von Assistenzen beschult werden, ist nicht haltbar.

3. Der Schulentwicklungsplan von 2008 und der nachfolgende Bildungskonsens sehen für Bremen acht Gymnasien neben den neu entstandenen Oberschulen. Erklärtes Ziel war, diese beiden Säulen „auf Augenhöhe" und unter vergleichbaren Konkurrenzbedingungen zu entwickeln.

4. Inklusion als Aufgabe tatsächlich nur für die Oberschulen erschwert deren Konkurrenzbedingungen ganz eindeutig. Von „Augenhöhe" mit den Gymnasien kann nicht ausgegangen werden. Das gymnasiale Angebot sollte ursprünglich auf dem vorhandenen Stand festgeschrieben werden. Nichtsdestotrotz ist die Zahl der Plätze in den Gymnasien seitdem kontinuierlich ausgeweitet worden. Wurden im Schuljahr 2008/09 noch 878 Schülerinnen und Schüler bei einer Gesamtschülerzahl von 4.084 in Gymnasien beschult (21,5%), wird diese Zahl bis zum kommenden Schuljahr 2012/13 auf 1.013 bei einer Gesamtschülerzahl von 3.508 steigen und liegt damit inzwischen bei 28,9% aller Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs der Sekundarstufe I.

5. Der Entwurf der neuen Verordnung für unterstützende Pädagogik verschärft diese Ungleichbehandlung der beiden Schulformen noch einmal in erheblichem Maße. § 11 (3) der Verordnung sieht vor, nach dem Schuljahr 2015/16 eine sonderpädagogische Feststellungsdiagnostik einschließlich der abschlussbezogenen Bildungsgangzuweisung erst im 8. Jahrgang zu vollziehen. Das bedeutet für den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I, dass es für die aufnehmenden Oberschulen keinerlei Regularien mehr gibt. In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass sonderpädagogisch förderbedürftige Kinder in die Sekundarstufe I über gehen, ohne deren Zahl oder die Art des Förderbedarfes je Oberschule steuern zu können. Zudem ist völlig ungeklärt, wie dieser ungesteuerte Übergang bezogen auf die Anzahl der Kinder und deren Förderbedarfe ressourcenbezogen für Oberschulen unterlegt werden soll.

6. Zudem gibt es einen unstrittigen Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur eines Stadtteils und seiner Zahl sonderpädagogisch förderbedürftiger Kinder. So sind bestimmte Schulen mit einem hohen Anteil sonderpädagogisch förderbedürftiger Kinder konfrontiert, während sozial ausgewogenere Stadtteile wenige solcher Kinder aufweisen. Durch die geplante Verordnung wird die bereits beschriebene Benachteiligung von Oberschulen insbesondere in sozialen Randlagen noch einmal deutlich verschärft.

7. Inklusion ist in erster Linie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch einer bildungspolitischen Umsetzung bedarf.

8. Inklusion setzt eine entsprechende Haltung und Akzeptanz in der Gesellschaft voraus. Der Beschluss, inklusive Schulen einzurichten, muss deshalb bei der Umsetzung immer auch berücksichtigen, inwieweit eine entsprechende Haltung und Akzeptanz in der Gesellschaft vorausgesetzt werden kann.

9. Zeitungsberichte und Leserbriefe in Tageszeitungen zeigen, wie wenig dies - außer einem natürlich nicht anders zu formulierenden grundsätzlichen Bekenntnis zur Inklusion - tatsächlich auch für die Beschulung der eigenen Kinder - solange sie nicht sonderpädagogisch förderbedürftig sind - akzeptiert ist. Die gestiegenen Anmeldezahlen für Gymnasien und die in allen Oberschulen der Stadt gesunkenen Anmeldezahlen für Kinder über dem Regelstandard zeigen einen Trend im Wahlverhalten der Eltern, der besorgniserregend ist. Zunehmend wird deutlich, wie stark bei Eltern noch die Sorge vorhanden ist, die eigenen Kinder könnten unter den gegebenen Bedingungen für Inklusion nicht ausreichend gefordert werden. Dies bezieht sich in besonderem Maße auf die gemeinsame Beschulung mit sozial verhaltensauffälligen Kindern. Die Angst, dass die eigenen Kinder als „soziale Schmiere" oder „Quotenkinder" die Lerngruppen in den Oberschulen „stabilisieren" sollen, wird zunehmend offen formuliert.

10. Der Verunsicherung von Eltern in Bezug auf die gemeinsame Beschulung in solch heterogenen Lerngruppen wollen wir durch gute Arbeit in den Oberschulen begegnen. Damit eine gemeinsame Beschulung von Kindern über dem Regelstandard bis hin zu sonderpädagogisch förderbedürftigen Kindern gelingen kann, benötigen wir eindeutige Festlegungen für die Inklusion (Personalausstattung sowohl in Bezug auf Lehrkräfte als auch auf nichtunterrichtendes Personal, räumliche Ausstattung für die Differenzierung in der inklusiven Beschulung, Material etc.). Der vorliegende Entwurf der Verordnung für unterstützende Pädagogik wird dem nicht gerecht.
Die Schulleitungen der Oberschulen stellen sich der gesellschaftlichen Aufgabe der Inklusion und betonen ihre grundsätzliche Akzeptanz der gemeinsamen Beschulung von nichtbehinderten und behinderten Kindern. Darüber hinaus muss Inklusion die Aufgabe aller allgemeinbildenden Schulen sein.
Inklusive Beschulung bedarf - weil eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz insgesamt noch nicht unterstellt werden kann - der schützenden Regulierung und Steuerung in einem Übergangsprozess, der keinesfalls 2015 abgeschlossen sein wird.
Wir fordern eine differenziertere und den besonderen Aufgaben der Oberschulen gerecht werdende Verordnung und ausreichende Ausstattung mit Ressourcen, um in eine Konkurrenz mit den Gymnasien auch realistisch eintreten zu können.

Diese Erklärung wurde von 32 der 33 Bremer Oberschulleitungen unterzeichnet.